Die Lage der Arbeiterklasse in Ostdeutschland und ihre Ausstrahlung über die Ex-DDR hinaus
In diesem Jahr wird es wieder Zeit sein für Rückblicke: zahlreiche Jubiläen stehen vor der Tür, darunter der 20. Jahrestag der Maueröffnung, Vorbotin der Wiedervereinigung von 1990. Ebenso absehbar wie die Beiträge im Feuilleton wird der Ablauf der Feierlichkeiten sein: kommerztümlich.1 Das Ziel ist klar: Emotionen schüren, Mythen stricken, kurz gesagt, die moderne Nation weiter festigen. Da wird das Programm von 2003 zum 17. Juni nur ein kleines Vorspiel gewesen sein; die Fußball-WM zu übertreffen, wird allerdings schwierig.
Systematisch ausgeblendet wird in dieser schwülstigen Staatsbürgerlichkeit, dass die BürgerInnen im Alltag nicht gleichberechtigt sind. Systematisch totgeschwiegen wird der gesellschaftliche Ort, der nach wie vor – in der „post-industriellen Informationsgesellschaft“ ebenso wie in der real-sozialistischen Arbeitsgesellschaft alten Schlags – von zentraler Bedeutung ist: der Betrieb; dort, wo sich Arbeit und Kapital weiterhin gegenüberstehen.
In den vergangenen zwanzig Jahren haben die sog. „Neuen Bundesländer“ als Experimentierfeld, ja als Speerspitze gedient, gewerkschaftliche Errungenschaften zu demontieren und Millionen ArbeiterInnen einzuschüchtern und neu zu unterwerfen. Die Auswirkungen dieser Rosskur beschränkten sich nicht auf „den Osten“; aber ohne die Malocher der ehem. Zone wird das Blatt nicht zu wenden sein. Zeit also für eine Zwischenbilanz: Wo stehen die „Werktätigen“ im Osten heute?
Die Phase des „real-existierenden Sozialismus“ bildet insbes. für ArbeiterInnen jenseits der 40 noch immer einen realen Erfahrungshorizont: überalterte Technik, mangelhafte Versorgung mit Materialien und Ersatzteilen, Engpässe bzw. Privilegien in der Konsumversorgung, aber auch Partei- und andere parastaatliche Strukturen in den Betrieben. Ebenso kam dem Arbeitskollektiv (mitsamt seiner sozialen Komponente) in der Mangelwirtschaft offensichtlichere Bedeutung zu als heutzutage. Nicht zuletzt waren die 1980er auf sozio-politischem Terrain – verstärkt durch die Repressionsdrohung seitens des Staates – von einer breiten Tendenz der Individualisierung und einem Rückzug ins Private geprägt.
Sicher waren es wenige KollegInnen, die sich Höhepunkte und Entwicklung kollektiver Interessenvertretung in der DDR vergegenwärtigten. Mit einer zensorisch geprägten Veröffentlichungspraxis war das auch ungleich schwieriger. Dennoch existierte abseits der offiziellen Doktrin eine kollektive Erinnerung an die wichtigsten Auseinandersetzungen.2 Im Überblick der 40 Jahre sind die Jahre 1953, 1961, 1968 und 1980/81 zu nennen, und natürlich 1988/89.
