Schon seit Jahren berichtet das Wildcat-Zeitungskollektiv über Arbeitsverhältnisse und -kämpfe in China. Anfang diesen Jahres nun veröffentlichte es eine Sonderbeilage zum Thema „Unruhen in China“. Gegenwärtige und historische sozio-ökonomische und politische Entwicklungen werden vom Standpunkt der „gefährlichen Klassen“, der ArbeiterInnen, WanderarbeiterInnen und Bauern aus untersucht und heben sich vom akademischen und medialen Mainstream deutlich ab.
Die ersten fünf Artikel, und damit rund die Hälfte der Broschüre, widmen sich speziell der Arbeits- und Lebenssituation der arbeitenden Klassen in China. Die Potenziale und Schwächen der Kämpfe der chinesischen Arbeiter und Bauern werden hier vor dem Hintergrund ihres Spannungsverhältnisses zu den institutionellen und sozioökonomischen Transformationen der letzten Jahrzehnte und deren Bruchlinien diskutiert. Diese zeigen sich besonders dort, wo kapitalistische Logik auf Rudimente der Mao-Ära trifft: Die steigende Arbeitskräftenachfrage in den Exportzentren der chinesischen Ostküste und das Fortbestehen des Haushaltsregistrierungssystems (hukou) führten dazu, dass die ca. 150 bis 200 Millionen ArbeitsmigrantInnen aus den ländlichen Regionen Chinas in den Städten kein Residenzrecht besitzen. Dementsprechend haben sie kein oder nur ein bedingtes Anrecht auf formelle Jobs, Wohnungen und Sozialleistungen. Die städtische Arbeiterklasse in den nach und nach abgewickelten Staatsbetrieben wiederum ist selbst von Arbeitslosigkeit und dem Abbau ihrer Ansprüche auf Sozialleistungen betroffen, waren diese doch an den Betrieb geknüpft. In beiden Klassenfraktionen sind es vor allem „Frauen, [die] einen überproportional großen Teil der Kosten der wirtschaftlichen Reformen in China tragen mussten und müssen“ (50). So waren von der Kündigungswelle in den neunziger Jahren zu 62,8 Prozent Frauen betroffen, obwohl Frauen nur 39 Prozent der Beschäftigten im Staatssektor stellten. Auf dem Papier sind Diskriminierung und informelle Arbeit hingegen nicht existent – das chinesische Arbeitsgesetz entspricht weitgehend europäischen Regelungen.
Tatsächlich führen unsichere Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Absicherung und entschädigungslose Enteignungen jedes Jahr zu hunderttausenden spontaner Arbeitskämpfe und Protestaktionen. Exemplarisch stellt die Broschüre immer wieder Berichte und Statistiken über Streiks, Petitionen, Klagen und Demonstrationen zusammen. Damit lassen sich auch neueste makroökonomische Trends – wie der seit 2004 zunehmende Arbeitskräftemangel, vor allem in der exportorientierten Leichtindustrie – auf die Aktivitäten der ArbeiterInnen und Bauern zurückführen.
Aber das Potenzial der so heterogenen arbeitenden Klassen, gegen „die Allianz von Kadern, Bürokraten und Kapitalisten […], die in den achtziger und neunziger Jahren geschmiedet wurde“ (27), organisiert in die Offensive zu treten, ist gegenwärtig gering. Die Proteste bleiben meist lokal begrenzt, unterliegen ideologischen (geschlechts- und/oder herkunftspezifischen) Spaltungen und beziehen sich von vornherein auf die Standards des Arbeitsgesetzes, oder werden in legale Formen eingehegt. Damit verlieren sie ihre Sprengkraft. Das eigentliche Risiko für die chinesische Führung besteht daher weniger in der Konfrontation mit der praktischen Forderung nach einer anderen Vergesellschaftungsweise, als vielmehr in der allgemeinen Destabilisierung der politischen und ökonomischen Verhältnisse, sollten sich die spontanen Unruhen weiter ausbreiten.
Wie in der zweiten Hälfte der Broschüre gezeigt wird, war dies 1989 anders: Der Tiananmen-Aufstand überschattet die sozialen Kämpfe in China bis heute. Er ist das widersprüchliche Symbol eines auf Selbstverwaltung zielenden Gesellschaftsmodells und der endgültigen Konsolidierung des chinesischen Kapitalismus durch die Macht der Gewehrläufe. Der Vergleich mit anderen Entwicklungspfaden zeigt ähnlich traumatische Erfahrungen auf, am Beispiel Indonesiens allerdings unter dem Vorzeichen eines inquisitorischen Antikommunismus. Schließlich wird anhand der Besprechung von Giovanni Arrighis „Adam Smith in Beijing“ noch einmal der Blick auf die perspektivischen Effekte des „Aufstiegs Chinas“ für die globale geopolitische und ökonomische Lage geöffnet, bevor Kurzbesprechungen chinesischer Dokumentarfilme und Verweise auf weiterführende Literatur die Broschüre beschließen.
Auf hohem und zugleich verständlichem Niveau unternehmen die AutorInnen eine Analyse bisheriger Kämpfe und Erfahrungen sowie struktureller und ideologischer Verhältnisse, welche die Komplexität und Bruchlinien der Umwälzungen in China aufzeigt. Nach der Lektüre, auch der zum Teil vermeidbaren Wiederholungen zwischen Artikeln, ist das Verständnis zweifelsohne gewachsen. Die Antwort auf die Frage nach praktischen Möglichkeiten internationaler Solidarität aber mag den meisten LeserInnen als Sisyphosaufgabe erscheinen, die mindestens so groß ist wie das „Reich der Mitte“ selbst: die Sprache lernen, Kontakte knüpfen und Informationen verbreiten. Die AutorInnen versprechen eine einfache Grammatik und die Entdeckung einer neuen Welt. Kostproben gewähren sie auf jeder der 80 Seiten. Da muss man es wohl auf einen Versuch ankommen lassen.
Wilcat Nr. 80, Dezember 2007, mit der Beilage „Unruhen in China“.
Portal zu Kämpfen in Asien: www.umwaelzung.de
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