Die Geschichte eines Streiks britischer Hafenarbeiter gegen niedrige Löhne und gefährliche Gelegenheitsanstellungen
Es liegt in der Natur der Hafenarbeit, dass die körperliche Beanspruchung zur Ausübung der Tätigkeit des Hafenarbeiters immens hoch ist. Dies gilt heute noch genauso wie damals am Ende des 19. Jahrhunderts. Aber kombiniert mit niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und weit verbreiteter sozialer Benachteiligung stellt sie sicher, dass ArbeiterInnen sich in ihren Branchen zu Gewerkschaften zusammenschließen. Das Zusammentreffen von organisierten ArbeiterInnen und industrieller Ausbeutung sorgte schon sehr früh für Reibungen in den britischen Häfen.
Die ersten großen Unruhen brachen in dem großen Hafenstreik von 1889 aus. Er fand vor dem Hintergrund der wachsenden Gewerkschaftsbewegung ungelernter ArbeiterInnen und der Unzufriedenheit mit den erbärmlichen Lebensbedingungen der HafenarbeiterInnen und ihren Familien statt.
Im 19. Jahrhundert war ein Großteil des Handels des Hafens jahreszeitlich bedingt. Zucker kam aus West-Indien, Holz aus dem Norden, Tee und Gewürze aus dem Fernen Osten. Es war äußerst schwierig, vorherzusagen, wann Schiffe eintrafen. Schlechtes Wetter konnte für Verspätungen einer ganzen Flotte sorgen.
Die Zahl einlaufender Schiffe konnte zwischen 40 in der einen Woche und dann in der nächsten Woche wieder über 200 schwanken. An manchen Tagen war viel zu tun. An anderen wieder weniger. Es gab wenig Unterstützung mechanischer Hilfsmittel. Das machte das Be- und Entladen von Schiffen äußerst arbeitsintensiv. So wurden an guten Tagen viele Leute beschäftigt und an schlechten Tagen weniger. Die Nachfrage nach Arbeitskraft variierte von Tag zu Tag. Die Hafenunternehmen stellten erst dann ArbeiterInnen ein, wenn gehandelt wurde, also erst dann wenn Schiffe da waren und sie Arbeitskräfte benötigten.
Das bedeutete für viele ArbeiterInnen stundenlanges Warten, um am Ende ggf. ohne einen Penny in der Tasche nach Hause gehen zu müssen. Die meisten ArbeiterInnen in den Docks waren GelegenheitsarbeiterInnen, eingestellt für einen Tag. Manchmal wurden sie sogar nur für wenige Stunden angeheuert.
Zweimal am Tag gab es einen sogenannten „call-on“ an jedem Dock. Hier wurden ArbeiterInnen für kurze Zeit rekrutiert. Nur ein paar wenige wurden genommen. Der Rest wurde wieder nach Hause geschickt. Ohne Bezahlung. Die Unternehmer wollten eine große Auswahl an möglichen Arbeitskräften. Aber sie sahen sich nicht bereit, für die nicht selektierten Reservisten zu zahlen, wenn es keine Arbeit gab.
Der Streik wurde durch einen Streit um „Mehr- Geld“(1) während der Entladung der Lady Armstrong in den West India Docks ausgelöst. Die East and West India Dock Company hatte an ihren ‚Mehr-Geld’-Sätzen Kürzungen vorgenommen, um sich gegenüber anderen Firmen einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen und somit mehr Schiffe in ihre eigenen Docks zu locken.
Eine Handelsdepression und ein Überangebot an Docks und Lagerstätten führten zu einem erbitterten Wettbewerb zwischen den konkurrierenden Unternehmen. Die Kürzung der Zahlungen bot die Gelegenheit, lang gehegte Differenzen unter der Belegschaft aufkommen zu lassen.
Angeführt von Ben Tillet, streikten am 14. August die Dock-ArbeiterInnen in den West India Docks. Schnell konnten sie andere Dock-ArbeiterInnen überzeugen. Doch für einen effektiven Kampf reichte es nicht aus. Die Gewerkschaft der Dock-ArbeiterInnen hatte kein Geld und brauchte dringend Hilfe.
Die nötige Unterstützung kam, als die vereinigte Gewerkschaft der Schauerleute(2) unter Tom McGarthy dem Streik beitrat. Neben einem hohen Ansehen, das sie im Hafen genossen, war ihre Arbeit für den Betrieb der Hafenanlage von entscheidender Bedeutung.
Die Gewerkschaft der Schauerleute brachte ein Manifest heraus, in dem sie Gewerkschaften anderer Branchen und die BewohnerInnen von London zur Unterstützung der DockarbeiterInnen aufrief.
