Ein Interview mit AktivistInnen der Antiautoritären Bewegung Thessaloníki
Zwei Monate ist es her, dass eine Art sozialer Aufstand den Alltag in großen Teilen Griechenlands für mehrere Wochen zum Erliegen brachte. Der Mord an Aléxandros Grigorópoulos am 6. Dezember 2008 durch Polizisten brachte die unter der Oberfläche köchelnde Wut vieler Griechen über prekäre Lebensbedingungen und mangelnde Zukunftsperspektiven zur Explosion.
Nun, einige Zeit danach, führte die DA ein Interview mit GenossInnen der Antiautoritären Bewegung Thessaloníki (AK) über die Entwicklungen der letzten Wochen. Die AK ist ein griechenlandweites Netzwerk mit antiautoritären Strukturen. Sie hat in der Vergangenheit aktiv an vielfältigen Kämpfen von Werktätigen, Studierenden und MigrantInnen teilgenommen, hat sich an Bürgerkomitees beteiligt, Gefangene und ihre Angehörigen unterstützt, war an Bewegungen gegen staatliche Repression sowie Kämpfen für die Freiheit und gegen ökologische Zerstörung beteiligt. Charakteristisch für die AK ist, dass sie nicht nur AnarchistInnen umfasst, Entscheidungen aber immer offen und direkt-demokratisch getroffen werden.
DA: Nach den Kämpfen im Dezember hat sich die Situation in Griechenland, soweit wir es beurteilen können, nach und nach beruhigt. Seit Februar hören wir nichts mehr. Ist es so ruhig oder gärt es noch und von Aktionen wird einfach nicht berichtet?
AK: Genau so ist es. Was alle Welt durch die Bilder von Auseinandersetzungen, die in den Massenmedien gezeigt wurden, mitbekam, hat drei bis fünf Tage gedauert. Was eine viel größere Bedeutung als die Revolte selbst hat – denn die bricht von alleine aus, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen, ist, dass die Charakteristika der Revolte tatsächlich systemfeindlich, bullenfeindlich und antiautoritär waren, und dass sie hunderttausende Menschen umfasste, die mit Gewalt oder gewaltfrei auf die Straße gingen. Diese Charakteristika sind das Ergebnis der „Impfung“ der griechischen Gesellschaft durch die Worte und Taten der anarchistischen/antiautoritären Bewegung seit 1974 (Sturz der Militärjunta, d.Ü.). Wir sind absolut sicher, und das macht alles noch positiver, dass nach dem Aufstand nichts mehr so sein wird wie zuvor. Weder für das System, noch für die Gesellschaft und schon gar nicht für die Bewegung. Wir würden sagen, dass sich alles zugunsten der Aufständischen verändert hat. Das wichtigste, und das haben bisher nur wenige erkannt, ist, dass die gesamte Gesellschaft während des Aufstands zum ersten Mal ihre Augen und hauptsächlich ihre Ohren tatsächlich den AnarchistInnen/Antiautoritären zugewandt hatte. Der Beweis sind hunderte Besetzungen öffentlicher Gebäude, die bis heute tagtäglich stattfinden, die Vollversammlungen in den Universitäten, den Stadtvierteln, den Komitees und natürlich die massenhafte Beteiligung und die Frische, die eine ganze Generation 15-jähriger der Bewegung geschenkt hat. Dass nichts mehr ist wie zuvor, konnten wir auch am einzigartig brutalen Säureanschlag der von Arbeitgeberseite geschickten Schläger auf die Gewerkschafterin Konstantina Kouneva sehen, und vor allem an den Kämpfen, die erst nach dem Aufstand begannen. Die Bauern blockierten – wie fast jedes Jahr – die Nationalstraßen, um gegen die staatliche Landwirtschaftspolitik zu demonstrieren. Aber erstmals zeigten sie die Neigung, sich der Bevormundung durch die Parteien zu entziehen. In nie gesehener Weise lieferten sie sich im Hafen von Piräus zwei Tage lang Auseinandersetzungen mit den MAT-Einheiten (vergleichbar mit dem SEK, d.Ü.), als diese sie an einer Traktordemonstration durch Athen hinderten. Das Bemerkenswerteste was momentan in Richtung gesellschaftlicher Befreiung stattfindet, ist jedoch der Kampf um einen Park im Athener Stadtteil Kypséli. Dort ließ die Stadt am 2. Februar um vier Uhr früh mit Bulldozern unter dem Schutz von MAT-Einheiten 45 Bäume im einzigen kleinen Park weit und breit fällen. Die Herrschenden der Stadt ließen dann die Stümpfe der gefällten Bäume von den MAT-Einheiten bewachen. Dies und die Tatsache, dass an Stelle des Parks ein fünf Stockwerke in die Erde reichendes Parkhaus gebaut werden soll, erregte wilde Empörung bei den AnwohnerInnen. Mit Hilfe vieler AnarchistInnen und Linksradikaler griffen sie die Bullen an, besetzten den Park und schafften es mit Versammlungen, Kundgebungen, Konzerten, Fahrraddemos, Baumpflanzaktionen und Straßenschlachten vor dem Rathaus, einen Baustopp zu erzwingen.
