Lebrija ist eine kleine Stadt südlich von Sevilla mit etwa 26.000 EinwohnerInnen. Von diesen sind 5.200 erwerbslos, was vor allem daran liegt, dass ein relativ großer Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeitet und dort im Winter nicht gebraucht wird. Ein anderer Grund ist, dass in der Baubranche – einem in Südspanien sehr wichtigen Wirtschaftszweig – infolge der Finanzkrise viele Arbeitsplätze gestrichen wurden. Diesem Abschwung versucht die spanische Zentralregierung mit einem massiven Infrastrukturprojekt zu begegnen, das durch öffentliche Investitionen Aufträge für private Bauunternehmen schaffen soll. Im Fall von Lebrija geht es konkret um 4,5 Mio. Euro, die die Stadt von der Zentralregierung als Hilfe gegen die Folgen der Finanzkrise erhält. Die Bürgermeisterin María José Fernández (PSOE) plant, damit den Bau eines unterirdischen Parkhauses in der Stadt. Dieses Projekt soll etwa 30 Arbeitsplätze schaffen. In Anbetracht der extremen Arbeitslosigkeit in Lebrija ist diese Investition jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
BewerberInnen auf einen der neu entstehenden Arbeitsplätze stehen allerdings noch einem weiteren Hindernis gegenüber: dem „enchufismo“, der Vetternwirtschaft zwischen den regierenden Sozialdemokraten und den „offiziellen“ Gewerkschaften CCOO und UGT, die gemeinsam über die Einstellung von ArbeiterInnen für öffentliche Aufträge entscheiden. Alle BewerberInnen müssen eine schriftliche Prüfung ablegen, die für viele nicht zu bestehen ist. So bestanden bei einer Prüfung für Hilfsarbeiter auf dem Bau von 500 BewerberInnen nur 20, obwohl sich unter den Erwerbslosen Bauarbeiter mit jahrelanger Erfahrung befanden. Victoriano Vela, Sekretär der CNT Lebrija, erklärt, warum „immer die gleichen Arbeit bekommen“ und einzelne ArbeiterInnen schon nach wenigen Wochen Arbeitslosigkeit neue Jobs haben, während andere jahrelang vergeblich darauf warten: Denn PSOE, UGT und CCOO kontrollieren in Lebrija die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und schanzen Verwandten oder ihnen nahe stehenden ArbeiterInnen Jobs zu.
Auf Initiative der CNT gründete sich im Winter 2008/09 ein parteiunabhängiges Anwohnerkollektiv, das hauptsächlich aus Erwerbslosen besteht. Zusammen mit diesem Kollektiv erarbeitete die anarchosyndikalistische Gewerkschaft ein Konzept für eine gerechtere Verteilung der öffentlichen Aufträge. Dieses Modell sieht zwei Register vor, eines für LandarbeiterInnen und ein allgemeines, das wiederum nach Berufsgruppen unterteilt ist. Die Listen sollen allen Erwerbslosen offen stehen, ohne dass diese Prüfungen absolvieren müssen. Bedürftige werden bei der Jobvergabe bevorzugt. Außerdem soll die Arbeit zwischen den Erwerbslosen rotieren, damit alle die Gelegenheit haben zu arbeiten. Um den „enchufismo“ zu vermeiden, soll das Register von der CNT, dem Anwohnerkollektiv und dem Bürgermeisteramt kontrolliert werden, so dass die Sozialdemokraten nicht mehr alleine entscheiden könnten, wer die Arbeit bekommt. Diese Forderung mag nicht sonderlich revolutionär klingen, in Spanien reicht das Arbeitslosengeld allerdings nicht aus, um Mieten oder Hypotheken abzubezahlen oder auch nur um die eigenen Kinder ausreichend versorgen zu können, weshalb der materielle Druck auf die Erwerbslosen enorm ist. Insofern geht es bei diesem Konflikt nicht darum, die Ausbeutung selbst organisieren zu dürfen oder gar um das Recht auf Lohnarbeit, sondern um den Zugang zu einer der wenigen Einnahmequellen, die es in Lebrija gibt.
