Betrieb & Gesellschaft

Forum der Ausgebeuteten

Interview mit Karsten Weber, dem Gründer der Internetplattform chefduzen.de

Auf Chefduzen kann man sich anonym über Arbeitsbedingungen und Ämter aussprechen. Nicht selten reagieren die Chefs auf Veröffentlichungen mit Abmahnungen – oder auch mit Zugeständnissen. Das Internet kann so zum wirkungsvollen Instrument im Klassenkampf werden. Die FAU Münsterland fragte dessen Initiator nach Geschichte und Perspektiven des bemerkenswerten Projektes.

Was ist und macht Chefduzen und wie ist das Projekt entstanden?

Chefduzen ist entstanden aus Frust über die Perspektivlosigkeit der linken Szene. Es ist ein Versuch eine zeitgemäße Form des Klassenkampfes zu entwickeln. Wir haben die soziale Frage in den Mittelpunkt gestellt und im Internet einen Raum für Diskussion und Auseindersetzung geschaffen. Die Betroffenen von Ausbeutung und Verarmung müssen selbst Lösungen der sozialen und politischen Probleme entwickeln. Das können ihnen ein paar politische Vorturner nicht abnehmen. Wir versuchen Dogmatismus und Sektiererei zu vermeiden, dafür zu sorgen, dass eine strömungsübergreifende Diskussion möglich ist, nur bei faschistoider oder neoliberaler Propaganda schreiten wir sofort ein, ansonsten lassen wir mehr zu, als anderswo in der Linken denkbar wäre.

Was sind die größten Erfolge von Chefduzen? Und gibt es auch Stress mit Behörden oder Arbeitgebern?

Dies beides gehört zusammen: Der Stress mit Behörden und Arbeitgebern bescherte uns auch unsere größten Erfolge. Wir haben weitgehend Neuland betreten und alle Seiten versuchten, die juristischen Möglichkeiten auszuloten. Einige Unternehmen betrachteten ja schon die Veröffentlichung ihrer Arbeitsbedingungen als Affront und es hagelte nach kurzer Zeit Schreiben von Anwälten, Polizei und Gerichten. Wir sind keine geborenen Helden, aber wir wollten auch nicht klein beigeben, so kurze Zeit nach dem Start. Wir hatten schlaflose Nächte und ernsthafte Existenzängste. Dies gipfelte in der Androhung eines Zwangsgeldes in der absurden Höhe von bis zu 250.000 Euro oder sechs Monaten Haft. Wir kamen mit einem Lehrgeld von rund 3.000 Euro davon. Dank einer Welle der Solidarität und Unterstützung durch die Rote Hilfe blieb auch das letztendlich nicht auf unseren Schultern. Dieser Angriff auf Chefduzen machte zunächst die Runde in der Netzwelt, bis sich schließlich auch die Mainstreammedien der Sache annahmen. Die Bekanntheit und Popularität des Forums der Ausgebeuteten wuchs explosionsartig. Die erste Firma, die uns ans Bein pisste, ist inzwischen pleite. Die Callcenterbetreiber freenet, buw und Tectum – und verschiedene andere – bissen sich an dem Forum die Zähne aus und schossen sich selbst ins Knie. Sie sägten so an ihrem Ruf: Durch ihr lichtscheues Verhalten machten sie die Öffentlichkeit neugierig, bis auch die bürgerliche Presse Interesse zeigte. Allein das Thema „freenet“ wurde bei Chefduzen 250.000 mal besucht.

Uns ist es wichtig, dass wir uns nicht allein auf die Ausbeuter konzentrieren. Uns bedeutet es auch viel, dass man sich die Informationsfreiheit in den Medien und speziell im Internet nicht weiter beschneiden lässt. Wir verachten den verauseilenden Gehorsam, den viele Betreiber von Netzprojekten an den Tag legen. Wir haben im Juristischen viel dazugelernt und wissen, dass es sich bei einem großen Teil der Drohungen um Bluff handelt. Wir haben uns mit ähnlich ausgerichteten Internetportalen und erfahrenen Juristen zusammengetan, um unter dem Dach der Roten Hilfe gegen die Ausbreitung von Zensur und Beschneidung der Meinungsfreiheit politisch und juristisch v o r zugehen. Wir verbuchen es als einen Erfolg, dass viele Unternehmen zwar Schiss vor der Öffentlichkeit haben, aber noch größeren Schiss davor, das öffentliche Interesse durch einen Angriff auf uns zu vergrößern. Es war auch die Folge der so entstandenen öffentlichen Diskussion, dass ein Ausbeuter nicht mehr ausreichend Personal rekrutieren konnte und gezwungen war, den Lohn zu erhöhen. Das Forum wurde auch von Aktivisten genutzt, einen Betriebsrat in einem Callcenter zu installieren. Solche Aktivitäten sind in einigen Betrieben so schwer wie unter einem diktatorischem Regime. Die anomymen Diskussionsmöglichkeiten in einem solchen Forum haben sich als hilfreich bewiesen.

Was macht ihr momentan?

Neben dem Alltag mit dem Forenbetrieb und der Beteiligung an der Diskussion, sind wir bemüht, die Möglichkeiten und Kontakte, die aus der Arbeit an dem Netzprojekt entstanden sind, für praktische Aktivitäten zu nutzen. Das Internet bietet einfach zusätzliche Möglickeiten, doch es ersetzt nicht traditionelle Formen der politischen Auseinandersetzung mittels Flugblättern, Plakaten, Treffen und Versammlungen. Wir versuchen, den Schwerpunkt der Arbeit in die reale Welt zu holen, ohne den virtuellen Treffpunkt aufzugeben. Die Stammtische in mehreren Städten und die Branchenzeitungen für den Leiharbeitssektor und die Callcenter sehen wir als einen Schritt in die richtige Richtung.

Welche langfristigen Perspektiven und Herausforderungen siehst du für euer Projekt?

Wir wollen gegen die Spaltungen und Atomisierung der Klasse anwirken. Die Erwerbslosen müssen zwar in jeder Beziehung gestärkt werden, doch sie selbst sind kaum organisierbar. Arbeitskämpfe der Zukunft müssen auch die Rechte der Erwerbslosen einfordern. Und wir wollen auch weiter vordringen in den ersten Arbeitsmarkt und die Stammbelegschaften der Großbetriebe in die Diskussion einbeziehen. Es kann nicht sein, dass Chefuzen allein für die Prekarisierten da ist und die Stammbelegschaften der Industrie mit dem DGB herumklüngeln. Wir werden alle Opfer der Krise, die über uns hereinbricht, es bleiben keine sicheren Inseln. Erst wenn wir lernen, solidarisch mit Leuten zu sein, denen es im Moment noch etwas besser geht, haben wir eine entscheidende Spaltung überwunden.

Wir danken für das Interview!

Redaktion

Die Redaktion der Direkten Aktion.

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