DA: Nach dem Mordanschlag auf Konstantina Kouneva entwickelte sich eine große Solidaritätsbewegung. Wie ist ihre gesundheitliche Lage momentan?
AK: In der Nacht zum 23. Dezember lauerten ihr vier Männer in grauen Uniformen auf, schütteten ihr Vitriol-Säure ins Gesicht und zwangen sie, das Zeug zu schlucken. Sie wird für immer ein entstelltes Gesicht haben, ist auf einem Auge blind, und ihre Stimmbänder und die Speiseröhre wurden durch die Säure zerstört. Sie wird wohl nie wieder sprechen können, und noch ist auf Grund der Schädigung ihrer inneren Organe unklar, ob sie jemals wieder normal wird essen können oder ob sie für immer über Schläuche künstlich ernährt werden muss. Die sie betreuende Psychiaterin, Katerína Mátsa, betont, dass es ein Mordanschlag war. Mittlerweile hat sich ihr Gesundheitszustand verbessert. Die Transplantation lebenswichtiger Organe hat erfolgreich begonnen und es herrscht Zuversicht, dass ihre Gesundheit – speziell wegen ihrer psychischen Kraft – letztendlich zu einem großen Teil wiederhergestellt werden kann. Wir müssen betonen, dass die Hauttransplantationen im Gesicht und die Transplantationen innerer Organe unendlich viel Geld kosten, das von der Bewegung durch Spenden und Solidaritätsveranstaltungen aufgebracht wird.
DA: Was geschieht momentan, auch von eurer Seite aus?
AK: Konstantina hat ihr Bewusstsein wiedererlangt und „kommuniziert“ mit ihren FreundInnen. Sie ist die tapferste und mutigste Frau in Griechenland und hat versichert, den Kampf fortzusetzen, sobald sie das Krankenhaus verlässt. Der Anschlag auf Konstantina hat das im Bereich der Lohnarbeit herrschende mittelalterliche Regime ins Scheinwerferlicht gerückt. Der Staat hat sich aus seiner Rolle als regelnde Kraft des Produktionsprozesses herausgezogen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen schuften in Unternehmen ohne Rechte, ohne geregelte Arbeitszeiten, ohne Freiheiten. Die Bosse erhalten öffentliche Aufträge mit horrenden Vergütungen und bezahlen Hungerlöhne. ArbeiterInnen, die sich gewerkschaftlich organisieren, werden entweder entlassen oder terrorisiert, und jetzt fangen sie an, sie auch zu ermorden. Man könnte sagen, was Konstantina angetan wurde, vermittelt ein Bild der Zukunft, mit Sklaven-ArbeiterInnen, die von den Bossen und dem organisierten Verbrechen Hand in Hand unter Kontrolle gehalten werden.
Die Solidaritätsbewegung hat vom ersten Moment an unterschieden zwischen den ausführenden Tätern und den Anstiftern dieses Verbrechens. Die ausführenden Mörder sind das Unternehmen OIKOMET, wo Konstantina und 2.000 anderer LeiharbeiterInnen beschäftigt sind, und ihre mafiösen Handlanger. Die Anstifter sind die staatstragenden Gewerkschaften, die zur Durchsetzung feudalistischer Arbeitsgesetze in den Unternehmen und zum legalen Sklavenhandel von Arbeitnehmern ihre Zustimmung geben. Deshalb zielten und zielen alle politischen Aktionen, Besetzungen, Sabotageakte auf diese Verantwortlichen. Momentan findet zum Beispiel ein Kampf zur Aufhebung der Verträge zwischen OIKOMET und der Universität Thessaloníki statt. OIKOMET erhält allein für die Reinigung der Universität 7 Millionen Euro jährlich, und bezahlt seinen Reinigungskräften 700 Euro im Monat. Was die Bullen betrifft, die haben die Ermittlungen eingestellt und behaupten, das Verbrechen sei eine Beziehungstat – ohne allerdings auch nur das geringste Indiz oder einen Verdächtigen benennen zu können.
DA: Wie hat die GSEE, der Zentralgewerkschaftsdachverband, auf die Besetzung der Arbeiterzentren reagiert?
