Das systematische Geschäft mit Erwerbslosen am Beispiel der Berliner Beschäftigungsindustrie
Als die Freie ArbeiterInnen Union (FAU) Berlin im November letzten Jahres ihre Soli-Kampagne für Oliver W. begann, konnte sie nicht ahnen, welcher Morast sich vor ihr auftun wird. Das FAU-Mitglied war beim Beschäftigungsträger ZIM gGmbH1 in Reinickendorf u.a. wegen kritischer Äußerungen aus einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM)2 gekündigt worden. Infolge dessen wurde er vom Jobcenter mit einer Kürzung seiner Arbeitslosengeld II-Bezüge3 belegt (siehe DA Nr. 191). Zunächst forderte die FAU von der ZIM die Rücknahme der Kündigung, schließlich eine Entschädigungszahlung für Olis finanzielle Verluste. Trotz vielfältiger Versuche, Druck auf die ZIM auszuüben, konnte diese bis heute nicht zum Einlenken bewegt werden. Dies hat vielfältige Gründe, u.a. aber ist die ZIM Teil eines Komplexes, der mit allen Wässern gewaschen ist. Denn die Berliner Beschäftigungsindustrie ist äußerst komplex, Seilschaften und Abhängigkeiten bestimmen ihre Struktur – und vor allem stinkt sie bis zum Himmel.
600 Mio. Euro durften die zwölf Berliner Jobcenter im letzten Jahr ausgeben, wovon ein beträchtlicher Teil in die Beschäftigungsindustrie floss, in der zuletzt 32.700 Erwerblose, vorwiegend in MAE (Ein-Euro-Jobs) oder ABM beschäftigt wurden. Träger sind zum einen große Sozialkonzerne mit ständigen Maßnahmen im Tausenderbereich, zum anderen kleine- oder mittlere Unternehmen (KMU) wie die ZIM (ca. 110 ABM im Jahr). Diese erhalten für jeden von ihnen betreuten Erwerbslosenfall Pauschalen von bis zu 500 Euro monatlich durch das Jobcenter. Allein die ZIM dürfte dadurch, niedrig geschätzt, Einnahmen von 200.000 Euro im Jahr haben. Flankiert wird dies von einer Ko-Finanzierung durch drei senatsbeauftragte Servicegesellschaften, die sich in der Comovis GbR vereinigt haben. Auch ihnen werden jährlich öffentliche Gelder, schätzungsweise im dreistelligen Millionenbereich, überlassen, um damit Beschäftigungsprojekte zu finanzieren. Allein eine von ihnen, die SPI Consult, fördert so jährlich ca. 350 Unternehmen in Berlin. Diese Zahlen verdeutlichen: es handelt sich um einen lukrativen Markt.
Kein Wunder, dass viele Unternehmer dies als Geschäftsfeld entdeckt haben. Von mehreren Wirtschaftsunternehmen ist bekannt, dass sie sich seit Hartz IV im Beschäftigungssektor eingenistet haben, um dort Finanzspritzen für ihr Stammgeschäft abzugreifen. Zudem werden Kleinunternehmer und Existenzgründer von Servicegesellschaften wie die der Comovis explizit dazu ermuntert, auf diesem Gebiet tätig zu werden. Nicht umsonst spielt in den Publikationen zur Beschäftigungsförderung die „Förderung des Wirtschaftswachstums“ im KMU-Bereich eine wichtige Rolle. Der Ergeiz mancher Akteure nimmt dabei geradezu mafiöse Züge an: Viele der Beschäftigungsprojekte existieren offensichtlich nur zum Schein zwecks Abzocke der Fördergelder.
So finden sich viele Erwerbslose häufig in völlig sinnlosen Beschäftigungstherapien wieder. In anderen Fällen werden sie überhaupt nicht beschäftigt und sitzen ihre Zeit ab. Oder sie werden sogar als Arbeitskräfte im Stammgeschäft des Betriebes oder bei befreundeten Unternehmen eingesetzt. Solche Berichte von Betroffenen gibt es zu Haufe. Aufgemuckt wird dennoch nicht, denn ihre Situation ist äußerst kritisch. Fast aller Arbeitsrechte beraubt und von Sanktionen bedroht, befinden sie sich eingekeilt zwischen Beschäftigungsträger und Jobcenter, wovon sich keiner mehr klar verantwortlich machen lässt bei Problemen. Wer das Maul aufmacht, riskiert eine Kündigung, die dem Amt den Vorwand für eine Kürzung liefert. Fechtet man dies an, verweisen beide Seiten auf die jeweils andere. Eben diese Zwickmühle versuchte die FAU Berlin im Fall von Oli W. zu durchbrechen, indem sie die ZIM direkt in die Pflicht nahm.
