Ein Interview mit einem anarchosyndikalistischen Lehrer
Selten berichten wir in dieser Zeitung über Klassenkämpfe in Afrika. Sowohl aktuell als auch historisch betrachtet gehört der Kontinent sicherlich nicht zu den Weltregionen, in denen sich eine vitale oder gar mächtige anarchosyndikalistische Bewegung entfalten konnte. Eine Tatsache, die sich aus der Geschichte Afrikas erklären lässt, wo im letzten Jahrhundert in erster Linie die Kämpfe der antikolonialen und meist nationalen Befreiungsbewegungen im Mittelpunkt standen. Nun ist es aber, wie wir alle wissen, nicht so, dass die Menschen in Afrika keinen Kapitalismus, keine Klassenverhältnisse und keine Klassenkämpfe kennen würden. Um diese Kämpfe am Beispiel Algeriens deutlicher ins Blickfeld zu rücken, veröffentlichen wir an dieser Stelle ein aus dem Französischen übersetztes Interview. Interviewpartner war der algerische Anarchosyndikalist Achour Idir. Er ist aktiv im Conseil des Lycées d’Algérie, dem Rat der algerischen Oberschulen.
Achour, kannst du uns deine Organisation vorstellen?
Achour: Der CLA ist eine im Bildungssektor verankerte Gewerkschaft, in welcher sich in erster Linie Lehrer aus den Gymnasien organisieren. Wir unterstützen aber auch die Kämpfe in anderen Sektoren. Der CLA wurde 2003 gegründet. Wir sammeln uns hinter drei Hauptforderungen: Einer hundertprozentigen Lohnerhöhung für die algerischen LehrerInnen, der Schaffung einer gesetzlichen Arbeitsgrundlage für die Lehrkräfte und einer Rente, von der man nach 25 Jahren im Beruf in Würde leben kann. Heute vereinigt der CLA über 15.000 Lehrer und Lehrerinnen.
Die algerische Gewerkschaftslandschaft im Bildungssektor ist stark bürokratisiert und korrumpiert. Wir stellen hier mit unseren Positionen und unserem Engagement einen Bezugspunkt auf der Grundlage des Klassenkampfes dar.
In welche Konflikte war der CLA bisher involviert?
Achour: Als der CLA 2003 gegründet wurde, führte er einen Streik mit den drei oben genannten Forderungen durch. Der Streik dauerte drei Monate und endete mit Teilerfolgen: Es gelang eine Lohnerhöhung von 5.000 Dinars (A.d.Ü.: ca. 50 Euro) für alle BildungsarbeiterInnen durchzusetzen.
Eine andere Bewegung mit ähnlichem Charakter wurde vom CLA 2005 innerhalb der Intersyndicale de l’éducation – eines Bündnisses der kämpferischen Gewerkschaften im algerischen Bildungssektor – initiiert. Diese Bewegung nahm in den Jahren 2006, 2007 und 2008 immer wieder Fahrt auf und verbreiterte sich im letzten Jahr zur Intersyndicale de la fonction publique (Gewerkschaftliches Bündnis der Öffentlichen Dienste), wo nun auch Gewerkschaften aus dem Öffentlichen Sektor involviert sind.
Im Sommer 2008 führten wir einen sehr schwierigen Streik von LehrerInnen mit befristete Verträgen durch. Die Streikenden schreckten auch vor einem 45-tägigen Hungerstreik nicht zurück. Leider ohne Ergebnisse.
Wie zeigt sich die algerische Gewerkschaftslandschaft im allgemeinen momentan?
Achour: Für eine lange Zeit spielte sich alles im Bezug auf Gewerkschaften in Algerien um eine einzige Zentrale ab – die Union Générale des Travailleurs algériens (UGTA).