Der inzwischen zum „Volksaufstand“ verklärte 17. Juni 1953 stand, ausgehend von Berliner Bauarbeitern, unter dem proletarischen Motto „Akkord ist Mord!“. An der Bewegung, die sich zunächst isoliert voneinander entwickelte, beteiligten sich etwa eine Million Menschen in mehr als 700 Städten und Gemeinden, wovon etwa drei Viertel zur Arbeiterklasse zu zählen sind. Dementsprechend hatte der Aufstand seine Höhepunkte und seine radikalsten Entwicklungen im mitteldeutschen Industriegebiet sowie in Ostsachsen. Dabei wollten die ArbeiterInnen mehrheitlich keineswegs den Sozialismus an sich beseitigen. Der Historiker Bernd Gehrke berichtet: „Während mit großer Wut die Propagandaeinrichtungen und Ikonen des Ulbricht-Regimes zerstört wurden, blieb Marx unberührt. In Halle, wo Stalin und Marx auf riesigen Propagandabildern nebeneinander stehen, wird Stalins Bild zerfetzt, während Marx stehen bleibt.“ Aber Stalin war noch nicht lange genug tot, der Generalstreik wird mit Waffengewalt gebrochen und unzählige Aktivisten inhaftiert.
Das Jahr 1961 markierte nicht nur den „point of no return“, da es mit dem Mauerbau kein Entrinnen mehr gab.3 Die frühen 1960er waren auch der Hochpunkt der Streikaktivitäten in der DDR. Als dann 1968 die Panzer in Prag einfuhren und die Reaktionen in der DDR genau beobachtet, ja von den Mächtigen gefürchtet wurden, wurde das Streikrecht aus der DDR-Verfassung gestrichen.4 Das folgende Jahrzehnt zeichnete sich dann durch den ungebremsten Niedergang des Streiks als Kampfform der ArbeiterInnen aus.
Waren es spätestens seit 1953 die Panzer und die Bürokratie, die den ArbeiterInnen im Genick saßen, so wundert es kaum, dass es nur wenige wagten, die Arme zu kreuzen. Zudem beschränkte sich diese Kampfform auf die Bereiche der unmittelbaren Produktion und des Handwerks – Angestellte oder auch ArbeiterInnen in Einzelhandel und Gesundheitswesen hielten sich fern. Schließlich drangen Nachrichten über solche Konflikte kaum über den Betrieb bzw. über die Abteilung hinaus. So sank schließlich die Zahl der gemeldeten Streiks auf annähernd Null, während die Zahl der Beteiligten auf ungekannte Miniaturmaße zusammenschrumpfte.5
Die offene Auseinandersetzung war also ein kaum gangbarer Weg. Dagegen gab es aber sehr wohl die „Untergrund-Bewegungen“. So widersetzen sich Anfang 1961 weite Teile der Arbeiterklasse der Wiedereinführung der Sechs-Tage-Woche durch massenhafte Krankschreibung und Fehlschichten, was schließlich auch im Beschluss zum „freien Samstag“ offiziell gemacht wurde.6 Bezeichnend ist auch eine Entwicklung im parastaatlichen Berichtwesen von FDGB und SED, das nach 1953 ausgebaut und systematisiert worden war: Als in den 1970ern der Katalog meldepflichtiger „besonderer Vorkommnisse“ aktualisiert wurde, richtete sich das Augenmerk nun auch auf „Massenunfälle“, „Massenerkrankungen“ sowie „Vorfälle [d.h. Streiks] mit ausländischen Arbeitskräften“. Ein anderer Kanal für Unmutsäußerungen und Hoffnung auf Verbesserung waren die vollkommen legalen, zumeist aber individuellen „Eingaben“ an übergeordnete Stellen wie den Gewerkschafts- oder Parteivorstand. Das Postaufkommen in dieser Sache schwoll 1988/89 merklich an.
Die DDR-Staatssicherheit beobachtete noch bis Januar 1990 sehr genau, was sich in den Großbetrieben tat. Das Augenmerk lag damit also auf Berlin/Umland und dem südlichen Staatsgebiet, wo sich die real-sozialistische Industrie konzentrierte – hier lagen auch die Demonstrationsschwerpunkte im Herbst/Winter 1989. „Die größte Sorge“, so die Historikerin Renate Hürtgen, „galt einem Aufruhr in den Betrieben, gar einem Generalstreik.“ Soweit sollte es nicht kommen, weil eine betriebsinterne oder gar -übergreifende Öffentlichkeit gerade erst erkämpft wurde. Bezeichnend ist dennoch, dass ein Kern von Forderungen entstand. In der ganzen kleinen Republik hieß es: Kampfgruppen und sonstige SED-Organisationen in den Betrieben auflösen, unabhängige Gewerkschaften jetzt, jederzeitige Abwählbarkeit der Delegierten!
