Werner Portmann liefert mit seinem neuen Buch einen wichtigen Beitrag zur anarchistischen Geschichte
Das Thema Judentum und Anarchismus schien lange Zeit niemanden in der anarchistischen Szene zu interessieren. Auch nicht, als Michael Löwy sein Buch „Erlösung und Utopie“ im Jahre 1997 veröffentlichte. Zwar kursierte immer wieder der Begriff Antisemitismus als Totschlagargument — Tragweite und Einfluss jüdischer Menschen innerhalb der anarchistischen Bewegung wurden allerdings kaum thematisiert. Ende 2006 erschienen dann sechs ausgewählte Biografien jüdischer AnarchistInnen. Zusammengestellt wurden sie von Werner Portmann und Siegbert Wolf in einem Band mit dem Titel „Ja, ich kämpfe“. Jetzt hat Portmann ein weiteres Buch aufgelegt. Es handelt von den Brüdern Max und Siegfried Nacht und trägt den merkwürdigen Titel „Die wilden Schafe“.
Leichte Kost sind die Bücher nicht, der Leser muss sie sich regelrecht erarbeiten. Allein in den wilden Schafen finden sich auf 145 Seiten ganze 917 Anmerkungen. Das sollte jedoch niemanden von der Lektüre abschrecken: Die Bücher sind eine Fundgrube. Selbst jene, die schon vieles über die anarchistische Bewegung und ihre Protagonisten wissen, werden eine wahre Freude daran haben.
Siegfried Nacht, wer war das eigentlich? Gelebt hat er von 1878 bis 1956, und war besser bekannt unter dem Namen Arnold Roller. Mit seinen Propagandaschriften legte er die theoretischen Eckpfeiler des Anarchosyndikalismus fest. Unvergessen bleibt sein Werk „Der Generalstreik und die soziale Revolution“ — mit 30 Auflagen und Übersetzungen in 17 Sprachen ein Bestseller. Als er 1912 in die USA emigrierte, legte er sich schließlich den Namen Stephen Naft zu.
Der jüngere Bruder Max Nacht (1881 bis 1973) war publizistisch in der anarchistischen Bewegung tätig — und das nicht nur beim legendären Züricher „Weckruf“. Nachdem er seinem Bruder ein Jahr später in die USA folgte, verfasste er unter dem Namen Max Nomad noch zahlreiche Bücher zu sozialistischen Themen.
Die Brüder stammen aus einer liberalen, jüdischen Familie. Der Vater, ein Arzt, setzte sich schon früh für sozialistischen Ideen ein. Während Siegfried die ersten Jahre in Wien verbrachte und kein Jiddisch sprach, wuchs Max in einem jüdischen Schtetl in Ostgalizien namens Buczacs auf. Der Landstrich gehörte zum Kaiserreich Österreich-Ungarn. Ukrainische LandarbeiterInnen, jüdische Akademiker, ZionistInnen, polnische FreiheitskämpferInnen sowie österreichische und deutsche Sozialdemokraten prägten die Gesellschaft. Es war ein armes Land — weit weg von der politischen Zentrale in Wien.
Die Brüder engagierten sich schon als Schüler. Die erste Station ihres politischen Werdegangs war die Sozialdemokratie — typisch für jene Zeit. Später kamen sie über den Anarcho- Individualismus zum Anarchismus. Die Grabenkämpfe scheinen also noch nicht allzu gravierend gewesen zu sein. Als „gottlose Juden“ fühlten sie sich zwar der Religion nicht sonderlich verbunden, das soziale Element der jüdischen Gemeinschaft trieb sie jedoch an. Ein stigmatisierendes Außenseitertum und der ewige Kampf gegen den Antisemitismus, der selbst in der sozialistischen Bewegung seine Wurzeln schlug, taten ihr übriges.
Armut und geistige Enge trieben nicht nur die Brüder Nacht in die weite Welt. Sie wurden wie viele andere zu Luftmenschen. Ein Begriff für jene (jüdischen) Existenzen, die sich um 1900 der Moderne im geistigen wie im technischen Sinne anschlossen, und somit in einem losgelösten sozialen Raum schwebten. Besonders Siegfried ließ sich von revolutionären Vorstellungen treiben. Überall, wo sich SozialrevolutionärInnen trafen, war auch er: Berlin, Zürich, Paris und London. Im Sommer 1902 machte sich Siegfried auf den Weg von Paris über Barcelona bis nach Südspanien — zu Fuß. In Gibraltar wurde der inzwischen europaweit bekannte Propagandist verhaftet. Angeblich habe er ein Attentat auf den englischen König Edward VII. geplant.
Siegfried Nacht war in fast allen Ländern Westeuropas mit einem Einreise- oder Aufenthaltsverbot belegt. So war die Emigration in die USA nicht nur eine weitere Station, sondern eine Zuflucht. In New York hatte sich zwar eine starke deutschsprachige anarchistische Kolonie gebildet, den beiden Brüdern gelang es dennoch nicht, sich in gleichem Maße in anarchistische Gruppe einzubringen. Zumindest nicht so, wie sie es in Europa getan hatten. Siegfried Nacht haftete das Makel an, ein Verräter zu sein. Max wandte sich nach der Oktoberrevolution dem Trotzkismus zu.
Mit dem Aufkommen des europäischen Faschismus stellten die Brüder Nacht ihr Wirken in den Dienst der US-Regierung. Max arbeitete bei der Post, um Briefe aus Nazi-Deutschland zu zensieren. Siegfried freundete sich mit einem FBI-Boss an, später arbeitete er sogar bei der US-amerikanischen Bundespolizei. Die Verbindungen erwiesen sich als nützlich: So konnte etwa Rudolf Rocker und seiner Ehefrau eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung beschafft werden. Trotz ihres geringen Einkommens unterstützten beide immer wieder in finanzielle Not geratene AnarchistInnen — zum Beispiel Max Nettlau.
Lebenswege sind nun mal nicht immer gerade, und schon gar keine ruhig dahin fließenden Flüsse. Die Brüche in den Viten der Brüder Nacht sind womöglich nicht immer nachvollziehbar. Aber sie unterscheiden sich auch nicht von den brüchigen Lebensläufen tausender anderer AnarchistInnen — und sie sind spannend.
An einigen Stellen wirkt die Arbeit des Autors Werner Portmann äußerst knapp. So hat er kein Wort der Erklärung dafür übrig, als Pierre Joseph Proudhon in Fußnote 581 ein „französischer Philosoph und antisemitischer Vordenker der Idee des Anarchismus“ genannt wird. Auch die Tatsache, dass Max Nacht im negativen Sinne vom „Bakunin-Bolschewismus“ spricht und ihn mit Lenin in einen Topf wirft, wird vom Auto in zwei Anmerkungen abgewiegelt. Dabei wären sicher noch zwei oder drei Seiten Platz gewesen, dies näher zu erläutern. Und der Streit zwischen Siegfried Nacht und dem österreichischen Anarchisten Pierre Ramus wird zu sehr auf Kosten Ramus dargestellt. Dies mag natürlich die Freiheit des Forschers sein. Der von Max Nacht entwickelte skeptische Anarchismus bleibt leider ebenso auf der Strecke.
Trotz kleiner Kritik ist dieses Buch ebenso wichtig, aufschlussreich und spannend, wie die beiden eingangs erwähnten Werke. Portmann hat die Schriften und Lebensläufe minutiös recherchiert — besonders die Zeit vor der Emigration. Damit hat der Autor wieder einmal einen wichtigen Beitrag zur anarchistischen Geschichte geliefert.
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