Die Bürgermeisterin zieht sich aus der Verantwortung für das von ihrer Behörde und den „offiziellen“ Gewerkschaften (UGT, CCOO) kontrollierte Verfahren zur Jobvergabe, indem sie darauf verweist, dass die Vorgaben von der ebenfalls sozialdemokratischen Regionalregierung kämen.
Um ihr Konzept den EinwohnerInnen von Lebrija vorzustellen, luden CNT und Anwohnerkollektiv am 31. Januar dieses Jahres zu einer Infoveranstaltung in das Kulturzentrum von Lebrija. Das Thema stieß auf reges Interesse und nach der Veranstaltung zogen die 250 Anwesenden vor das Rathaus, um das von der CNT entworfene Register zu fordern. Die nächsten Demonstrationen Anfang Februar brachten bis zu 2.500 Menschen auf die Straße, immerhin 10% der EinwohnerInnen der Kleinstadt. Im Zuge der allgemeinen Mobilisierung sprangen auch die Oppositionsparteien PA und PP auf den Zug auf und beteiligten sich an den Demonstrationen. Vor allem im Fall der postfaschistischen PP ist die Unterstützung aber wohl eher der Versuch, selbst einen Fuß in die Rathaustür zu stellen, als ein Zeichen der Solidarität mit den Erwerbslosen. Den Konservativen fällt es schwer, im traditionell linken Lebrija, das schon während der Franco-Diktatur Schauplatz von Landarbeiteraufständen war und seit der Einführung der Demokratie stets von PSOE oder PA regiert wurde, Fuß zu fassen. Anscheinend sehen sie die Proteste gegen die sozialdemokratische Bürgermeisterin als Mittel, an Wählerstimmen zu kommen. Ramón Vargas, Landarbeiter und Sprecher des Anwohnerkollektivs, hat der Vereinnahmung des Protestes für parteipolitische Zwecke jedoch eine klare Absage erteilt. Bei einer Pressekonferenz stellte er klar, dass die Bewegung „keinen politischen, sondern einen sozialen Kampf“ führt, der sich nicht gegen eine bestimmte Partei richtet und im Umkehrschluss auch nicht bestimmten Parteien nützen soll.
Medien, Gewerkschaften und „linke“ Parteien gegen den Streik
Die Bürgermeisterin zeigte sich trotz der Demonstrationen und der Unterstützung der Proteste durch Parteien nicht kompromissbereit. Deshalb rief die CNT für den 18. Februar den Generalstreik aus. Von Anfang an versuchten PSOE, IU und die ihnen nahestehenden Medien und Verbände mit allen Mitteln, den Generalstreik zu verhindern. Am Tag vor dem Streik unterzeichnete ein Bündnis aus CCOO, UGT, PSOE, IU, Unternehmerverbänden, landwirtschaftlichen Betrieben und allen lokalen Medien ein Manifest gegen den Streik, das letztere auch eifrig verbreiteten. So füllte die Lokalzeitung El periódico de Lebrija – Viva Lebrija ganze sechs Seiten mit Artikeln und Kolumnen zum bevorstehenden Generalstreik, in denen entweder die CNT und ihr Sekretär Vela diffamiert oder vollmundig das Scheitern des Streiks angekündigt wurde. Der Fernsehsender Lebrija TV hatte sich schon während der ersten Demonstrationen für seine Berichterstattung den Zorn der DemonstrantInnen zugezogen, die vor dem Sitz des Lokalsenders „Televisión manipulación“ („Fernsehmanipulation“) skandierten. Ebenso wie die anderen Medien hatte der Sender die Demonstrationen kleingeredet. Bezeichnend für die Medienlandschaft Lebrijas ist die Tatsache, dass die wöchentlich erscheinende Lokalzeitung jedes Jahr 150.000 Euro aus dem Rathaus für Werbung erhält. In einer in derselben Zeitung veröffentlichten Kolumne hetzte Manolo Naranjo, der Besitzer des Lokalradios Radio Punto, noch unverblümter gegen die CNT als andere JournalistInnen. Er verortet die „anarchistische Organisation“ politisch „rechts“, was angeblich der Grund für das „Bündnis“ zwischen den Konservativen und der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft sei. Andere JournalistInnen beschworen den Zusammenhalt der Stadtbevölkerung in Krisenzeiten, vor allem gegen die „von außen“ kommende CNT, die in Lebrija nichts verloren habe. In überregionalen Medien fanden die Proteste keine Beachtung.