Zwar besitzt die Bundesarbeitsagentur extra Ressorts, die nachprüfen sollen, ob in den Projekten alles ordnungsgemäß läuft, deren Effektivität ist jedoch äußerst zweifelhaft. Als im letzten Jahr mehrere Missbrauchsfälle in Berlin bekannt wurden, fand z.B. ein Journalist heraus, dass diese Prüfstellen i.d.R. nur Mahnungen versenden. Ob und wie viele Sanktionen womöglich doch gegen „schwarze Schafe“ verhängt wurden, darüber legte die Agentur bisher nichts offen. Ein hartes Durchgreifen scheint auch nicht gewünscht zu sein, darauf verweisen schon die Verhältnisse bei der Geldervergabe: welche Unternehmen wie viel Geld erhalten, auf welcher Grundlage dieses von Jobcentern und Servicegesellschaften genehmigt wird und wie überhaupt diese verteilenden Körperschaften kontrolliert werden, all das ist kaum in Erfahrung zu bringen. Die Undurchsichtigkeit ist offensichtlich gewünscht.
Die Beschäftigungsträger sind gut organisiert. Eigene Interessenvertretungen machen für sie Lobbyarbeit und feilschen um Gelder für Projekte, untereinander sind sie häufig partnerschaftlich vernetzt; und auch die Servicegesellschaften erklären sich mit den Interessen der süßen KMU verbunden (Belange der Erwerbslosen spielen keine Rolle). Zudem werden sie gedeckt durch die Verwicklungen anderer sozialer Akteure: So wirkt der Paritätische unterstützend auf sie, während Arbeitnehmervertretungen des DGB in sozial- und marktpolitischen Gremien die allgemeinen Rahmenbedingungen für sie mitverantworten. Für die Zustände in den Projekten selbst sieht sich dagegen keiner von ihnen verantwortlich. Das sei ausschließlich Sache des Trägers selbst, wie es der FAU Berlin mehrfach im Falle der ZIM mitgeteilt wurde.
Auf diese Weise existiert in Berlin ein grauer Markt, der nur von öffentlichen Subventionen lebt. Angeblich gemeinnützige Unternehmer kassieren hier Millionenbeträge in Form von Kopfpauschalen, indem sie mit den Existenzen Tausender Erwerbsloser jonglieren. „Gegengeleistet“ wird nicht viel. Der Bundesrechnungshof bestätigte z.B. 2008, dass drei von vier Ein-Euro-Jobbern ihre Beschäftigung nichts gebracht habe. Im Gegenteil: Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung besagt, dass Langzeitarbeitslose ohne MAE sogar schneller und häufiger „vermittelt“ wurden.
Eher werden Millionen zum Fenster rausgeschmissen, als dass Erwerbslose ohne größeren Stress zu ihren Bezügen kommen („Es gibt nichts geschenkt!“). Dass es sich dabei um ein gutes Instrument zur Schönung von Arbeitsmarktstatistiken handelt, weiß die halbe Republik. Darüber hinaus ist das, was die Beschäftigungsgesellschaften „erwirtschaften“, eine weitere Umverteilung von unten nach oben. Zur Illustration: Würden die betreffenden öffentlichen Gelder auf die Arbeitslosengelder aufgeschlagen werden, hätten 200.000 Erwerbslose mehrere hundert Euro mehr im Monat. So aber kassieren ein paar Wenige Millionenbeträge.
Die FAU Berlin wird in kommender Zeit versuchen, diese Zustände breiter zu thematisieren und mit anderen sozialen Kräften politischen Druck auf die Beschäftigungsindustrie auszuüben. Dem Fall von Oli W. wird dabei weiterhin eine zentrale Bedeutung zukommen.
Holger Marcks
Anmerkungen:
[1] gGMBH ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, der besondere Steuervergünstigungen gewährt werden.
[2] ABM Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit von der Arbeitsagentur bezuschusste Tätigkeiten, um Arbeitssuchenden bei der Wiedereingliederung in eine Beschäftigung zu helfen oder ein geringes Einkommen zu sichern.
[3] Arbeitslosengeld II (ALG II) ist die Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige nach dem SGB II. Es wurde in Deutschland zum 1. Januar 2005 durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt eingeführt und wird deshalb umgangssprachlich oft auch als „Hartz IV“ bezeichnet.
[4] MAE Mehraufwandsentschädigung
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