Mit dem nachfolgenden Beitrag beginnen wir eine kurze Reihe mit Artikeln über die ArbeiterInnenbewegung in Mexiko, die in den nächsten beiden DAs erscheinen wird (die Redaktion).
Warum sollte man sich als in der BRD lebender Syndikalist ausgerechnet mit der ArbeiterInnenklasse in Mexiko auseinandersetzen? Das erscheint erst mal nicht plausibler als die Auseinandersetzung mit der ArbeiterInnenklasse irgendeines anderen Landes der Welt.
Mexiko ist ein Schwellenland innerhalb der Top 20 der reichsten Staaten der Welt, Mitglied der OECD, mit NAFTA an die USA und Kanada und durch bilaterale Handelsverträge an die EU gebunden und auf dem Sprung in die „Erste Welt“ – wobei ein innerimperialistischer und an Rassismus grenzender Chauvinismus von Norden nach Süden mit zu bedenken ist.
Des Weiteren ist das Augenmerk revolutionärer Bewegungen seit 1994 aufgrund des Aufstands der EZLN auf Mexiko gerichtet. So wichtig dieser Aufstand ist, so sehr ist zu betonen, dass es in Mexiko noch eine Vielzahl anderer Bewegungen gibt, die oft nicht in den Blick genommen werden. Dies gilt gerade für eine ArbeiterInnenbewegung. Auf der Suche nach Verbindungen zwischen dem Aufstand der EZLN und einer ArbeiterInnenbewegung ist man nur mäßig erfolgreich. Bekannt ist die Solidarität der Gewerkschaft SME, die ihre Kämpfe mit der Unterstützung der EZLN verbindet. In der von der EZLN forcierten Anderen Kampagne findet man keine Gewerkschaften. Die praktische Politik der EZLN richtet sich in Chiapas auf Probleme der LandarbeiterInnen, während die Gewerkschaften eher im industrialisierten Norden aktiv sind. Die EZLN ist in der Praxis eine ‚Gewerkschaft’ der Campesin@s im Süden, während sich im Norden die IndustriearbeiterInnen eher traditionell gewerkschaftlich organisieren.
Es gibt einiges an ArbeiterInnenkämpfen im Land der institutionalisierten Revolution. Globale Aufmerksamkeit hat etwa der Widerstand gegen den Flughafenbau in Atenco erfahren oder der Aufstand in Oaxaca 2006, der ohne die Geschichte der Lehrergewerkschaft SNTE und ihrer radikalen oaxacenischen Sektion CNTE nicht zu verstehen ist.
Dennoch fehlt der Aspekt des Syndikalismus, um die Eingangsfrage zu beantworten. In Mexiko gibt es keine (anarcho-)syndikalistische Gewerkschaft. Seinen Grund hat dies in der korporativistischen Geschichte des mexikanischen Gewerkschaftssystems. Eine Gewerkschaft muss in Mexiko lokal von einer Junta de Conciliación y Arbitraje (Rat für Schlichtung und Versöhnung) anerkannt werden, die aus Arbeitgebern, politischen Funktionären und den bestehenden Gewerkschaften zusammengesetzt ist – unnötig zu erwähnen, dass syndikalistische Gewerkschaften da keine Chance auf offizielle Anerkennung haben.
Wie der Krimi-Autor Paco Ignacio Taibo II in seiner Erzählung „Der letzte Magonist“ betont, ist die Allgegenwart der schwarz-roten Fahne, in Mexiko allgemeines Streik- und Gewerkschaftssymbol, auf die vergessene syndikalistische Tradition der mexikanischen ArbeiterInnenbewegung zurückzuführen. Diese basiert auf dem starken Einfluß der IWW zu Anfang des 20. Jahrhunderts sowie des anarchistischen Theoretikers Ricardo Flores Magon und der PLM. Dabei ist die Geschichte des mexikanischen Syndikalismus keineswegs nur ruhmreich –Syndikalisten und Wobblies kämpften auf Seiten der Konterrevolution für General Huerta gegen die Campesin@s unter Emiliano Zapata und Pancho Villa und paktierten mit der PRM, der späteren PRI.
