Die Rolle der Solidarischen Ökonomie im Kampf gegen den globalisierten Kapitalismus
Als Solidarische Ökonomie gilt eine Form des Wirtschaftens, das nicht der Profitmaximierung, sondern dem Wohl aller beteiligten Personen unterworfen ist. Neben solidarischen Betrieben, die sich idealtypisch nach Prinzipien der Selbstverwaltung, Gemeinwesenorientierung und Nachhaltigkeit richten und eine Kooperation mit anderen solidarischen Betrieben anstreben, werden hier und da auch eine Reihe weiterer Formen hinzugerechnet. Kennzeichnend für die Debatte um eine Solidarökonomie ist somit, dass es bisher keine einheitliche Definition gibt. In Brasilien ist die Bewegung am stärksten organisiert und hat Zugeständnisse vom Staat erkämpft. Die folgenden zwei Beiträge befassen sich mit der Frage nach dem transformatorischen Potential der wieder mal diskutierten Alternativbetriebe.
Monokultur soweit das Auge reicht. Links und rechts von der Straße zieht sich das Meer der Zuckerrohrpflanzen über die hügelige Landschaft des Bundesstaates Pernambucos. Im Nordosten Brasiliens wird seit dem 17. Jahrhundert Zucker für den Weltmarkt produziert. In einigen Regionen ist die Zuckerindustrie der einzige Arbeitgeber. Das Land ist bei wenigen GroßgrundbesitzerInnen konzentriert. Die große Anzahl von SaisonarbeiterInnen wird nur für die sechs Monate dauernde Erntezeit eingestellt. Außerhalb der Ernte haben sie kaum Möglichkeiten, Arbeit zu finden. Den fest angestellten LandarbeiterInnen geht es kaum besser. „In der Zeit der alten Fabrikbesitzer besaß niemand etwas, und bei der Arbeit auf Pacht reichte das Geld nicht einmal für das Essen aus“, berichtet der Landarbeiter José da Silva. Und Hernandes ergänzt: „Ich bin heute krank und habe Probleme, weil ich mit Pestiziden arbeiten musste. Wenn wir uns geweigert haben, haben sie uns gezwungen.“1
Die beiden Landarbeiter sprechen über die Bedingungen in der traditionsreichen Fabrik Catende, die den Namen des gleichnamigen Ortes trägt. Die Fabrik avancierte in den 1960er und 70er Jahren zum größten Zuckerproduzenten Lateinamerikas. In den 1980ern wurden der Zuckerindustrie im Nordosten des Landes Subventionen gestrichen, die nun, trotz Sklaverei,2 nicht mehr dem Konkurrenzdruck aus dem flachen Süden standhalten konnte. Während im Bundesstaat São Paulo die Ernte weitgehend mechanisiert wurde, musste in Pernambouco hauptsächlich von Hand geerntet werden. Es folgten Massenentlassungen. Als keine Entschädigungen gezahlt wurden, formierte sich Widerstand unter den ArbeiterInnen. 1995 kam die Insolvenz. Heute ist Catende eine Genossenschaft und befindet sich im Prozess zum selbst erklärten Ziel der Arbeiterselbstverwaltung. Die Ländereien wurden bereits vergesellschaftet und der Genossenschaft übereignet. Die Insolvenzmasse selbst ist nach wie vor nicht abgewickelt. Sie wird durch einen eingesetzten Insolvenzverwalter geführt. Die ArbeiterInnen haben bisher ein Mitspracherecht, um die Firmenpolitik zu beeinflussen. Die Genossenschaft organisiert Schulungen, um allen Fabrik- und LandarbeiterInnen notwendige Kenntnisse für eine zukünftige Selbstverwaltung zu vermitteln. Durch eine Alphabetisierungskampagne konnte der Analphabetismus von 80 auf 20% reduziert werden. Zudem werden Maßnahmen zur Nahrungssicherheit und zum Umweltschutz vorangetrieben.