Die UGTA wurde am 24.Februar 1956 gegründet. Sie war die erste algerische Gewerkschaft und entstand aus der antikolonialen und nationalen Befreiungsbewegung, wurde aber nicht von revolutionären Politikern dominiert. Ihre Gründungsmitglieder waren in erster Linie algerische Mitglieder der französischen Gewerkschaften Confédération Générale du Travail (CGT) und der Confédération Française des Travailleurs (CFDT). Ich möchte betonen, dass sich die UGTA am Rand der Befreiungsbewegung entwickelte. Diese Autonomie behielt sie aber nur bis zu Unabhängigkeit Algeriens. In der Folge wurde sie in den Staatsapparat integriert, kontrolliert von denen, die die Macht haben. Sie ist die einzige von der Regierung anerkannte Gewerkschaft.
Im Gegensatz zu dieser staatlich integrierten Gewerkschaft gibt es auch eine autonome Gewerkschaftsbewegung, von der der CLA ein Teil ist. Diese andere Art von Gewerkschaft hat hier aber kein einfaches Leben, denn die Handlungsfreiheit für Gewerkschafter in Algerien ist sehr stark eingeschränkt. Alle Streiks die von Arbeiterorganisationen initiiert werden, die unabhängig von den Autoritäten sind, werden systematisch illegalisiert. GewerkschafterInnen werden von den bewaffneten Repressionsorganen verhaftet. Wir können keine Gewerkschaftslokale eröffnen, unsere Organisationen werden nicht anerkannt.
Die Mächtigen geben sich keinen Illusionen hin: Das Gewerkschaftsbündnis des Öffentlichen Dienstes repräsentiert die kämpferische Linie der algerischen Gewerkschaftsbewegung. Deshalb wenden sie Diskreditierungsstrategien gegen uns an. Sie organisieren eigene „Autonome Gewerkschaften“, Kopien der echten. Es gibt einen Klon des CLA und weitere Klone von anderen kämpferischen Gewerkschaften. Sie hoffen auf diese Weise, Konfusion stiften zu können.
Gibt es eine anarchosyndikalistische oder libertäre Bewegung in Algerien?
Achour: Es gibt keine Organisation, die sich offen als anarchosyndikalistisch bezeichnet. Aber es gibt anarchosyndikalistische Aktivistinnen und Aktivisten, welche in den unterschiedlichen Gewerkschaften organisiert sind. Wir sind vielleicht nicht viele, aber wir existieren.
Kannst du die soziale Situation in Algerien für uns zusammenfassen?
Achour: Die soziale Situation wird durch einen extremen Grad der Armut gekennzeichnet. Die meisten Familien haben ein Einkommen, welches ihre Ausgaben nur für 15-20 Tage im Monat deckt. Für die restlichen Tage müssen sie sehen, wie sie über die Runden kommen. Viele Staatsangestellte sind hoch verschuldet. Die Arbeitslosigkeit liegt bei ca. 17%, unter jungen Leuten höher. Im öffentlichen Sektor, welcher in Algerien eine große Rolle spielt, haben viele ArbeiterInnen befristete Verträge. Die Korruption ist faktisch auf allen Ebenen des Staates legalisiert.
Auch wenn der größte Teil der algerischen Wirtschaft unter staatlicher Kontrolle steht, existiert doch auch ein kleiner privaten Sektor. Wie ist die Situation für Gewerkschaften dort?
Achour: Es gibt keine Gewerkschaften im privaten Sektor. Das ist eine Folge der Tatsache, dass die ArbeiterInnen im privaten Sektor sehr kurzfristige Verträge haben. Oft arbeiten sie auch ganz ohne Verträge. Diese ArbeiterInnen befinden sich in einer sehr schwachen Position. Sie haben Angst, ihre Jobs zu verlieren, wenn sie eine Gewerkschaft gründen.
Einige letzte Worte?
Achour: Wir unterstützen alle Kämpfe, welche eine größere soziale Gerechtigkeit zum Ziel haben, und wir sind davon überzeugt, dass sich diese Kämpfe lohnen.
Vielen Dank für das Interview.
Interview: Jérémie Berthuin (Internationales Sekretariat der CNT-F)
Übersetzung: Robert Ortmann/Hansi Oostinga
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