Unter Präsident Lazaro Cardenas, der die Revolution institutionalisierte, indem er u.a. das Erdöl verstaatlichte, wurde der Korporativismus eingeführt, der das mexikanische Gewerkschaftssystem bis zum Ende der PRIDemokratur 2000 und darüber hinaus prägte. Wer eine formelle Arbeit aufnahm, wurde automatisch Mitglied der entsprechenden Gewerkschaft und Mitglied eines Dachverbands, der den Haken hatte, die regierende Staatspartei zu sein. Dieses Konstrukt aus „sozialistischem Wohlfahrtsstaat und faschistischer Volksgemeinschaft“ (Hans Christoph Buch) lässt sich durchaus als eine Art „Staatssyndikalismus“ bezeichnen. Wobei die Assoziation „Mafia“ zu „Syndikat“ in diesem Fall durchaus zutreffend ist. Das führte dazu, dass die mexikanische ArbeiterInnenklasse bis heute kaum Vertrauen in Gewerkschaften hat, seien es nun alte korporativistische oder neue unabhängige.
Siglinde Hessler hat als Hauptprobleme der mexikanischen ArbeiterInnenklasse im Auftrag des IMB das System der Vertrauensarbeiter, der Gewerkschaftsanerkennung durch die Juntas, Schutzverträge und Leiharbeit benannt. Vertrauensarbeiter sind ein im Arbeitsrecht verankertes Konstrukt von Betriebsgeheimnisträgern, die aus Verträgen ausgenommen werden, Schutzverträge werden von gelben Gewerkschaften im Namen aller ArbeiterInnen eines Betriebes ausgehandelt. Das System der Leiharbeit lässt sich unmittelbar mit dem deutschen Leiharbeitssystem vergleichen.
Ein weiteres Problem der mexikanischen ArbeiterInnenklasse ist, dass die ArbeiterInnen oft informell beschäftigt sind. Die offizielle Zahl der mexikanischen Arbeitslosen tendiert gegen Null, da man mit drei Stunden Wochenarbeitszeit als berufstätig gilt. Über 80 Prozent der mexikanischen ArbeiterInnenklasse steckt aber in prekären Verhältnissen, die keine soziale Absicherung und kaum gewerkschaftliche Organisierung kennt.
Diese Erfahrung mussten auch die Angehörigen der Gewerkschaft SNRTE machen, die in Guadalajara von 2001 bis 2004 drei Jahre lang das dortige Euzkadi-Werk, zu dem deutschen Unternehmen Continental gehörend, bestreikten: Ihre Kinder brachen das Studium ab, da Ehefrauen und Kinder stattdessen Jobs suchen mussten, um die Familien zu ernähren. Offizielle Jobs fanden sie nicht, da die Familien auf schwarzen Listen der Arbeitgeber standen. Hundert der 1.600 Beschäftigten wanderten in die USA aus, um ihre Familien von dort aus zu ernähren.
In den proletarisierten Kommunen ehemaliger LandarbeiterInnen, die sich in Maquiladoras verdingen, in der Migration in die USA, um ihre Familien zu ernähren, und in den informellen Bereichen wie der Sexarbeit rekrutiert sich eine andere ArbeiterInnenbewegung Mexikos und der USA, deren Kämpfe für die Zukunft spannend werden. Die Sache bringt es allerdings mit sich, dass diese gar nicht oder informell organisiert ist und damit schwer ansprechbar. Diese Situation hat zur Folge, dass die Einschätzungen des alltäglichen Widerstands sehr unterschiedlich ausfallen. Eine Vertreterin von CETLAC in Ciudad Juarez, einem in der Gewerkschafts- und Genossenschaftsföderation FAT organisierten Verein, sah keinerlei Arbeitskämpfe in den Maquiladoras, während eine Wissenschaftlerin des Colegio de la Frontera Norte, die in der Tradition militanter Untersuchungen das Gespräch mit Maquiladora-ArbeiterInnen suchte, diese im Alltag entdeckte.
Die andere ArbeiterInnenbewegung Mexikos findet sich dann doch da, wo sie zu vermuten war, in der Nähe der EZLN. Ostern, als wir unsere Reise durch Mexiko beendeten, fand das dritte Treffen der ArbeiterInnen in der Anderen Kampagne in Monterrey statt. Dort war z.B. das gewerkschaftliche Netzwerk der SexarbeiterInnen aktiv, das sich, wie der Menschenrechtler Martin Barrios bemerkte, in der Anderen Kampagne wiederfand, weil die ZapatistInnen die einzigen waren, die ihnen zuhören.