Sollte dieses Experiment gelingen, könne es einen Synergieeffekt im Bereich vergleichbarer Zuckerfabriken des Landes haben, erhofft sich der brasilianische Soziologe Francisco Xavier.3 An Catende könne man sehen, dass die Solidarische Ökonomie nicht nur etwas für kleine Projekte sei, sondern – mit 1.800 dauerhaft Beschäftigten und weiteren 13.000 saisonal beschäftigten ZuckerrohrschneiderInnen – Industriecharakter annehme. Über lokale Märkte werden zudem KleinbäuerInnen und HandwerkerInnen integriert. Doch auch Catende ist abhängig von der Entwicklung der globalen Märkte und muss nach außen Konkurrenzfähigkeit beweisen. Hier zeigen sich die Grenzen des Projektes.
Wie im Fall der Zuckerfabrik geht es in vielen Projekten der Solidarischen Ökonomie im globalen Süden um die reine Existenzsicherung. Die brasilianische Wirtschaftskrise, die durch die neoliberale Schockpolitik der 1980er ausgelöst wurde und sich in den 90ern weiter verschärfte, sorgte für eine sprunghafte Zunahme von Insolvenzen. Damals begannen ArbeiterInnen, insolvente Betriebe zu übernehmen und in Selbstverwaltung weiterzuführen. Dies geschah spontan, und so blieben Schwierigkeiten nicht aus. Das selbstorganisierte Arbeiten verlangte den Beteiligten viel ab. Um Problemen besser begegnen zu können, wurde 1994 die ANTEAG (Vereinigung der Arbeiter in selbstverwalteten Betrieben und Aktienbeteiligung) gegründet.4 Durch die neu geschaffene Organisation sollten Wiederinbetriebnahmen vereinfacht und die Verhandlungsposition gegenüber dem Staat gestärkt werden. Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene andere Institutionen gebildet, die die Übernahme von insolventen Betrieben durch die Beschäftigten und Neugründungen selbstverwalteter Betriebe unterstützen. Dazu gehören die Gruppen der universitären „Innovationswerkstätten für Solidarische Gründungsunternehmen“, auch als „Incubadoras“ bezeichnet. Die Incubadoras haben, wie auch die ANTEAG, eine Methodologie für die Begleitung von Initiativen zur Gründung solidarischer Betriebe und die Ausbildung der Teilnehmenden entwickelt.
Die Solidarische Ökonomie ist nicht homogen. Vielmehr wird betont, dass es darum gehe, die vielfältigen Formen, die bereits gelebt werden oder sich in der Entwicklung befinden, miteinander zu vernetzen. „Solidarische Ökonomie“ ist ein Sammelbegriff: freie Software, Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, alternative Geldsysteme wie Tauschringe oder Regionalwährungen, Kommunen, Genossenschaften und selbstverwaltete Betriebe, fairer Handel, Land- und Hausbesetzungen usw. So unterschiedlich wie die Ausdrucksformen sind auch die Zielsetzungen der einzelnen Denkströmungen der Bewegung. Der Kapitalismus sei nicht fähig, alle Menschen zu versorgen – soweit ist man sich einig. Was ist jedoch die Rolle einer alternativen Ökonomie? Einige verstehen sie als Sozialpolitik, die von den sozialen Bewegungen getragen und vom Staat unterstützt werden sollte. Auch den sozial Ausgeschlossenen könne so ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht werden. Ziel sei es, einen Nischenplatz in der konventionellen Ökonomie zu ergattern und den neuen „UnternehmerInnen“ eine Existenzgrundlage zu schaffen. Folgt man dieser Denkart, aktiviert die Solidarische Ökonomie lediglich Potentiale, die durch neoliberale Politik vermehrt ausgeschlossen und marginalisiert werden, und integriert diese in den Markt.
