Von 400 Demonstrierenden in Cuxhaven bis zu 8.000 in Stuttgart, von der (teilweisen) Schulbesetzung in Oldenburg, der Erstürmung der Humboldt Universität in Berlin (1) bis zur Überwindung der Bannmeile vor dem Landtag in Hannover reichte das Spektrum der Aktionen zum bundesweiten „Schulstreik“ am Mittwoch, den 12. November. Nach offiziellen Angaben beteiligten sich über 100.000 junge Menschen an dem eintägigen Ausstand – für Deutschland eine beachtliche Zahl.(2) Ein Erfolg, darüber waren sich die OrganisatorInnen in über 40 Städten einig. Bereits im Mai und im Juni 2008 hatten bundesweit ca. 40.000 SchülerInnen gestreikt.
Es gab mehrere zentrale Forderungen, die schon zum ersten Schulstreik formuliert wurden. Sie dürften auch beim sogenannten Bildungsgipfel mit Kanzlerin Angela Merkel am 22. Oktober bekannt gewesen sein:
Wie erwartet, wurde dies auf dem Bildungsgipfel in demokratischer Manier ohne Dialog mit den betroffenen SchülerInnen debattiert, und es ist nicht wirklich anzunehmen, dass sich nach diesem ersten Aufschrei der „Bildungsabhängigen“ die Politik in Bewegung setzt. Die Direktorenvereinigung in Niedersachsen warnte schon dringlichst, „Einheitsschulinitiativen nutzen die Gelegenheit und ködern Gymnasiasten […], verschleiern aber dabei ihre wahre Absicht, die Gymnasien zu zerschlagen“. – Bezeichnend und bizarr.
Während in Italien SchülerInnen und Studierende Universitäten und Schulen besetzten, bereitet in unseren Breitengraden schon der Gedanke an einen unentschuldigten Fehltag den einen oder der anderen Kopfschmerzen. Der individualisierte Angstzustand und Konkurrenzdruck lässt sich ohne Gegen-Kontinuität nicht so einfach abschalten. Die Demonstrationen konnten nun vielen ein kurzweiliges Wir-Gefühl vermitteln. Doch für das „Wir” muss es nachhaltig eine Füllung geben: Solidarität und Radikalität in die trotz des Streiks noch relativ unpolitische SchülerInnen- und StudentInnenschaft zu tragen.
Schaut man sich die Ereignisse der Wochen nach dem Streik an, kann man hier und dort lokale Initiativen und Demonstrationen beobachten – etwa das „Bündnis zur Legalisierung des Schulstreiks“ in Nürnberg, Studi- Demos in Hamburg und Göttingen, eine kurze Besetzung des „House of Finance“ durch ca. 500 Personen aus Uni und Fachhochschule in Frankfurt. Doch wir sehen wieder das gewohnte Bild: Relativ isolierte Kämpfe im Bildungsbereich, die keiner großen Öffentlichkeit zugänglich werden. Trotz der Chance, mit den Aktionen eine Beziehung zwischen diesen Kämpfen herzustellen und dabei die vorangegangene Publicity des Schulstreiks zu nutzen, steht die lokale Beschränkung der Proteste (3) ohne umfassende Vernetzung oder Organisierung zwischen den Orten und Gruppen einer breiteren Bewegung der Bildungsabhängigen (SchülerInnen, Studis, Azubis) im Wege.
Zudem kann es bei Demos nicht bleiben: Merkmal sozialer Bewegungen ist auch, mit dem Alltäglichen zu ringen. Ein Blick in die Schulen zeigt, wie schwer es werden wird, einer von Konkurrenz geprägten und Konsumüberflutung überstimulierten SchülerInnenschaft zu etwas anzuregen, das sich ernsthaft “Bewegung” nennen kann. Optimisten tun dies schon zu Genüge, doch oft ohne dabei die Lage zu begreifen, in der sich SchülerInnen (und StudentInnen) befinden: Ein Zustand permanenter Entmündigung durch institutionalisierte Beschulung, die viele nicht erst seit gestern ankotzt und wenig mit Bildung nach libertärer Vorstellung zu tun hat.
Anarchosyndikalismus ist die Selbstverwaltung in allen Lebensbereichen. Basisdemokratische Arbeit und die Vermittlung von Selbstbestimmung und Selbstverwaltung unter anderem im Bildungsbereich ist das, was Libertären vorschwebt. Die Aufgabe ist, eine kontinuierliche Arbeit aufzubauen, die sich auch auf das „Danach” richtet. Auch wenn direkte Aktionen wie „Schulstreiks“ vergleichsweise effektiver zu sein scheinen als bloße Demos – die Machtfrage ist damit noch nicht gestellt. Eine Strategie, die die Perspektive beinhaltet, die Missstände umfassend zu überwinden, ist nur mittels einer Organisierung denkbar. Wer nie das Unmögliche fordert, wird auch das Mögliche nicht erreichen, heißt es. Und eine konsequente libertäre Forderung kann ohnehin nur lauten: „Bildung statt institutionalisierter Beschulung“!
Doch für junge AnarchosyndikalistInnen gilt es, die Visionen einer herrschaftsfreien und solidarischen Gesellschaft im Hier und Jetzt beginnen zu lassen, in Schülersyndikaten, libertären Jugendgruppen und solidarischen Netzwerken. Die Idee einer anarchosyndikalistischen Organisation wie der FAU ist eine Perspektive, die die libertären Jugendlichen, die sich im vergangenen Jahr in der AG Jugend zusammengeschlossen haben, konsequenter nutzen wollen: „Weil wir für unseren Anspruch auf ein ‚Weiter’ genau das brauchen, die anarchistische Utopie und den Fundus syndikalistischer und direkter Mittel.“
[1] Dabei wurde eine Ausstellung „Verraten und verkauft. Jüdische Unternehmen in Berlin 1933-1945“ stark beschädigt, was nicht hinnehmbar ist!
[2] Einen Überblick der Aktivitäten vor Ort gibt es auf der Homepage www.schulaction.org
[3] Ansätze dafür gibt es: Am 13. Dezember fand in Kassel ein SchülerInnenkongress statt. Hauptpunkt war: Wie und womit weiter nach dem Streik? An dem Kongress nahmen auch libertäre AktivistInnen teil.
Aktiv werden: Die AG Jugend der FAU
Die AG Jugend ist seit dem vergangenen FAU-Kongress mit der Vernetzung von Jugendlichen, die in der FAU organisiert sind, beschäftigt. Angestrebt ist der Austausch und darauf aufbauend Möglichkeiten libertärer/anarchosyndikalistischer Organisierungsformen für Jugendliche zu schaffen. Die AG befindet sich mit ihrer Diskussion in der Frühphase, die Vernetzung soll weitergehen. Für Interessierte sind wir unter jugend(a)fau.org zu erreichen.
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