Betrieb & Gesellschaft

Bildung ein Menschenrecht? Freie Bildung ein Verbrechen?

Die deutschen Schulgesetze kriminalisieren die Anwendung alternativer Schulmodelle

Anfang Februar sorgte weit über die deutschen Grenzen hinaus ein Prozess in Bremen für Aufsehen, in dem Eltern zweier schulpflichtiger Kinder ihr Recht auf „Homeschooling“ einklagen wollten. Die Klage wurde abgewiesen, Prozesskostenhilfe wurde nicht gewährt und die Familie muss weiterhin im französischen Exil leben, weil freie Bildung in Deutschland illegal ist und strafrechtlich verfolgt wird.

Zwangsgelder, Entzug des Sorgerechts bis hin zu Freiheitsentzug drohen zum Beispiel all jenen, die ihre Kinder nicht in die Schule zwingen wollen. Mittlerweile fliehen immer mehr Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter ins europäische Ausland um staatlicher Repression und Zwangsmaßnahmen zu entgehen und ihren Kindern ein würdevolles selbstbestimmtes Aufwachsen und Lernen zu ermöglichen.

Verfechter der deutschen Schulpflicht, die übrigens einmalig im europäischen Ausland ist und auf eine Gesetzgebung von 1937 (!) zurückgeht, führen in der Regel Argumente ins Feld, welche sich bei genauerem Hinsehen als hohle Phrasen entpuppen und leicht zu widerlegen sind. So wird zum Beispiel behauptet, dass nur religiöse Fundamentalisten ihre Kinder zu Hause unterrichten wollten; dass Kinder aus sozial schwachen Familien keine Chance mehr auf Bildung hätten… oder aber auch, dass Kinder nur faul herumsitzen und nichts tun würden, wenn kein Druck dahinter wäre.

Doch sind Kinder wirklich vor religiösem und fundamentalistischem Gedankengut geschützt – nur weil sie Regelschulen besuchen? Und haben Kinder aus dem sogenannten Prekariat wirklich gleiche Chancen und Lernbedingungen wie die finanziell besser gestellten? Wohl kaum. Und welches Kind konnte jemals unter Druck Lernfreude und Wissbegier erhalten? Schon seit Jahren erklären anerkannte Hirnforscher und Lerntheoretiker immer wieder, dass Lernen nur sinnvoll stattfinden kann, wenn es eine angenehme Lernsituation, ein positives Lernklima und keinerlei Druck gibt. Doch wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen die staatlichen Behörden nicht zu interessieren.

Ein weiteres Argument welches gerne genutzt wird, ist, dass den Kindern ohne Schulbesuch angeblich die sozialen Kontakte fehlten. Doch was sind diese Kontakte wirklich wert? Schule fördert selten ein soziales und solidarisches Miteinander, geschweige denn soziale Kompetenz. Durch Noten und Leistungsdruck wird einem Kind schon früh der Konkurrenzgedanke eingeimpft. Nur die Besten kommen weiter. Wer sich den undemokratischen und hierarchischen Strukturen nicht unterwirft, hat gelitten. Wer nicht die richtigen Klamotten an hat und bei der neusten Handymode nicht mithalten kann, wird nicht selten von MitschülerInnen gemobbt und gehänselt.

Wer sich nicht richtig konzentrieren kann, träumend aus dem Fenster guckt oder mal ein leeres Blatt abgibt, wer Hausaufgaben öfter vergisst oder keinen Handstand kann, wird von den LehrerInnen gemobbt, gedemütigt und mit schlechten Noten abgewatscht.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind ebenso wie die Psychologischen Beratungsstellen völlig überlaufen. Mangelndes Selbstwertgefühl, Versagensängste, Selbstmordgedanken, Zukunftsängste, Depressionen, selbstverletzendes Verhalten bis hin zu Amokläufen sind oft das Resultat einer Schulpolitik, die von vorne bis hinten versagt. Zunehmend kann ein/e SchülerIn den Alptraum Schule nur noch mit Medikamenten und Psychotherapie überstehen.

Es erfordert viel Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, sowie ein stabiles, wohlwollendes und unterstützendes Umfeld, wenn man die Schulzeit trotz allem möglichst unbeschadet überstehen will.