Neben der Mobilisierung befreundeter Medien setzte die Bürgermeisterin auch auf direkte Einschüchterung potentiell Streikender. Beispielsweise berief sie Versammlungen der BäckerInnen und MarktverkäuferInnen Lebrijas ein, bei denen sie zusammen mit CCOO und UGT die ArbeiterInnen zur Nichtteilnahme am Streik drängte. Außerdem wurden vom Rathaus aus zahlreiche Faxe an Firmen und Schulen geschickt, in denen zur Nichtbeteiligung aufgerufen wurde. In Flugblättern der Sozialdemokraten, der UGT und der CCOO wurde weiterhin behauptet, die CNT zwinge Leute zu streiken, während man an die Ausübung des „Rechtes“, arbeiten zu gehen, appelliert. Für die Erwerbslosen Lebrijas gilt dieses Recht jedoch ohnehin nicht, denn die wenigen vorhandenen Jobs bekommen nur diejenigen, die PSOE, CCOO und UGT nahe stehen.
Am Streiktag selbst wurde von sechs Uhr morgens an praktisch die ganze Stadt lahm gelegt. Ein aus rund 1.700 Menschen bestehender Demonstrationszug zog durch die Straßen, ganze Familien, von Kindern bis zu Großeltern, beteiligten sich an der Demonstration oder an den Streikposten. Geöffnet blieben lediglich eine Tankstelle, drei Cafés und Kneipen, der Markt, auf dem acht Familien Obst verkauften, und der örtliche Mercadona-Supermarkt. Letzteres ist nicht überraschend, da die Supermarktkette für ihren gewerkschaftsfeindlichen Kurs bekannt ist – momentan führt die CNT Arbeitskämpfe in mehreren Mercadona-Filialen in ganz Spanien. Großen Umsatz machen konnte Mercadona trotz der Öffnung nicht, denn eine aus etwa 80 Menschen bestehender Streikpostenkette blockierte den Eingang des Supermarktes, so dass kaum KundInnen in den Laden gelangten. Die anderen drei Supermärkte, auch Filialen von überregionalen Ketten, sowie alle Banken waren von vornherein geschlossen geblieben. Vor dem Generalstreik war keine Gewerkschaft in der Lage gewesen, die Supermärkte zu bestreiken. Einige Schulen wurden zwar nicht bestreikt, allerdings wurde vonseiten der Streikenden nicht versucht, sie zu schließen, weil viele EinwohnerInnen Lebrijas außerhalb arbeiten und ihre Kinder sonst nirgendwo hätten unterbringen können. Am Abend verkündete die Streikleitung, dass sich 90% der ArbeiterInnen in Lebrija am Streik beteiligt hätten, einige Medien geben die Streikbeteiligung sogar mit 95% an. Trotz der Einschüchterungen durch die Polizei, die sowohl uniformiert als auch in zivil in der Stadt patroullierte und alle Zufahrten nach Lebrija bewachte, und der Hetzkampagne der Medien, Staatsgewerkschaften und SozialdemokratInnen kann der Streik als voller Erfolg bezeichnet werden.
