Ein Interview mit Schorsch Kamerun, Sänger und Mitbegründer der Hamburger Politpunk-Legende Die Goldenen Zitronen, über seine Regiearbeiten zum Theaterstück „Westwärts“, seiner Wertschätzung Rolf Dieter Brinkmanns, sowie über Kunst und Kritik im Kapitalismus.
Im Rahmen der Ruhr Triennale habt Ihr Rolf Dieter Brinkmanns Gedichtband „Westwärts” auf die Bühne gebracht. Der Dichter wird persönlich meist als verschlossen, einzelgängerisch und misanthropisch beschrieben, und aus dieser angeblichen Wesensart heraus ergeben sich die gängigen Interpretationen seiner Werke als individuelle Abrechnung mit der Welt. Weitergehend gesellschaftskritisch oder gar politisch wird seine Arbeit hingegen meist nur vage als „unkonform” wahrgenommen. Ist auch „Westwärts” nichts weiter als ein wehmütiger Seufzer eines lebensfernen Poeten – oder steckt für Dich mehr dahinter?
Ich fühle mich stark verbunden mit Brinkmann. Seine Texte sind hyperdirekte Reflexe auf das, was wehtut in der Entfremdung. Damals wie heute. Das hat schon sehr mit Schmerz und Wut zu tun, aber in diesem Falle schützt seine stark individuelle Betrachtung auch vor Vermatschung durch Zugehörigkeit. Ich glaube: Alles Bestreben sollte sein, solche Einsamkeiten im Gemeinsamen aufzulösen, aber das muss dann auch wirklich schützen und von Dauer sein.
In der Beschreibung des Stückes wird die Maschinenhalle, in der das Theater stattfindet, als „begehbarer Ausnahmezustand” angekündigt. Solch ein riesiges industrielles Gebilde, das Brinkmann ja geradezu als menschenverschlingend erschien, war im Ruhrgebiet der tägliche Ort für die Routine der Arbeitswelt eines Großteils der Bevölkerung. Fand diese Routine in einem täglichen „begehbaren Ausnahmezustand” statt?
Dadurch, dass wir den Aufenthalt unserer gemeinsamen Zeit als gelebte und nicht nur geprobte Zeit versucht haben, stellte sich schon ein wiederholter Ablauf ein. Die große Gruppe hat unsere Idee einfach fantastisch verstanden und bewundernswert unprätentiös mitgemacht.
Wenn die Zuschauer, wie in eurem Arrangement, hinter Glas auf die Bühne blicken, ist klar, dass das häufige Ziel der Regie, die Zuschauer in das Geschehen mit einzubeziehen, über Bord geworfen wurde. Warum habt ihr das Publikum und die DarstellerInnen so von einander getrennt?
Weil wir durch die Musik und die Brinkmann-Texte eine andere Kommentarebene wollten. Wie Stimmen im Kopf, die nicht zur Realität passen. Wir wollten auch, dass sich die Zuschauer ihr eigenes Bild bauen, und haben sie zwar durch die trüben Scheiben entfernt, sie aber gleichzeitig durch Bewegungsfreiheit des Begehbaren aufgefordert, auf die Suche zu gehen.
In einem Interview hast Du einmal gesagt, dass Du dich freuen würdest, wenn auch ehemalige Arbeiter und Arbeiterinnen sehen würden, wie sich die alten Hallen wieder mit Leben füllen. Wie, meinst du, wirken Brinkmanns Texte an diesem Ort auf Menschen, deren Identität hier wesentlich geprägt wurde?
Tatsächlich glaube ich, dass es hier nicht um die Annäherung an die Raumgeschichte ging, sondern eher um das Ernstnehmen von so einem Ort, ohne ihn mit einer schicken Zweitbühnenkonstruktion zu versüßen. Wir wollten unseren „Zustand” in einem realen, der Behauptung entsprechend „wahrscheinlichen” Raum ausprobieren.