Kinder, die frei und selbstbestimmt aufwachsen und lernen können und von Anfang an gleichberechtigt aufwachsen und ernst genommen werden, können sich viel besser in soziale Strukturen integrieren und engagieren als jene, die in ein enges hierarchisches Korsett gepresst werden, das den ganzen Tag Anstaltslernen, Hausaufgaben und Nachhilfe vorsieht.

Es ist längst an der Zeit, das Schulpflichtgesetz über Bord zu werfen und selbstbestimmtes Lernen in Freiheit jedem zu ermöglichen, der das für sich in Anspruch nehmen will. Es kann nicht angehen, dass Familien (Kinder wie Eltern) kriminalisiert werden, weil sie eine andere Vorstellung von Lernen haben, als es der Staat für seine BürgerInnen vorsieht. Es braucht Orte, an denen angstfrei und ohne Druck gelernt werden kann. Das sind keine Schulen im traditionellen Sinn mehr, sondern Lernorte, die nach den Bedürfnissen der Lernenden ausgerichtet und ausgestattet sind. Lernorte, in denen alle Menschen gleichberechtigt und selbstbestimmt lernen können und an denen sie keinen Diskriminierungen – gleich welcher Art – unterworfen sind.

Freie und alternative Schulmodelle

Viele der alternativen Schulen sind mit Sicherheit angenehmere Orte als die staatlichen Schulen, aber auch sie sind von Lehrplänen, Unterrichtsinhalten, Erziehungs- und Lernzielen bestimmt. Auch in den Alternativschulen werden Leistungen der SchülerInnen beurteilt und in den seltensten Fällen sind die Rahmenbedingungen so gegeben, dass gleichberechtigt und hierarchiefrei gelernt werden kann.

Ein großes Problem ist auch die Finanzierung, weil nicht jeder Mensch über das Geld, das ihm für Bildung eigentlich zusteht, frei entscheiden kann. Alternativschulen sind oft auf Schulgeld angewiesen. Auch wenn sich die meisten Alternativschulen um soziale Lösungen bemühen, ist es Menschen mit geringem Einkommen selten möglich, einen Schulbesuch in einer freien Schule zu finanzieren.

Es gibt diverse Schulkonzepte, und nicht jede Alternativschule verdient den Stempel „freie Schule“ (z.B. Waldorfschulen oder freikirchliche Schulen, die großen Wert auf die Vermittlung eines bestimmten Wert- und Weltbildes legen, das mit einer libertären Vorstellung von Freiheit nichts gemein hat).

Ein Schulkonzept, das in den letzten Jahren immer mehr Beachtung findet und das Prädikat “freie Schule“ wirklich verdient, fällt unter den vielen Modellen auf: Die sogenannten Sudburyschulen (bzw. freie demokratische Schule).

Sudburyschulen

Weltweit gibt es mehr als 30 Schulen, die sich an dem Modell der Sudbury Valley School orientieren, die 1968 in Massachusetts gegründet wurde.

Eine Schulgründungsinitiative aus Berlin hat die wesentlichen Grundsätze so zusammengefasst:

  • Die Kinder und Jugendlichen entscheiden selbst, wie sie ihre Zeit verbringen.

  • Niemand wird gezwungen oder gedrängt, bestimmte Dinge zu lernen oder an bestimmten Aktivitäten teilzunehmen. Es gibt keinen Lehrplan.

  • Unterricht kommt nur zustande, wenn Schüler dies ausdrücklich verlangen

  • Schüler und Mitarbeiter sind gleichberechtigt.

  • Es gibt Regeln; diese werden von der wöchentlichen Schulversammlung, bei der jeder Schüler und jeder Mitarbeiter eine Stimme hat, diskutiert und per Mehrheitsentscheidung beschlossen. Regeln gelten für Schüler und Mitarbeiter gleichermaßen.

  • Ein von der Schulversammlung bestimmtes Justizkomitee untersucht Beschwerden über die Verletzung von Regeln und ist berechtigt, Strafen zu verhängen. Die Möglichkeit zur Berufung besteht.

  • Die Schulversammlung entscheidet in geheimer Wahl, wer im nächsten Jahr Mitarbeiter sein wird.

  • Es gibt keine Klassenstufen und keine Trennung nach dem Alter.