Die strukturellen Beschränkungen der DDR-Zeit beengten allerdings nicht nur die Presse- und Informationsfreiheit, sondern auch die Aktionsfreiheit: Die Ende der 80er aktiven ArbeiterInnen – von denen sich bald einige in der Initiative für Unabhängige Gewerkschaften (IUG) und andere (besonders im Berliner Raum) zur FAU Ost zusammenschlossen – kannten zumeist nur das Produktionsregime in der DDR. Das heißt, Gelegenheit zu Versammlungen größeren Ausmaßes bot sich nur zu offiziellen Anlässen, der Streik als kollektive Praxis war quasi inexistent. Dennoch ging die Zahl von Einzelstreiks 1989 in die hunderte, und auch ein Dutzend Betriebsbesetzungen waren zu zählen. Das zweifellos prägendste Element in den Betrieben in diesem Herbst aber waren wohl die Versammlungen, auf denen nun Klartext gesprochen wurde – und die auch den einen oder anderen „Parteibonzen“ absetzten.
Hürtgen führt die Bewegungen, die „manchmal sogar unentschlossen und konzeptionslos“ erscheinen mögen, auch auf ein „Vertretungsvakuum“ im DDR-Betrieb zurück. Denn die einzig zugelassene Gewerkschaft, der FDGB, war zwar präsent, erfüllte aber mit der Organisation von Betriebsfeiern und Ferienreisen eher die Rolle eines französischen „Betriebsrats“ als die einer Gewerkschaft. Damit erlangte er zwar eine gewisse Bedeutung für Geringverdiener, darunter viele Frauen, war aber eben keine Interessenvertretung. Bereits seit 1950 verstand sich dieser „Gewerkschaftsverband“ als Transmissionsriemen der Partei und Mittel der Produktivitätssteigerung.7 Lohneinbußen, Arbeitsunfälle und Überstunden hatte er meist mitzuverantworten. Dementsprechend schlecht war in den 80ern sein Ruf.
Alles in allem aber war das Zeitfenster für den kollektiven Lernprozess zu kurz. Zwar hatte es bereits im Oktober 1989 nicht nur Versammlungen, sondern auch Komitees und „Räte“ gegeben. Doch als die Diskussion gerade erst begonnen hatte, da war nach dem FDGB-Kongress im Januar 1990 schon zweierlei klar: Die Großorganisation würde sich nicht reformieren, während der bundesdeutsche DGB eigene Strukturen in der DDR aufbaute. Der dritte Weg eigenständiger Belegschaftsaktivitäten verlor an Boden und ging nach den Wahlen im Frühjahr, nach dem „Votum für die Einheit“, vollends unter. In Vorbereitung auf die Betriebsratswahlen im Juli 1990 waren nun andere Kompetenzen gefragt.