Ein Beispiel, das Schule machen könnte
Die Ausgangslage für die Proteste in Lebrija, also die Vetternwirtschaft im Rathaus und die hohe Arbeitslosigkeit, ist in Andalusien keine Ausnahme. Das einzige was Lebrija von anderen Städten unterscheidet, ist die kampferprobte und relativ große CNT-Ortsgruppe, die die Proteste initiiert hat. Doch auch woanders regt sich Widerstand: Seit die Zentralregierung angekündigt hat, massive Investitionen in die Infrastruktur zu finanzieren, um die Wirtschaft anzukurbeln, hoffen viele Erwerbslose in Andalusien wieder auf einen Job. Eine Hoffnung, die oft enttäuscht wird, weil die Regierungsparteien und „offiziellen“ Gewerkschaften nicht nur in Lebrija die Arbeitsplätze ihren Mitgliedern zuschieben. So haben sich beispielsweise am 19. Februar Erwerbslose im Rathaus von Martín de la Jara, auch in der Nähe Sevillas, verbarrikadiert und eine gerechtere Verteilung der Gelder aus dem Antikrisenprogramm gefordert. In mehreren Dörfern und Kleinstädten gab es Demonstrationen, wie in Dos Hermanas bei Sevilla und in El Cuervo, einem Nachbardorf von Lebrija. Die CNT Lebrija steht auch mit anderen Dörfern in Kontakt, in denen Infoveranstaltungen zu den Protesten in Lebrija stattfinden werden und in denen die Bevölkerung selbst etwas ähnliches wie dort auf die Beine stellen möchte.
In Lebrija selbst ist es noch unklar, wie die Proteste weitergehen, denn trotz des Generalstreiks ist die Bürgermeisterin nicht auf die Forderungen der Streikenden eingegangen – auch ernsthafte Verhandlungen hat sie nicht angeboten. Die CNT Lebrija erwartet von ihr in dieser Hinsicht auch keinen baldigen Gesinnungswandel. Ihre Amtszeit dauert voraussichtlich noch zwei Jahre, und solange sie von ihrer eigenen Partei und deren Koalitionspartner IU unterstützt wird, kann sie trotz allen öffentlichen Drucks noch bis zu den nächsten Wahlen weiterregieren. Und selbst wenn eine andere Partei an die Macht kommt, dürfte das an der Vetternwirtschaft nicht viel ändern. Die CNT hat aber bereits angekündigt, dass sie bis zum Schluss kämpfen wird. Viel zu verlieren haben die Protestierenden, von denen ein Großteil erwerbslos ist, ohnehin nicht.
Daniel Colm
Die CNT Lebrija braucht dringend Geld, um ihren Kampf weiterführen zu können. Deshalb hat sie ein Solikonto eingerichtet:
IBAN: ES49 2100 2615 1101 1029 4467
BIC: CAIXESBBXXX
Erklärung der Abkürzungen der Partei- und Organisationsnamen:
CCOO – Comisiones Obreras (Arbeiterkommissionen): der kommunistischen Partei nahe stehende „offizielle“ Gewerkschaft
IU – Izquierda Unida (Vereinigte Linke): Vereinigung mehrerer linker Parteien, u.a. der Kommunistischen Partei und der Grünen
PA – Partido Andalucista (Andalusische Partei): „Linksnationalistische“ andalusische Partei, die für Andalusien einen ähnlichen Autonomiestatus wie den Kataloniens oder des Baskenlandes anstrebt
PP – Partido Popular (Volkspartei): Konservative Partei, 1989 aus der Vereinigung der postfaschistischen Alianza Popular und der Liberalen Partei hervorgegangen
PSOE – Partido Socialista Obrero Español (Sozialistische Spanische Arbeiterpartei): Sozialdemokratische Partei
UGT – Unión General de Trabajadores (Allgemeine Arbeiterunion): der PSOE nahe stehende „offizielle“ Gewerkschaft