Demgegenüber betont Xavier jedoch ein übergeordnetes Ziel. Es gehe darum, die kollektiv hergestellten Produkte in eine solidarische Produktions- und Handelskette einzugliedern. Die Konkurrenzfähigkeit ist demnach lediglich kurzfristiges und funktionales Ziel, bis die Bewegung einen alternativen ökonomischen Kreislauf geschaffen hat, sozusagen ein autarkes ökonomisches System, basierend auf Selbstverwaltung, Kooperation und Nachhaltigkeit. Die interne Solidarität werde durch die Kette nach außen, zu anderen solidarischen Unternehmen, weitergegeben. Durch die Ausschaltung kapitalistischen Zwischenhandels, dem eine weitestgehende Direktvermarktung der kollektiv produzierten Güter gegenübergestellt wird, habe die Solidarische Ökonomie Preis- und Qualitätsvorteile für die ProduzentInnen sowie für die KonsumentInnen. Fair-Trade-Produkte, die in konventionellen Supermärkten erworben werden können, entsprechen nicht dem Idealtyp, da auf diesem Wege der Vermarktung ein Mehrwert entsteht.
In Deutschland wiederum entsteht die solidarökonomische Bewegung kaum aus der Notwendigkeit der Existenzsicherung. Vielmehr wird die Verpflichtung gegenüber späteren Generationen betont. Eine besondere Rolle könne ihr zum Erhalt der Energie- und Nahrungssouveränität zukommen. Beide werden durch eine zu hohe Konzentration von Kapital und die Nutzung risikoträchtiger Energien, wie Atomkraft und genveränderter Organismen, bedroht, so die Soziologin Clarita Müller-Plantenberg.5 Als weitere Herausforderung gilt auch der Klimawandel. Anstelle von vergeblichen Appellen an Regierungen, den CO2-Ausstoß zu vermindern, sowie ergänzend zu Massenprotesten und Blockaden bei Castortransporten sollte auf eine Regionalisierung und Demokratisierung der Stromversorgung hingearbeitet werden. Hier ist die Solidarische Ökonomie ein Mittel, um die Ökologiebewegung aus der Defensive zu befördern. Gerade bei ökologischen Problemen wird es notwendig sein, die meist konservative Landbevölkerung in die Bewegung zu integrieren. Sie ist von den negativen Auswirkungen direkt betroffen und verfügt z.T. über die notwendigen alternativen Ressourcen. AktivistInnen versuchen deshalb, z.B. durch die gemeinsame Gründung einer Energiegenossenschaft, das verbreitete Solidaritätsverständnis – über die Großfamilie hinaus – zu erweitern und Selbstverwaltung zu propagieren.6
Heute ist es für viele Menschen kaum noch möglich, sich eine Alternative zum Kapitalismus vorzustellen. Maggie Thatchers Slogan „There is no alternative“ offenbart seinen wahren Charakter: Die scheinbare Alternativlosigkeit einer neoliberalen Politik- und Gesellschaftskonzeption wird gestützt durch den „Lock-in-Effekt“.7 Damit ist gemeint, dass es den Menschen kaum noch möglich ist, sich eine Alternative zur bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vorzustellen. Der „Lock-in-Effekt“ kann auch als subtiler Unterdrückungsmechanismus charakterisiert werden. Dem kann die Solidarische Ökonomie als real existierende Alternative entgegengestellt werden. Gerade indem auf historische und aktuelle Beispiele aus der eigenen, regionalen Geschichte zurückgegriffen wird, kann die Vorstellungskraft zurückerobert und damit eine breitere Aktivierung ermöglicht werden.
Die schwammige Definition der Solidarischen Ökonomie, macht es schwierig, ihren tatsächlichen Charakter und Umfang einzuschätzen. Der Vorteil aber ist, dass sie weiterhin formbar ist. Formen solidarischer Wirtschaft und Experimente wie selbstverwaltete Betriebe und Kommunen waren auch schon immer Teil (anarcho-)syndikalistischer Bewegungen und konnten sich gegenseitig kritisch ergänzen und stärken.8 Es kommt nun darauf an, den Begriff zu besetzen, ihn gerade auch mit gewerkschaftlicher Arbeit zu verknüpfen. Gerade der Syndikalismus bietet hierbei Perspektiven, während die etablierten Gewerkschaften in Deutschland nach wie vor unfähig sind, sich für Experimente alternativer Ökonomie zu öffnen.