Nun ließe sich auch der Schluss ziehen, dass am Beispiel der Umwandlung einer Maschinenhalle zum Theater die spätkapitalistische Verwertungslogik aufs Beste versinnbildlicht wird: Orte der Ausbeutung zum Zwecke der Produktion sozial geschichtetem nationalem Wohlstandes werden nun, nachdem sich das ökonomische Modell weiter entwickelt hat, für den kreativen Lifestyle der Bessergestellten neu entdeckt. Der Eintrittspreis von 30 Euro ist auch nicht gerade an pensionierten, umgeschulten oder gar arbeitslosen Ehemaligen der Maschinenhallen orientiert…
Der Preis ist zu hoch, obwohl subventioniert. Ich finde das wirklich problematisch und meine, man könnte ihn kleiner halten, und sei es auf Kosten der allgemeinen Produktionsaufwände oder Werbung. Was ich allerdings richtig finde ist, dass diese Hallen genutzt werden, sei es durch Versuche wie unsere. Ich glaube, das gibt ihnen Selbstbewusstsein. Sonst würden sie verschwinden.
„Westwärts” ist erst kurz nach Brinkmanns Tod veröffentlicht worden, und das zunächst auch nur unvollständig. 33 Jahre später hast Du nun daran gearbeitet‚ „Westwärts” in Szene zu setzen – kannst Du als Resultat erahnen, wie Brinkmann die heutige Gesellschaft wahrgenommen hätte?
Ich denke, ähnlich wie damals. Nur noch ohnmächtiger. Schließlich fand er einen starken Ausdruck in seiner Zeit, was heute bekanntermaßen immer schwieriger wird, weil jeder radikaler Gestus längst Popcorn ist.
Brinkmann stand dem Kulturbetrieb seiner Zeit feindlich gegenüber – kaum auszumalen, wie er auf die heutige Massenkultur reagiert hätte. Lässt sich Brinkmann als zeitgemäße Kulturkritik anwenden?
Ich finde: Absolut. Für mich war er ein intuitiver Visionär. Niemand hat die „Schrecken des Normalen“ so trefflich beschrieben wie er.
Vielen Dank für das Interview!
Per E-Mail geführt von Marcus Munzlinger
Schorsch Kamerun, mit „bürgerlichem“ Namen Thomas Sehl, wurde 1963 in Schleswig-Holstein geboren, und ist den meisten als Sänger seit langer Zeit ein Begriff. Darüber hinaus ist er noch unter anderem als Autor, Verfasser von Hörspielen, Clubbetreiber und bereits seit einigen Jahren als Theaterregisseur tätig. Mit seinen theaterhandwerklich und politisch aus dem Rahmen fallenden Stücken wirbelt Schorsch Kamerun Staub auf jeder Bühne zwischen Norddeutschland und der Schweiz auf, an der sich die Möglichkeit dazu bietet. Viel beachtet etwa die Aufführungen von Macht fressen Würde am Schauspielhaus Zürich, einer beißenden Abrechnung mit dem modernen Rechtspopulismus in der Schweiz. Für die Aufführung von Westwärts wurde die Maschinenhalle Zeche Zweckel in Gladbeck gewählt.
Rolf Dieter Brinkmann, 1940 in Vechta geboren und 1975 – vermutlich – bei einem Unfall in London ums Leben gekommen, gilt als radikaler Erneuerer der deutschen Lyrik und Literatur. Insbesondere der mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnete Gedichtband Westwärts 1&2 hat zu diesem Ruf beigetragen. Brinkmann hatte sich der neuen USamerikanischen-Underground-Lyrik zugewandt; dass dieser auf gewisse Weise der „Sprung über den Atlantik“ nach Deutschland gelang, gehört zu Brinkmanns herausragender Leistung für die Literaturgeschichte. Trotz seines frühen Todes hinterließ er der Nachwelt einen reichhaltigen und abwechslungsreichen Fundus an Texten zur Kunsttheorie, zu Gesellschaftskritik und entsprechenden Gedichten, romanartigen Schriften (ohne dass dabei ein „Roman“ im herkömmlichen Sinn zu finden ist), aber auch Fotobänden, Collagen und vielem mehr. Als Herausgeber von Acid. Neue Amerikanische Szene schaffte Brinkmann zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla zudem ein absolutes Standardwerk für die modernen Kulturwissenschaften.
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