Reichlich drohend erschien die Kulisse, die die IUG Ende 1989 zeichnete: „Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. … Die Preise werden steigen, die Löhne kaum … Der Staat fordert Leistung, bald wird er mit Entlassung drohen.“ Und doch hat sich keiner das Ausmaß der De-Industrialisierung vorstellen können, die der neue Staat in Form der Privatisierungsbehörde „Treuhand“ organisieren sollte: Bis Mitte der 1990er wurden 40% der Arbeitsplätze gestrichen, v.a. in Industrie und Landwirtschaft. Die Industrieproduktion brach um zwei Drittel ein8, das Bruttoinlandsprodukt um die Hälfte – eine direkte Folge der Währungsunion.9
In diesem Ausmaß ist diese spezifisch ostdeutsche Rezession wohl einmalig in der Industriegeschichte. Der Personalabbau verlief jedoch überraschend konfliktfrei. Eine Ursache, dass es im Osten nicht zu einer großen Depression kam, waren die Transferzahlungen in Milliardenhöhe. Dabei handelte es sich allerdings keinesfalls um die Verlängerung des „zweckfreien“ Begrüßungsgelds. Durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) wurden die Belegschaften als Kollektiv liquidiert, die Probleme individualisiert. So setzte sich die Tendenz der 1980er fort, wie auch Hürtgen feststellt: Die in der DDR „geschaffenen kulturellen Muster stürzten nicht zeitgleich mit den Strukturen zusammen, sie hielten sich vielmehr noch lange“. Dazu zählen Bittstellertum, Meidung von Konflikten, schwaches kollektives Selbstbewusstsein sowie die Beschränkung auf persönliche bzw. strikt betriebliche Belange. In dieser Logik blieben Streiks, auch unter der „freiheitlichsten Verfassung“, die letzte Reißleine, die vielfach zu spät gezogen wurde.
Die Auseinandersetzung um die Schließung des Kali-Bergwerks im thüringischen Bischofferode 1993 mag das verdeutlichen: Die Treuhand hatte das Werk an die BASF-Tochter Kali&Salz weitergereicht, im Zuge der Fusion verfügten die neuen Eigentümer die Schließung der Grube. Für diese „Marktbereinigung“ kassierten sie noch einen öffentlichen „Verlustausgleich“. Mehrere Monate lang veranstaltete die 700-köpfige Restbelegschaft Demonstrationen, Mahnwachen und Petitionen, um die Entlassung abzuwenden. An den Aktionen beteiligten sich bis zu 15.000 Menschen. Bundesweites Medieninteresse erfuhren die Arbeiter aber erst, als sie zum allerletzten und ohnmächtigsten Mittel griffen: dem Hungerstreik. Die Bilder dieser ausgemergelten Gestalten brannten sich tief ein in die neuen Farbfernseher. Der Diskurs in diesem Flaggschiffkampf, in dem sich entscheiden sollte, wie es mit der Industrie im Osten weitergeht, versteifte sich so auf eine „Wir wollen Arbeitsplätze“-Parole.
Die radikale De-Industrialisierung konnte, von „Sozialmaßnahmen“ begleitet, umgesetzt werden, wenn nur nicht das letzte Fünkchen Hoffnung erlosch. Dazu trugen u.a. „Dienstleistungen“ wie Zeitarbeitsfirmen und Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften bei. Letztere gehen im Osten vielfach auch auf gewerkschaftliche Initiativen zurück. Indem die klammen DGB-Gewerkschaften diese Maßnahmen
mitorganisierten und selbst auf ABM-Kräfte zurückgriffen, würgten sie Widerstand und Lohnniveau selbst mit ab. Politisch hatte das eine integrierende Wirkung auf den gewerkschaftlichen Diskurs, insbes. in Sachsen gab es früh „Runde Tische“ und enge Kontakte zwischen Landesregierung und Gewerkschaften. Und „immerhin“: In Bischofferode arbeiten heute noch 70 ArbeiterInnen – sie bereiten die Flutung der Schächte vor.
Festzustellen bleibt: Ohne das kollektive Trauma im Osten Anfang/Mitte der 90er, das auch noch die letzten Reste eines positiven Selbstbilds als Arbeiterschaft zertrümmerte, wäre nicht nur Schröders Spruch „Jede Arbeit ist besser als keine“ nicht so butterweich durchgegangen. Auch die nunmehr obligatorischen „Öffnungsklauseln“ in den Kollektivverträgen hätte es wohl so nicht gegeben.