Letztere sind kein Partner für eine solche Bewegung; ihre hierarchischen Strukturen entsprechen weder der angestrebten internen Arbeitsorganisation noch der Vision einer anderen Gesellschaft und Ökonomie von unten. Die Zeitarbeitsfirmen in Gewerkschaftshand geben zudem nicht gerade das beste Beispiel Solidarischer Ökonomie ab. Der Syndikalismus bietet demgegenüber eine Perspektive für die notwendige Organisierung der BewegungsteilnehmerInnen, gleich ob als Arbeitende oder Unterstützende. Die Struktur der Gewerkschaftsföderation garantiert eine größtmögliche Unabhängigkeit der einzelnen Regionen und bewahrt, durch ihren bundesweiten und internationalen Verbund, vor lokaler und nationaler Borniertheit. So wichtig es ist, Solidarität innerhalb der Alternativwirtschaft aufzubauen, so wichtig ist der Schulterschluss mit den Beschäftigten in konventionellen Betrieben. Ziel muss die Übernahme aller Produktionsmittel sein, will sich die Arbeiterklasse nicht in zwei Gruppen spalten lassen, indem Beschäftigte solidarischer mit denen kapitalistischer Unternehmen in Konkurrenz gegeneinander antreten. Die vermeintliche Solidarität in der Genossenschaft wird allein auf dem Markt gerade nicht zu einem gesamtgesellschaftlichen Wert, sondern wird im Gegenteil zu einem Teil des Konkurrenzprinzips. Wie bei einer durch Staatsgrenzen definierten Solidargemeinschaft wirkt sie exklusiv. Die grundlegenden Verhältnisse werden nicht angetastet.
Der Syndikalismus profitiert durch die Stimulierung der Vorstellungskraft und die Impulse aus den realen Selbstverwaltungserfahrungen. Durch den entstehenden öffentlichen Diskurs über alternative Wirtschaftsformen wird eine Möglichkeit geboten, seine Konzepte wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gerade auch AktivistInnen können offen sein für Impulse aus syndikalistischer Theorie und Praxis. Daher sollten SyndikalistInnen ihre Rolle innerhalb der Solidarischen Ökonomie besonders dahingehend verstehen, zu ihrer Radikalisierung beizutragen, d.h. die Brücke zu einer gesamtgesellschaftlichen, sozial-revolutionären Perspektive zu bilden.
Thorsten Endlein
[1] Aus Interviews für den Dokumentarfilm Viva a Utopia. Solidarische Ökonomie in Deutschland und Brasilien (BRA/D) 2008/09; wird in Kürze veröffentlicht und umsonst erhältlich sein. Infos dazu auf der Internetseite des Vereins zur Förderung der Solidarischen Ökonomie e.V.: www.vfsoe.de.
[2] Hierbei handelt es sich um eine Art Arbeitsverhältnis, das im brasil. Großgrundbesitz sehr verbreitet ist: ArbeiterInnen leben dabei unter prekären Lebensbedingungen; sie sind dauerhaft verschuldet, da ihnen Unterkunft und Verpflegung überteuert berechnet werden.
[3] Siehe Anm. 1.
[4] Zur Vertiefung siehe: Bernardi, „Für wen und für was arbeiten wir?“, in: Müller-Plantenberg u.a. (Hg.), Solidarische Ökonomie in Deutschland und Brasilien, Kassel 2005, S. 199-208; sowie Müller-Plantenberg, „Solidarische Ökonomie in Brasilien“, in: Altvater & Sekler (Hg.), Solidarische Ökonomie, Hamburg 2005, S. 112-23.
[5] Siehe Anm. 1.
[6] Basierend auf einem Interview mit Kristina Bayer vom VfSOe (siehe auch Anm. 1).
[7] Altvater, „Solidarisches Wirtschaften: prekär oder emanzipativ?“, in: Altvater & Sekler (s.o.), S. 9-21.
[8] Siehe dazu auch den Artikel »Hand in Hand« in derselben Ausgabe.
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
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