AK: Ja, das ist auch so ein Punkt, wo der Dezember-Aufstand tatsächlich seine Spuren hinterlassen hat. In ganz Griechenland wurden dutzende Gebäude der GSEE für Tage oder Wochen besetzt. Schon die Vorstellung, solche Aktionen in der Zeit vor dem Aufstand durchzuführen, wäre uns unmöglich, wenn nicht gar lachhaft erschienen. Hätten wir sie trotzdem durchgeführt, wären wir sicher mit gewalttätigen Reaktionen von Seiten der Gewerkschaftsbosse und auf jeden Fall von denjenigen, die der KKE (KP-Griechenland, d.Ü.) angehören, konfrontiert gewesen, was letztlich jedoch unter dem Gewicht der breiten gesellschaftlichen Zustimmung und allgemeinen Anteilnahme, auch der Teilnahme von ArbeiterInnen, unmöglich war. Die hauptsächliche Ursache hierfür ist, dass sich die ArbeiterInnen, dass sich eigentlich alle von der systematischen, dauerhaften Unterwürfigkeit der staatstragenden Gewerkschaften angeekelt fühlen. Absolut bezeichnend ist die Haltung der GSEE im Fall Kouneva. Alle ArbeiterInnen, die ganze Bewegung und sehr viele JournalistInnen sprechen ganz klar von einem Mordanschlag der von Arbeitgeberseite beauftragten Schläger. Die GSEE hingegen versteckt sich hinter der Behauptung der Polizei, dass es nicht klar sei, ob es sich um einen Fall mit „gewerkschaftlichem Hintergrund“ handele. Ihre Begründung dafür ist, dass wir uns hier in Griechenland befänden und „nicht in Kolumbien, wo Morde an Gewerkschaftern eine Tatsache“ seien.
DA: Gibt es in dem Zusammenhang Bestrebungen, unabhängige, radikale Betriebsgruppen oder Gewerkschaften zu gründen? In Deutschland war etwas über Organisationen im Bildungsbereich und bei Medienschaffenden zu hören.
AK: Na klar! Solche Bestrebungen gibt es schon länger und die werden natürlich fortgesetzt. Leider wurden sie bisher nicht von der breiten Masse der Arbeiterschaft aufgegriffen. Es gibt das Problem, dass diese Syndikate sich als gewerkschaftliche Gruppen verstehen, die zugleich als spezielle politische Gruppen wirken, was ihre gesamtgesellschaftliche Ausrichtung einschränkt. So gibt es außer den an Parteien orientierten Gewerkschaften auch linksradikale und die anarchosyndikalistische ESE. Sie sollten sich jedoch auch für Arbeiter und Arbeiterinnen öffnen, die keine Linksradikalen oder AnarchosyndikalistInnen sind. Der Punkt ist – und möglicherweise nimmt dies auf Grund der Ereignisse gerade Gestalt an, dass es mehr Berufsvereinigungen „von unten“, also über schon „politisierte“ Leute hinausgehende Syndikate für alle Interessierten geben müsste. Momentan werden es tatsächlich mehr. Beispielhaft ist die Gewerkschaft der Reinigungskräfte und Haushaltshilfen im Großraum Athen, in dem Kouneva organisiert ist, aber natürlich auch der Bildungsbereich. Dort ist es immens wichtig, eine Neubestimmung des Bildungsauftrags und der Inhalte der vermittelten Bildung vorzunehmen, etwas, das unserer Meinung nach im Bereich des Journalismus ansatzweise gelang. Die anhaltende Kritik von MedienarbeiterInnen, gerade an der staatstragenden Rolle der Massenmedien, hat in der Gesellschaft und auch in der Szene zu einer Neubewertung des Journalismus geführt. Die Demoparole „Penner, Spitzel, Journalisten“ der 80er und 90er Jahre hat sich weitestgehend überholt, weil es nun mehr „kämpfende“ JournalistInnen gibt, die ihre Haltung mit Verhaftungen und Verletzungen bezahlen. Ein Wandel, den kämpferische Mediensyndikate erreichten, die den Unterschied zwischen den StarjournalistInnen, den FernsehansagerInnen, und dem Niedriglohn-Medienarbeiter der gedruckten oder Online-Presse verdeutlichten.
DA: Trotz der Fortschritte, wie gedenkt ihr, das Problem zu lösen, dass die große Mehrheit der Arbeiterklasse eure Kämpfe bestenfalls passiv verfolgt, anstatt aktiv Stellung zu beziehen?
AK: Das ist ein schwieriges Thema. Schon allein die Art und Weise, wie ihr die Frage stellt, zeigt, dass ein großes Problem existiert. Und zwar deshalb, weil in dem Moment, wo es nur „unsere Kämpfe“ sind, die Arbeiterklasse ganz klar desinteressiert sein wird. Nur dann, wenn es auch „ihre Kämpfe“ sind, besteht die Möglichkeit für eine positive Entwicklung. Wenn es für uns eine Aufgabe gibt, die über Teilnahme an diesen Kämpfen hinausgeht – egal ob sie uns direkt betreffen oder nicht – dann ist es die eindeutige Kritik gegenüber dem herrschenden System. Durch unser Verhalten und unser Beispiel können wir darüber hinaus Wege zur Freiheit aufzeigen.
DA: Vielen Dank für das Interview!
Interview und Übersetzung: Ralf Dreis (FAU Rhein/Main)
Redaktionelle Bearbeitung: Robert Ortmann
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