Wie bereits angedeutet, hatte die Entwicklung im Osten auch Auswirkungen auf die Lage der KollegInnen im Westen. Das geschah nicht nur auf politischer Ebene, sondern nahm auch ganz konkrete Gestalt an: Die Arbeitsmigration in Richtung Westen ist seit Anfang der 90er ungebrochen, von ehem. 16 Mio. DDR-BürgerInnen verließen mehr als zwei Mio. die Neuen Länder, hunderttausende pendeln täglich. Vielfach arbeiten aber sie im Westen zu geringeren Löhnen und dienen den Bossen damit als Druckmittel.
In der Breite aber gibt es eine Reihe Unterschiede, die die ostdeutschen Länder als Gesamtzusammenhang kennzeichnen – auch wenn diese Charakteristika auf einzelne Regionen im Westen ebenso zutreffen mögen. So liegt die Erwerbslosenquote im Osten in etwa doppelt so hoch wie im Westen. Damit einher gehen auch fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung Lohnunterschiede von 20-30% gegenüber den westlichen Bundesländern – und das nicht nur im Handel, sondern auch im produzierenden Gewerbe. Ein Erbe der DDR-Vergangenheit ist sicherlich auch, dass die tarifliche Arbeitszeit mit durchschnittlich 39,3 Stunden pro Woche deutlich höher liegt als mit 38,1 im Westen. Zwar werden im Westen mehr Überstunden verzeichnet, da es sich bei der Statistik jedoch um bezahlte Überstunden handelt, kann auf das reale Ausmaß nicht geschlossen werden. Die Ratio aus Lohn und Arbeitszeit senkt den Effektivverdienst pro Stunde auf 66%, wie z.B. in der Metallindustrie Ost 2001.10
In dieses Bild fügt sich, dass die Tarifbindung mit 41% der Beschäftigten deutlich unter der im Westen (56%) liegt und dass übertarifliche Bezahlung – wie sie etwa in weiten Teilen der westdeutschen Metall-Industrie praktiziert wird – quasi vollkommen unbekannt ist. Aus den veröffentlichten Daten des DGB ergibt sich, dass diese Tendenz auch eine gesamtdeutsche ist: In der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts tendierte die Tarifbindung der Beschäftigten gegen 50%, die Zahl derjenigen ohne Kollektivvertrag nahm leicht zu auf knapp 20%. Zu den ArbeiterInnen ohne Tarifvertrag zählen i.d.R. die Beschäftigten der Solar-Branche – die weltweit an dritter Stelle steht. 40% der Beschäftigten arbeiten im Osten, wo der Lohn 2008 „insgesamt etwa zehn Prozent unter dem Niveau ostdeutscher Branchentarifverträge“ und oft mehr als 30% „unter dem westdeutschen Niveau“ liegt.
Dieses Lohngefälle ist nicht allein zurückzuführen auf die geringere Tarifbindung, denn in den existierenden Tarifen sind diese Unterschiede ja festgeschrieben. Seit 2005 ist festzustellen, dass die seit Anfang der 90er versprochene Angleichung der Löhne gestoppt wurde: Die prozentualen Erhöhungen in Ost und West fallen gleich aus, die Aufholjagd ist ausgesetzt. Ausgesetzt, obwohl sich seit 2004 mit sinkender Erwerbslosigkeit ein wichtiger struktureller Faktor zugunsten der Arbeiterbewegung veränderte. Eine fatale strategische Entscheidung des DGB. Da nimmt es auch nicht Wunder, dass in einem bisher unbekannten Ausmaß untertariflich bezahlt wird. Dabei ist die Rede vom „strukturellen Niedriglohngebiet“ Ostdeutschland durchaus ambivalent: Einerseits entspricht sie der Realität, andererseits zementiert sie diese Realität. So wird dieser Zug regelmäßig von unternehmernahen Forschungsinstituten wie dem IWH Halle besonders hervorgehoben. Die Zustandsbeschreibung wird gegen Lohn- und sonstige Forderungen ins Feld geführt und wandelt sich so in eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Dabei besteht aus wirtschaftlicher Perspektive nicht unbedingt aller Grund zur Schwarzmalerei. So meldete etwa die Nachrichtenagentur Reuters im Sommer 2008, dass Industriebetriebe im Osten, insbes. in Sachsen und Thüringen, durchschnittlich eine 25% höhere Rentabilität aufweisen als im Westen. Erstellt wurde die zugrunde liegende Untersuchung vom IWH, das als wichtigen Grund die niedrigen Lohnkosten angibt. Dieses Plädoyer zur Bescheidenheit offenbart unfreiwillig auch, dass es durchaus Handlungsspielraum gibt.