  • Es gibt keine fremde Bewertung – weder Zensuren, noch schriftliche Beurteilungen.

Da alle Schulen in Deutschland dem Schulgesetz unterworfen und an Pläne, Vorgaben und Prüfungsordnungen gebunden sind, ist eine kompromisslose Sudburyschule in Deutschland (noch) nicht möglich.

Mittlerweile gibt es aber auch in Deutschland einige Versuche, möglichst viel aus dem Sudbury-Konzept in alternative Schulprojekte zu integrieren, wie beispielsweise in der „Netzwerkschule“ in Berlin, der „Neuen Schule Hamburgs“ oder in der „Kapriole“ in Freiburg. Leider kommen auch diese Schulen nicht umhin, Kompromisse einzugehen.

Homeschooling

Beim Homeschooling geben in der Regel die Eltern die Richtung vor. Sie bestimmen, was und wann gelernt wird, gestalten ihre eigenen Lehrpläne, oder sie orientieren sich an staatlichen Lehrplänen. Homeschooling wird von Familien favorisiert, die mit dem Schulsystem nicht zufrieden sind und ihre Kinder vor menschenfeindlichen Bedingungen in öffentlichen Schulen schützen wollen. Ebenso sehen Menschen, deren Kinder aus physischen und psychischen Gründen in staatlichen Schulen nicht zurecht kommen, im Homeschooling eine Möglichkeit, bessere Bedingungen für ihre Kinder zu schaffen. Homschooling ist i.d.R. stark pädagogisch geprägt. Die Eltern bestimmen darüber was und wie gelernt wird. Allerdings kann dies (je nach Elternhaus) in einer vertrauten angstfreien Atmosphäre stattfinden und das Tempo kann individuell dem Lerntempo des Kindes angepasst werden.

(Homeschooling ist bis auf ganz wenige zustimmungspflichtige Ausnahmegenehmigungen in Deutschland verboten – und wird strafrechtlich verfolgt).

Unschooling

Die fortschrittlichere und hier eher unbekannte Variante des freien und selbstbestimmten Lernens ist das „Unschooling“.

Unschooler gehen davon aus, dass der Mensch von Geburt an das Bedürfnis hat, sich frei zu entwickeln, und dass er wiss- und lernbegierig ist (intrinsische Motivation). In einer anregenden Umwelt gibt es viele Möglichkeiten, sich zu bilden, so dass kein Unterricht nötig sei. Kinder lernen auch ohne Schule laufen und lesen, rechnen und einen Computer zu bedienen. Sie sind von Geburt an wissbegierig, neugierig und haben einen natürlichen Forscherdrang, den sie sich ihr Leben lang erhalten können, wenn die Lust am Lernen nicht durch Erziehung und Schule zerstört wird. Unschooler bestimmen selbst, was, wann und wo sie lernen. Es gibt keine starren Regeln, keine Lehrpläne und keine Hierarchien. Beim Unschooling sind Eltern und Bezugspersonen nicht LehrerInnen, sondern Lernbegleiter. Sie beraten und unterstützen vielmehr und zwängen den Kindern nicht ihre eigenen Ideen auf.

(Unschooling ist in Deutschland verboten – und wird strafrechtlich verfolgt).

Lernorte mit wirklich emanzipatorischen Konzepten werden aufgrund einer reaktionären kinder- und lernfeindlichen Schulgesetzgebung nicht genehmigt und zugelassen, weil in Deutschland nicht sein kann, was nicht sein darf. Doch davon sollte mensch sich nicht abschrecken lassen. Das Recht auf freie Bildung ist ein Menschenrecht – wir sind es den kommenden Generationen schuldig dafür zu kämpfen. Ein Leben und Lernen in Freiheit ist möglich.

Tine Tischer KL

Links:

leben-ohne-schule

www.unschooling.de

Homeschooling in Deutschland

www.homeschooling.de

Sudbury-Schulen in Deutschland

www.sudbury.de

Tologo-Verlag (diverse Bücher zum Thema)

www.tologo.de

AndersLautern (unter „Anders-schule“ diverse Links und Beiträge zum Thema „Schule“)

http://neues-auf.anderslautern.de/index.php?n=Leben.AndersSchule

 

 

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Die Redaktion der Direkten Aktion.

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