1980 begann Alexander Hacke, bei den Einstürzenden Neubauten zu spielen. Sein musikalisches Leben ist jedoch darüber hinaus von einer beachtlichen Abwechslung und Vielzahl geprägt; ob Industrial, New Wave, Klezmer, Metal und noch vieles mehr, Alexander scheint schon alles gespielt zu haben. Mit Hieroshima landete er 1982 einen internationalen Erfolg. Hacke komponiert seit den frühen 90ern auch Filmmusik, u.a. für den Streifen Gegen die Wand von Fatih Akin. Zusammen mit Danielle und den Tiger Lillies erarbeitete Alexander das musikalische Bühnenspiel Mountains of Madness.
Woher kam die Idee für euer Performance-Projekt „Ship of Fools“, mit dem ihr seit 2007 weltweit unterwegs seid?
A.H.: Vor Jahren hatten wir in Berlin die nach dem Strip-Club der Sopranos benannte Veranstaltungsreihe „Bada Bing“ konzipiert. Im „Big Eden“, dieser Blue Print für eine Diskothek, haben wir an einem Abend meistens drei möglichst unterschiedliche musikalische Acts aufeinandertreffen lassen, zum Beispiel eine Rockabilly-Band, ein Electro-Clash-Playback-Projekt und ein Nasenflöten-Orchester. Langhaarige Metal-Leute konnten endlich mal junge Techno- oder Electro-Girls kennenlernen. Ich bin ja prinzipiell gegen Ghettoisierungen. Mit dem Projekt und den folgenden, also „Mountains of Madness“ und „Ship of Fools“, haben wir für Reibungen und Öffnungen gesorgt. Denn nur so kann wirklich Neues entstehen.
D.d.P.: Nach einem Jahr des Managens von „Bada Bing“ hatten wir ehrlich gesagt die Schnauze voll, nur organisatorisch zu arbeiten. Wir wollten wieder selber kreativ werden. Bei unserem dann folgenden Projekt „Mountains of Madness“ mit den Tiger Lillies haben wir dieses Prinzip des konfrontativen Zusammenführens verschiedener Kunststile fortgesetzt.
Mit „Ship of Fools“ seid ihr dann künstlerisch noch ein Stück weiter gegangen…
D.d.P: Nach den „Mountains of Madness“ waren wir auf der Suche nach einem Projekt, das wieder viele Kunstbereiche zusammenführt, hier also Literatur, Bild, Sprache und Musik. Als uns das Buch „Das Narrenschiff“ von Sebastian Brant in die Hände fiel, erschien es uns als perfekte Vorlage.
A.H.: Wir wollten eine audiovisuelle Performance entwickeln mit gleichwertig ausgeprägten hörbaren und visuellen Aspekten.
Das Buch von Sebastian Brant ist 1494 als Moralsatire erschienen und wurde sogleich in alle möglichen Sprachen übersetzt. Die Narrheit im Werk von Brant wird ja verstanden als mangelnde Einsicht in die Anforderungen des Lebens. Bei Foucault verkörpert dagegen „der Hofnarr die Wahrheit im Zustand der Freiheit“. Welche Funktion üben eure Narren aus?
A.H.: Im Mittelalter wurden nicht nur Irre, sondern alle gesellschaftlichen Outcasts ausgestoßen und auf Schiffe verfrachtet, damit die normale Gesellschaft ihre Ruhe hatte. Dann ist der Sebastian Brant gekommen, hat die damalige Gesellschaft mit den Insassen der Schiffe verglichen und ihr den Spiegel vorgehalten.
Welche Brisanz hat dieser mittelalterliche Text heute?
A.H.: Zur Zeit der Bush-Regierung gab es diese religiöse Überspitzung, den extremen Hass auf den Islam und den christlichen Fundamentalismus.
D.d.P.: Ich als Amerikanerin war sehr unglücklich wegen der Politik von George W. Bush. Ich fragte mich, was kann ich als Künstlerin tun. Dann kamen wir auf die Idee, die politische und soziale Situation von heute mit der des Mittelalters in Beziehung zu bringen.
A.H.: Das hat uns sehr inspiriert, den Text von Sebastian Brant anders oder neu zu deuten. Die Zeit heute ist weitaus härter als die von ihm Beschriebene. Auf gar keinen Fall zeigen wir mit dem Finger auf jemanden. Vielmehr führen wir an uns selber vor, wie besessen, wie gierig wir sind. Wir tragen diesen Wahn zu den Leuten und bringen sie dazu, über sich selber nachzudenken. Wir verfrachten also das Buch auf ein Schiff zurück und lassen dieses um die Gesellschaft herum schippern.
Das Diktat der Gesellschaft ist ja, dass man ihren Regeln und Richtlinien folgt, statt sich für Eingebungen zu öffnen. Inspirationen sind ja letztlich eine Eingebung von außen, wofür du deinen Kopf öffnen musst. Wenn du aber in der Gesellschaft funktionieren willst, werden diese Sinneswahrnehmungen, wird dein Kopf ausgeschaltet. Da passt das Dostojewski-Zitat, demzufolge nur verrückte Menschen Geister sehen, was nicht heißt, dass es keine Geister gibt.
Wie sehen denn so die Reaktionen des Publikums auf eure Auftritte aus?
D.d.P.: Wir lesen einen alten Text aus der Zeit, als Columbus Amerika entdeckt hat, mit unglaublich moralischen Sichtweisen, die genau im Gegensatz zur heutigen Populärkultur stehen, in der es nur um Sex und Ego-Entfaltung geht. Dann setzen wir noch laute und direkte Rockmusik gegen den alten Text. Meistens reagiert unser Publikum irritiert. Jedenfalls gibt es nach den Shows jede Menge interessante und kontroverse Gespräche.
Jorinde Reznikoff / Klaus-Peter Flügel
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