Die schlechtere wirtschaftliche Lage der ArbeiterInnen leitet sich also nicht direkt aus einer „Strukturschwäche“ der Betriebe ab – jedenfalls nicht aus einer spezifisch ostdeutschen. Womit die Gewerkschaftsbewegung jedoch zu kämpfen hat, ist der Fakt, dass kleine und mittlere Unternehmen (KMU) im Osten einen viel größeren Anteil ausmachen. Hier ist es generell schwieriger, Arbeiterorganisationen aufzubauen und den Unternehmer an den Verhandlungstisch zu zwingen.11 Auf die durchschnittlich geringere Betriebsgröße führt die IG Metall auch die geringere Produktivität der Ost-Industrie (70%) zurück, die ebenfalls regelmäßig zur Rechtfertigung von weniger Lohn und längerer Arbeitszeit dient. Und doch stieg, wie Wildcat berichtet, die Industrieproduktion von 1995 bis 2005 um 15%.
Von der Politik wird in Feiertagsreden gern in den Vordergrund gespielt, dass es nunmehr eine gut ausgebaute und moderne Infrastruktur gebe. Doch es nützt nichts: Ende 2006 bejahten 90% der Ostdeutschen in einer Umfrage des Stern die Auffassung, dass die Politiker „auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht“ nähmen. In den Augen der Mehrheit hat sich am politischen System nichts wesentliches geändert. Dennoch gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass das Erzgebirge zu einem zweiten Chiapas wird. Sucht man nach bedeutenden Mobilisierungen in den letzten fünf Jahren, so fallen allerdings gleich mehrere ins Auge:
Nach mehr als zehn Jahren Einheit wollte die IG Metall 2003 auch im Osten die 35-Stunden-Woche durchsetzen, um die es in den 80ern auch in der alten BRD harte Kämpfe gegeben hatte. Tatsächlich zeigte der Arbeitskampf in der straff organisierten Just-in-time-Produktion der Auto-Industrie bald Wirkung. So musste etwa BMW die Produktion in München und Regensburg stoppen, weil wichtige Bauteile aus dem Osten fehlten. Aber die veröffentlichte Meinung wendete sich – gestützt auf den Konsens von Bischofferode – sofort gegen den Streik und fand Resonanz. Das Unverständnis war groß, angeblich auch bei den eigenen Mitgliedern.12 Zum Erbe der 90er gesellte sich die FDGB-Vergangenheit: Produktionsarbeiter waren „der Gewerkschaft“ mehrheitlich „distanziert bis feindlich“ eingestellt, das „traditionelle Gewerkschaftsverständnis“ war erstickt worden vom offiziellen Kurs.13 Wohl auch aufgrund interner Ränke brach der IGM-Vorstandsvorsitzende den Streik nach vier Wochen schließlich ab.
