Rede über einen Toten. Heiner Müller, zum Achtzigsten
Es war im vergangenen Herbst, zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution und in den Wogen der „Weltwirtschaftskrise“, da kam – wie ein Gespenst – der vor dreizehn Jahren verstorbene Heiner Müller wieder ins Gerede. Als „der vermutlich Letzte, der wirklich noch mit ihm umgehen wollte“ (SZ), mit dem Begriff der Revolution. Heiner Müller, der im Januar achtzig geworden wäre, gilt, neben Brecht, als bedeutendster deutschsprachiger Dramatiker.
Was bleibt, was kennt man von diesem Autor mit dem Allerweltsnamen Müller? Noch aufgeführt werden vor allem die jüngeren Stücke wie „Auftrag“, „Hamletmaschine“, „Quartett“. Der ein’ oder die andere mag auch die musikalische Umsetzung der „Wolokolamsker Chaussee“ kennen. Das ist wichtig, man muss sie hören, erst so entfalten die Texte Müllers ihre Kraft: treibend bis explosiv, schwer wiegend, ja belastend. So bleiben seine Themen Menschheitsdramen antiken Ausmaßes: Verantwortung, Verrat, Blut, Individuum und Gemeinschaft.
In Punkto Revolution besonders interessant sind die Stücke der Anfangszeit. Müller beobachtet die Neuzusammensetzung der Klasse nach Gründung und Zementierung der DDR. Etwa „Der Lohndrücker“ mit dem Problem der Akkordarbeit: Ideologisch untermauert steht sie für den „Aufbau des Sozialismus“. Aber mittelfristig drückt sie die Prämien und steigert die Normen. Ist das der Weg zum guten Leben? Denn das ist die Losung: Gut leben! Im Banner tragen sie die Partei und ihre Kritiker. Verwoben die Erwartungen an das Heute und der Vergleich mit Gestern: Suppe und Bier, Arbeit und Lohn, Verfahren und Plan, Menschen, alles. Immer wieder dringt die Nazi-Vergangenheit ein. Und klar klafft ein Abgrund zwischen offizieller Darstellung und Realität. Das Stück endet positiv, aber alles andere als schmerzfrei.
Anstößig waren in der frühen DDR das Dargestellte und die Sprache: widersprüchlich, konflikthaft, hart. Die Germanistin Massalongo sagt heute, „so einer Sprache, die das getötet hat, was in ihr noch von Rede und Geschwätz steckt, bin ich noch nicht begegnet.“ Damals zerrissen Funktionäre sich über der Frage das Maul: Sozialistischer Realismus oder Beleidigung der Arbeiterklasse? Sieben Jahre später, in „Der Bau“, legte Müller nach: Das Papier, der Plan „Ersetzt mir Junker und Kapitalist / Und schlägt mir Beulen in die Ideologie.“ Müller zeigt, schonungslos, das Räderwerk der Macht – die Resignation produziert bei den Enthusiasten, plus Verachtung bei den Proleten: „Sabotage nur auf Befehl der Bauleitung / Und schriftlich. Kinder haften für die Eltern.“ Das ist nichts anderes als Subversion des „Sozialistischen Realismus“, der Kunst im Dienste eines „sauberen Staats DDR“, wie Honecker dozierte. Die Auseinandersetzung drehte sich darum, auf welche Weise sich eine Gesellschaft gestaltet: In lebendigen Debatten oder vom Büro aus gesteuert?
Mitte der 60er wurden auch Müllers Stücke (erneut) verboten. Sicher ein Anstoß, sich stärker älterem Material zuzuwenden. Vielleicht zog er sich zurück, geschlagen gab er sich nicht. Die Bearbeitung älterer Stoffe fasste der Dichter als Dialog mit seinen Vorgängern auf: „Das Tote ist nicht tot in der Geschichte.“ Gespenster verbildlichen ja auf der Bühne seit jeher den Griff des Vergangenen in die Zukunft, einen Pool nicht realisierter Möglichkeiten. Noch 1989, als ihn das Feuilleton bereits pessimistisch verstand, ist Heiner Müller optimistisch genug, am 4. November den Aufruf der „Initiative für Unabhängige Gewerkschaften“ zu verlesen. Sicher, die Literatur hatte in der DDR einen ganz anderen Stellenwert. Aber auch der Staat hatte für den Dichter einen anderen Stellenwert. Mit dem Zusammenbruch der DDR mag die Zuständigkeit für Literatur in der Verwaltung vom Innen- ins Finanzressort versetzt worden sein und weniger wichtig erscheinen. Dennoch kommt dem Theater auch heute noch eine Sonderstellung zu: Als öffentlicher Raum, in dem das Wort und die Tat im Vordergrund stehen, ist Theater eine Art Versammlung. Hier, wo Möglichkeiten verwirklicht werden, kann das Verlangen nach einer praktischen Antwort reifen.
Freilich werden gesellschaftliche Fragen auf der Bühne anders verhandelt als auf der Tribüne. Müller selbst witzelte, auf Brecht weisend, über die Schwierigkeit, gleichzeitig „Künstler und Kommunist“ zu sein. Das Verstummen, das Unverstehen – was ja in der politischen Rede nur als Rhetorik Platz findet – machen sein Theater zu einem Manifest der besonderen Art. Die Welt ist kein Reißbrett. Der Fehler, der Rest, der nicht aufgeht … das sind Phänomene, die eine emanzipatorische Bewegung nicht verdrängen darf, will sie nicht kapitulieren. Gegenwart und Geschichte ebenso scharfsinnig und -züngig auf die Bühne zu bringen, sie mit ihrer Utopie und ihrer Angst fortzuschreiben, vor dieser Aufgabe steht die Nachwelt Müllers.
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Heiner Müller: Geschichten aus der Produktion (Der Bau, Der Lohndrücker, Die Korrektur, u.a.). Rotbuch Verlag, Berlin 1974.
Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi (Hrsg.): Heiner-Müller-Handbuch. Metzler Verlag, Stuttgart 2003. Und: Lehmann: Das politische Schreiben. Theater der Zeit, Berlin 2002.
Internationale Heiner Müller Gesellschaft: http://www.ihmg.de
Gespräche im Mitschnitt: http://muller-kluge.library.cornell.edu/de/
Müller am 4.11.89: http://dhme.dhm.de/ausstellungen/4november1989/mulr.html
[in: „Geschichten aus der Produktion I“, Rotbuch Verlag, Berlin 1974, S. 82 f.]
45 Jahre nach der Großen / Revolution sehe ich auf der Leinwand / In einem neuen Film aus dem Land der Sowjets die Verwandlung / Eines langsamen Kellners in einen Schnelläufer / Durch die falsche Nachricht, der hundertunderste / Wartende Gast sei Staatspreisträger. / Die wenig verschieden gekleideten Zuschauer / In dem Eckkino in der gespaltenen Hauptstadt / Meines gespaltenen Vaterlandes belachen / Den alltäglichen Vorgang, nicht alltäglich / Auf der Leinwand. Warum lachen die Leute. / O nicht genug zu preisende Langsamkeit / Der nicht mehr Getriebenen! Schöne Unfreundlichkeit / Der zum Lächeln nicht mehr Zwingbaren!
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