„Freunde und KollegInnen. Die Dock-ArbeiterInnen sind im Streik und fordern einen Vorschuss auf die Löhne… Wir die Gewerkschaft der Schauerleute von London wissen um den Zustand der Dock-ArbeiterInnen und haben beschlossen, ihre Bewegung mit allen legalen Mitteln, die in unserer Macht stehen, zu unterstützen… Wir appellieren an alle Mitglieder der Gewerkschaften für die gemeinsame Aktion und vor allem an diejenigen, deren Arbeit mit der Schifffahrt zusammenhängt… Wir appellieren auch an eine breite Öffentlichkeit für Beiträge und Unterstützung der ArbeiterInnen.“
Andere Branchen folgten dem Aufruf der Schauerleute. Darunter die Seeleute, Feuerwehrleute, Kahnführer, Wasserbauer, Seiler und Fischer. Täglich brachen in den Fabriken und Werkstätten der gesamten East End neue Streiks aus. Der Hafen war wie gelähmt von dem, in der Tat, Generalstreik. Es wurde geschätzt, dass bis zum 27. August 130.000 ArbeiterInnen streikten. Die Londoner Evening News & Post berichtete am 26. August 1889:
„Dockarbeiter, Kahnführer, Lastenführer, Maurer, Stahlbauer und sogar Fabrikangestellten legen ihre Arbeit nieder. Gehe es ein paar Tage länger, ganz London wäre im Urlaub. Die große Maschine, von der fünf Millionen Menschen gefüttert und bekleidet werden, kommt zum Stillstand, und was wird das Ende von alledem sein? Der sprichwörtliche kleine Funken hat ein Feuer entfacht, das droht die ganze Metropole zu verschlingen.“
Die Dock-ArbeiterInnen bildeten ein Komitee, um den Streik zu organisieren und um ihre Ziele festzuhalten. Der wichtigste Punkt war die Lohnfrage. Statt dem üblichen Gehalt von 5d pro Stunde wollten sie 6d. Außerdem verlangten sie einen Überstundenbonus von 8d. Des Weiteren verlangten sie, dass das „Mehr- Geld“-System abgeschafft und die täglichen ‚call-ons’ auf zwei am Tag reduziert werden sollten. Ihre befristeten Anstellungen sollten auf ein Minimum von vier Stunden gebracht und die Gewerkschaft der Dock-ArbeiterInnen sollte anerkannt werden.
Das Komitee organisierte Massenkundgebungen und Mahnwachen vor den Hafentoren. Menschen, die man bei der Arbeit erwischte, wurden als Streikbrecher tituliert und zur Arbeitsniederlegung aufgefordert. Immer mehr Menschen schlossen sich den Dock-ArbeiterInnen an. Anfänglich kam durch Spenden genug Nahrung für die Streikenden und ihre Familien zusammen. Doch schon in der zweiten Woche des Streiks brach die Not in East London aus. Ende August litten die meisten ArbeiterInnen und ihre Familien Hunger. Der Höhepunkt der Krise war Anfang September erreicht. Ohne Geld würde der Streik bald zusammenbrechen.
Doch Hilfe für die Streikenden in London kam aus Australien. Anfang September spendete die australische Werft- ArbeiterInnen Gewerkschaft aus Brisbane £150. Und es folgten weitere Spenden. Alles in Allem kamen über £30.000 von australischen Hafen-ArbeiterInnen und ihren Verbündeten zusammen. Dieses Geld kam gerade im rechten Moment. Die Streikenden konnten sich und ihre Familien wieder ernähren, und für den Fortbestand des Streiks war gesorgt. Eine Niederlage, ausgelöst vom Hunger, schien nun in weite Ferne gerückt zu sein. Die ArbeiterInnen glaubten Duft des Sieges schon zu riechen.
Für die Unternehmer war dies ein riesiger Schock. Sie hatten damit gerechnet, dass den ArbeiterInnen ziemlich bald das Geld ausgehen würde, und der Hunger sie schon früh genug wieder in die Lohnsklaverei treibt. Aber dem war nicht so.
England galt, und gilt immer noch als Land, das sehr stark vom Außenhandel abhängig ist. Beinahe jede Ware, die in Londons Straßen verkauft wurde, kam über den Hafen dorthin. Als es zu starken Versorgungsengpässen in der Stadt kam, sah die Regierung sich gezwungen, in den Streik einzugreifen. In der fünften Woche des Streiks, am 5. September gründete der Oberbürgermeister von London das „Mansion House Committee“. Das Ziel dieses Komitees war es, die beiden Parteien des Streiks zusammenzuführen und den Streik zu beenden. Das Komitee bemühte die Unternehmer, praktisch alle Forderungen der ArbeiterInnen zu erfüllen. Nach über fünf Wochen war der Streik vorbei. Es war vereinbart, dass die ArbeiterInnen am 16. September ihre Arbeit wieder aufnahmen.
Aus der Dock-ArbeiterInnen Gewerkschaft formte sich die Allgemeine ArbeiterInnen Gewerkschaft. Allein in London traten ihr über 20.000 Menschen bei.
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