(K)Ein Instrument zur Abhilfe krankmachender Arbeitsbedingungen?
Ende der 1980er wurde in der Europäischen Union durch verschiedene Richtlinien u.a. die Grundlage für einen europaweiten Arbeits- und Gesundheitsschutz gelegt. In Deutschland war diese Entwicklung zu Recht von der Befürchtung begleitet, das Arbeitsschutzniveau könnte in der Folge auf die europaweit niedrigeren Standards abgesenkt werden. So wurden z.B. viele für den Arbeitsschutz positive und konkrete Bestimmungen gestrichen und durch Rahmenvorschriften ersetzt, die dem Arbeitgeber einen größeren Handlungsspielraum gewähren. Erklärte Absicht der neuen Arbeitsschutzphilosophie war es, die Eigenverantwortung der betrieblichen Akteure zu stärken. Damit öffnete der Gesetzgeber einerseits Tür und Tor, betrieblichen Gesundheitsschutz noch stärker unter den Leitsatz der Kostensenkung zu stellen. Anderseits wurden im Bezug auf Arbeits- und Gesundheitsschutz nach heftigen juristischen Auseinandersetzungen die Einflussmöglichkeiten der sog. Interessensvertretungen gestärkt.
Ein Beispiel hierfür stellt das Instrument der Arbeitplatzgefährdungsbeurteilung dar. Sie ist im § 5 des Arbeitsschutzgesetzes geregelt und verpflichtet Unternehmen unabhängig von der Betriebsgröße, die durch jeden Arbeitsplatz ausgehenden gesundheitlichen Gefährdungen zu beurteilen und erforderliche Schutzmaßnahmen abzuleiten. Hierzu zählt neben den klassischen Bereichen, wie z.B. dem Umgang mit Gefahrenstoffen, auch die Gestaltung von Arbeitsabläufen und Arbeitszeit. Die durch den Gesetzgeber vorgenommene Aufzählung ist nicht abschließend. Dies ermöglicht bei der Durchführung der Analyse auch die Erfassung psychosozialer Belastungen. Da der Gesetzgeber lediglich festschreibt, dass eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen ist, nicht jedoch wie, ergeben sich unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten für jeden Einzelnen in Betrieben mit Betriebsrat und in solchen, in denen kein Betriebsrat existiert.
Im August diesen Jahres entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG), dass Lohnarbeitende die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung zur Untersuchung gesundheitlicher Gefahren verlangen und nötigenfalls auch einklagen können. Klingt gut – ist es aber nicht, denn im gleichen Urteil entschied das BAG, dass die Kriterien und Methoden für die Durchführung einer Gefährdungsanalyse nicht einklagbar sind, da dem Arbeitgeber ein Beurteilungs- und Handlungsspielraum zusteht, wie er die Gefährdungsbeurteilung konkret durchführen will (9 AZR 1117/06).
Etwas widersprüchlich ist ein anderes Urteil des BAG, nach dem in Ausnahmefällen Lohnarbeitende sehr wohl konkrete Maßnahmen vom Arbeitgeber verlangen können (in dem Fall ging es um die Entlassung eines Mobbers), obwohl es auch bei Mobbing grundsätzlich im Ermessen des Arbeitgebers liegt, welche Maßnahmen zur Beseitigung der Gefahrenlage ergriffen werden und welche nicht.
Etwas besser könnte die Lage in Betrieben mit Interessensvertretung aussehen. Zumindest bestehen hier verschiedene individuelle, aber auch kollektive Möglichkeiten, einen Betriebsrat soweit unter Druck zu setzen, dass er von seinem Mitbestimmungs- bzw. Initiativrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 Gebrauch machen muss. Demnach kann jeder Betriebsrat von sich aus zu jeder Zeit aktiv werden, Maßnahmen zur Umsetzung einer gesetzlichen oder berufsgenossenschaftlichen Regelung verlangen und sie ggf. über den Rechtsweg einklagen. Dies bezieht sich auch auf die Durchführung einer Gefahrenanalyse und die Aufnahme einzelner Untersuchungskriterien dafür. So kann ein Betriebsrat z.B. verlangen, dass im Rahmen einer Gefährdungsanalyse eine Befragung unter den Beschäftigten durchgeführt wird, die auch auf psychosoziale Risiken abzielt. Sollte eine derartige Befragung potentielle Gesundheitsgefährdungen ans Tageslicht bringen, ist der Arbeitgeber dazu verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Abhilfe in die Wege zu leiten und diese auf Ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Die Realität in deutschen Betrieben sieht freilich anders aus.
So bescheinigen verschiedene Untersuchungen über die Umsetzung und Qualität von Gefährdungsbeurteilungen seit dem Inkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes 1996 insgesamt erhebliche Defizite. Eine 2002 durchgeführte Untersuchung in hessischen Betrieben ergab unter anderem, dass 42% aller Betriebe keine Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung vorgenommen hatten, 17% hatten immerhin damit begonnen und 21% gaben eine vollständige Umsetzung an. Insbesondere in Kleinbetrieben fehlte die Umsetzung bei 61% der Betriebe komplett, so das Wirtschaftsund Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Besondere Mängel bei der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung zeigen sich bis heute bezüglich der Berücksichtigung psychischer Belastungen. Sie findet trotz der erheblichen Zunahme psychosozial bedingter Krankheiten nur in 16% der Betriebe statt.
Quelle: AiB Verlag (Hg.), Arbeitsrecht im Betrieb, Nr. 9/2008.
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