Hans-Joachim Lauth, dessen 1991 erschienene Doktorarbeit die maßgebliche Untersuchung zu mexikanischen Gewerkschaften ist, stellt fest, das mit dem Ende des institutionellen Korporativismus die politische Organisationsmacht der Gewerkschaften verschwindet. Mit dem Schwinden des politischen Einflusses der Gewerkschaften rücken lokale, betriebliche Auseinandersetzungen in den Fokus. Forderungen an Staat und Parteien rücken in den Hintergrund. Gegner oder Verhandlungspartner sind die Kapitalisten. Lauth kritisiert das, weil es zu einer „Entpolitisierung“ führen würde. Dem ist entgegenzuhalten, dass die organisierte ArbeiterInnenklasse nach 70 Jahren Institution zu ihrer ökonomischen ArbeiterInnenmacht zurückfindet. Mit ihrem dreijährigen Arbeitskampf und durch internationale Solidarität erkämpften sich die GenossInnen der SNRTE ihre ausstehende Löhne und Abfindungen. Das Geld reichte, um die halbe Fabrik, die zuvor geschlossen werden sollte, zu kaufen. Unter dem Namen TRADOC ist die SNRTE nun eine gut funktionierende Genossenschaft. Der Kampf der SNRTE war geprägt vom ökonomischen Bedürfnis und der Macht auf betrieblicher Ebene. Vorausgesetzt, dieses Beispiel sei exemplarisch, ließe sich behaupten: Die mexikanische ArbeiterInnenklasse syndikalisiert sich.
In der nächsten DA: „Die Zukunft der Gewerkschaften liegt in den Maquiladoras“ – Über gewerkschaftliche Organisierungsversuche in den Weltmarktfabriken im Norden Mexikos.
– Lauth, Hans-Joachim: Mexiko zwischen traditioneller Herrschaft und Modernisierung. Die Gewerkschaften im Wandel von Politik und Wirtschaft (1964 –1988). Münster/Hamburg 1991.
– Reed, John: Eine Revolutionsballade. Mexico 1914. Frankfurt a.M. 2005.
– Silver, Beverly J.: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin/ Hamburg 2005.
– Taibo II, Paco Ignacio: Erzengel. Geschichten von 12 Häretikern der Revolution im 20. Jahrhundert. Berlin/Hamburg 1999.
Soeben erschienen ist ein Band zu dem Kampf der SNRTE in Guadalajara: Dortmund, Mechthild (Hrsg.): „Einen Tag länger als die Continental”. Der Sieg der Arbeiter von Euzkadi/Mexiko über einen internationalen Konzern. Ein Streikbericht von Enrique Gómez Delgado, übersetzt und herausgegeben von Mechthild Dortmund. 183 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 13,90 €. ISBN: 978-3-930726- 13-4
Hier finden sich maßgebliche Informationen über mexikanische Gewerkschaften, u.a. die pdf-Datei mit der Untersuchung des IMB und Informationen zum Arbeitskampf der SNRTE: http://www. labournet.de/internationales/ mexiko/gewerkschaft.html
CETLAC – Centro de Estudios y Taller Laboral
CNTE – Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educacion (22. Sektion der SNTE)
CROC – Confederacion Revolucionaria de Obreros y Campesinos
CROM – Confederacion Regional Obrera Mexicana
CTM – Confederacion de Trabajadores de Mexico
EZLN – Ejercito Zapatista de Liberacion Nacional
FAT – Frente Autentico de Trabajo
IAA – Internationale Arbeiter- Assoziation
IMB – Internationaler Metallarbeiter-Bund
IWW – Industrial Workers of the World
NAFTA – North American Free Trade Agreement
OECD – Organisation for Economic Cooperation and Development
PLM – Partido Liberal Mexicana
PRI – Partido Revolucionario Institucional
PRM – Partido Revolucionario Mexicana
SITEKIM – Sindicato Independiente delos Trabajadores de la Empresa Kukdong Internacional de México
SME – Sindicato Mexicana de ElectricistasX SNRTE – Sindicato Nacional Revolucionario de Trabajadores de EuzkadiX SNTE – Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educacion
TRADOC – Trabajadores Democráticos de Occidente
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