Im Jahr darauf nahm in Magdeburg eine Welle von Montagsdemonstrationen ihren Ausgang, die sich gegen die Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder stellten. Nachdem die Hartz-Reform-Pakete I bis III schon durch waren, kam die Bewegung sehr unerwartet auf und versammelte im Osten Hunderttausende. Das Wichtigste ist aber sicher gewesen, dass viele der TeilnehmerInnen das letzte Mal 1989 auf der Straße gewesen waren – als wollten sie einen neuen Anlauf nehmen. Der hochgradig symbolgeladene Vergleich mit den Demonstrationen von 1989 lag nicht fern, ja wurde von Medien ebenso begierig aufgegriffen wie er von der Politik zurückgewiesen wurde. So recht wollte man auf den Demonstrationen aber nicht verstehen, wieso Müntefering meinte, die Bewegung aussitzen zu können: Weil es eben um die Subversivität genehmigter Demonstrationen in einem Staat verbriefter bürgerlicher Freiheiten ganz anders bestellt ist als um die von Demonstrationen, die von einem Polizeistaat toleriert werden.
Nach dem Streikjahr 2006, das die Jahre zuvor und danach mit 168.000 Streikenden bei weitem überragte, kehrte 2007 zwar noch keine Ruhe ein an den Werkbänken. Aber der Schwerpunkt verlagerte sich. Sicher, auch das Ruhrgebiet oder Bayern kennen ihre Kämpfe gegen Betriebsschließungen. Und doch, die Abwicklung des Fahrradwerks von Bike Systems im thüringischen Nordhausen passt ins Bild, das man sich vom Osten macht. Da war die Motivation zur Produktion in Selbstverwaltung zu einem guten Stück der Ausweglosigkeit geschuldet. 2007 war aber nicht nur das Jahr des Muts der Verzweifelten. Es war auch das Jahr, in dem die deutsche Gewerkschaftslandschaft etwas weniger eintönig wurde, als LokführerInnen und Fahrpersonal der Deutschen Bahn ein Ultimatum stellten – mit einer Spartengewerkschaft. Nirgendwo in Deutschland war die Streikbeteiligung im Nahverkehr so hoch wie im Osten. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen fuhren Ende Oktober nur 10% aller Züge.
Auf dem Gebiet der ehem. DDR liegen die Löhne flächendeckend deutlich unter Westniveau, teilweise bis zu 40%. Die Einkommensspreizung ist allerdings kein spezifisch ostdeutsches Phänomen – sie tritt hier nur besonders deutlich zutage. Mit Blick auf die gesamte BRD lässt sich feststellen, dass die Vermögensungleichheiten vielgestaltig wachsen: Am deutlichsten wird dieser Trend immer noch am Verhältnis zwischen den reichsten zehn Prozent und den ärmsten 70 Prozent – letztere teilten sich 2007 nur 10% des Privatvermögens. Weiterhin öffnet sich die Lohnschere sowohl zwischen Ost und West als auch zwischen den Berufsgruppen. Und auch das Gefälle zwischen städtischen Ballungsgebieten und ländlichem Raum darf nicht außer Acht gelassen werden.
Entlang dieser Scheidelinien entwickelt sich, in verschiedenen Organisationen, auch die Gewerkschaftsbewegung unserer Tage. Dabei ist das platte Land im Osten unschwer als besonderer Schwachpunkt auszumachen. Gleichwohl stehen einer Gewerkschaft gerade hier die härtesten Kämpfe bevor, zumal „das Land“ mit seiner kleinbetrieblichen Struktur, aber auch mit seinen ArbeiterInnen, die beachtliche Strecken pendeln, bis in die Stadt hinein langt. Die Gewerkschaften stehen so, wenn nicht vor neuen, so doch vor ungewohnten Fragen.
Praktische Erfolge stehen weiterhin im Zentrum der Erwartungen, so wie der Aufbruch in den Betrieben 1989 pragmatisch orientiert war. Eine Studie der Uni Jena machte z.B. Ende 2008 ein höheres Ansehen der Betriebsräte in den neuen Ländern aus, dass sie v.a. ihrer praktischen Tätigkeit zu verdanken hätten. Gleichzeitig würde der Stellvertretungscharakter der meisten Gewerkschaften nicht in Frage gestellt: „Viele meinen, dass die Gewerkschaften etwas für sie tun sollten. Dass sie selbst sich dabei einmischen müssen und können, ist nur einer Minderheit bewusst“, so Prof. Dörre.14
Dabei müssen die Gewerkschaften den Zusammenhang einer kollektiven und eigenständigen Arbeiterbewegung erst einmal wieder aufbauen – auch im Westen hat die Anbindung an die (alte oder neue) Sozialdemokratie ein Trümmerfeld hinterlassen. So leben dort z.B. verhältnismäßig mehr Menschen als im Osten ohne Krankenversicherung; auch ein Indikator für prekäre Arbeitsverhältnisse und Armut. Die Gewerkschaftsbewegung steht mit den geringsten Kräften vor den größten Aufgaben, seit Jahrzehnten. Davon sind auch die Gewerkschaften der FAU nicht auszunehmen. Aber vielleicht haben sie mit ihrem Konzept des syndikalistischen Engagements einen geeigneten Ansatz, der die Versteinerung der deutschen Gewerkschaftslandschaft weiter aufweicht.
André Eisenstein
Bernd Gehrke/Renate Hürtgen, Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution,
Bildungswerk Berlin 2001.
[1] So wie es z.B. geplant ist für die „Staatsfeier zum sechzigsten Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes“ am 23. Mai.
[2] Die Erinnerung währt auch aufgrund dessen, dass der Staat immer spürbar auf die Aufwallungen reagiert hat: mit Strafverfolgung und Bespitzelung.
[3] Die Ausweglosigkeit war sicher ein wichtiger Impuls für das weit verbreitete Arrangement mit den Gegebenheiten, für kollektive Lethargie und Individualisierung.
[4] Wie bereits 1961 hatte die SED das Widerstandspotential überschätzt. Die Entwicklungen im südlich gelegenen „Bruderland“ wurden zwar aufmerksam und mit Sympathie verfolgt, doch begnügte man sich mit der Zuschauerrolle.
[5] In den 80ern beteiligten sich durchschnittlich drei bis vier KollegInnen an einer solchen Aktion, die v.a. unter den deutschen KollegInnen oft nur rein defensiven Charakter hatte. Dagegen verschrieben sich streikende ArbeiterInnen, die keine Staatsbürger waren, oft nicht nur der Aufrechterhaltung, sondern auch der Verbesserung der Situation. Bereits Mitte der 70er wurden bereits ein Drittel der Streiks von ArbeiterInnen (v.a. aus Algerien, Polen, Ungarn) geführt.
[6] Allerdings hatte es da schon in der Mehrzahl der Betriebe eigene Vereinbarungen gegeben.
[7] Hinzu kommt, dass der FDGB-Apparat nach dem 17. Juni 1953 gesäubert wurde.
[8] Sogar in der auf Kleinserien ausgerichteten Hochtechnologie.
[9] Der Industrie der alten BRD verschafften diese Vorgänge hingegen eine Sonderkonjunktur, die den Einbruch der weltweiten Wirtschaftskrise um 1990 um einige Jahre verzögerte.
[10] Immerhin ein positiver Faktor: die Lohnschere zwischen den Geschlechtern fällt im Osten weniger groß aus und auch die Erwerbsquote der Frauen liegt im Osten höher.
[11] Siehe dazu Matthias Seiffert, „Mythos Mittelstand“, DA Nr. 177.
[12] Ähnliche Erfahrungen machten 2006 auch die streikenden ArbeiterInnen des West-Berliner BSH-Werks beim Besuch des Schwesterwerks im brandenburgischen Nauen: Sie stießen auf versteinerte Mienen.
[13] Beides ist auch heute noch ein Problem, das etwa der Neo-Nazismus auszunutzen sucht.
[14] Siehe dazu „Skepsis im Osten“, Junge Welt (30.12.2008), online zugänglich.
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
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