Kultur

Mir seynen do

Eine bewegende ‚oral history‘

Im Frühjahr 2009 lief der Spielfilm “Defiance” über eine jüdische PartisanInnengruppe in den Kinos. Der Film ist ob seiner fiktiven, auf einen Helden zentrierten Inszenierung umstritten. Ganz anders ist “Mir zeynen do!”, ein Dokumentarfilm über den Ghettoaufstand und die PartisanInnen von Bialystok in Ostpolen: Jüdischer Widerstand gegen die deutschen Besatzer.


Die deutsche Wehrmacht marschierte am 27. Juni 1941 in die ostpolnische Stadt Bialystok ein, und mit ihr die SS. Bialystok hatte damals 120.000 EinwohnerInnen, etwa die Hälfte davon war jüdisch. Vor diesem Hintergrund erzählen Chaika Grossmann, Lisa Czapnik und Anja Rud, wie sie sich als junge Frauen in Bialystok gegen die Deutschen, gegen die Shoah gewehrt haben. An den Beginn des Filmes haben Ingrid Strobl (Buch und Regie) und Dorothee Plaß (Ton und Schnitt) eine Aussage von Lisa Czapnik gesetzt: “Wichtig war nicht unser Leben. Wichtig war, etwas zu tun.”

Chaika Grossmann wurde schon als Schülerin Mitglied bei der linkszionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair: “Wir wollten eine Gesellschaft der Gerechtigkeit und Gleichheit aufbauen, das war wohl nur in einem neuen Land möglich.” Aber 1941 beschlossen die Mitglieder von Hashomer Hatzair, nicht nach Palästina zu gehen, sondern in den von den Deutschen besetzten Ländern zu bleiben. Sylvester 1941/42 verbreiteten sie den “Aufruf Wilnaer Juden”, in dem es heißt: “Wo sind die hunderte Juden, die litauische Kollaborateure ‘zur Arbeit’ geholt haben? … Gehen wir nicht wie die Lämmer zur Schlachtbank! Die Antwort kann nur lauten: Selbstverteidigung! Es ist besser zu kämpfen, als freie Menschen zu sterben, als von der Gnade der Mörder zu leben.”

Die todbringende Täuschung von der Kooperationsmöglichkeit mit den Deutschen

Im Ghetto von Bialystok schliessen sich die kleinen Widerstandsgruppen von Hashomer Hatzair, Kommunistischer Partei und des jüdischen Bundes zusammen. Ihnen gegenüber steht der von den Deutschen eingesetzte Judenrat. Dessen Vorsitzender erklärt, dass anstatt durch Widerstand das Ghetto durch Arbeit für die Deutschen gerettet werden könne. Die Angst vor der übermächtigen Gewaltmaschinerie der Deutschen treibt viele in die Wehrlosigkeit. Und so kommt es am 2. Februar 1942 dazu, dass nach Listen des Judenrates sich Tausende zur Deportation ins Vernichtungslager Treblinka versammeln müssen. Die Widerstandsgruppen teilen sich daraufhin auf, um mit Molotowcocktails, Äxten und Hämmern gegen ihr Ende im Vernichtungslager zu kämpfen. Chaika Grossmann erzählt: “Eine Gruppe ging mit ihren Waffen mit in den Deportationszug. Als sie in Treblinka ankamen, der Zug geöffnet wurde, griffen sie sofort die Deutschen an, die den Zug umstellten und versuchten, sie zu töten. Es gab einen kurzen, harten Kampf, in dem sie alle fielen. Sie gingen nicht in die Gaskammern.”

Bildwechsel. Die Kamera schwenkt zu einem traurigen Lied über eine große Steinplattenfläche, darauf stehen und liegen unbehauene, schroffe Steine, kleine und große. Auf dem größten steht: Warschau. Dann bleibt die Kamera auf einem anderen großen Stein gerichtet, mit der Aufschrift: Bialystok. Ein Platz des Gedenkens, der Trauer in Treblinka.

Lisa Czapnik hat noch am Tag des deutschen Einmarsches in die nahe bei Bialystok gelegene sowjetische Stadt Grodno ihr Abitur gefeiert. Über ihren Widerstand erzählt sie: “Ich war ein junges Mädchen, ich hatte Angst vor der Dunkelheit. Aber um meine Familie, meine Schulfreundinnen zu rächen, habe ich begonnen zu kämpfen, um den Feind zu bestrafen.” Bei der endgültigen Liquidierung des Ghettos von Bialystok im Sommer 1943 wissen die Deutschen um zu erwartenden Widerstand und bereiten sich mit einem militärischen Großaufgebot vor. Dennoch gelingt es den gerade mal 300 jüdischen KämpferInnen , die sich hatten bewaffnen können, das Ghetto 6 Tage lang zu verteidigen. Die sechs jungen Frauen, die als einzige diesen Kampf überleben, tauchen als katholische Polinnen getarnt unter, und organisieren das antifaschistische Komitee. Als solches dienen sie als Verbindungsstelle zwischen WiderstandkämpferInnen in der Stadt und den jüdischen PartisanInnen im Wald. Darüber hinaus organisieren sie Waffen und erkunden Ziele für Anschläge. Im Antifaschistischen Komitee sind auch zwei Deutsche, die in Bialystok arbeiten. Der Film zeigt, wie einer von ihnen, Otto Busse, der 1951 in Israel geehrt wurde, in der BRD von seinen Nachbarn als Vaterlandsverräter verachtet wird.

Respekt vor der schmerzenden Erinnerung

Chaika Grossmann, Lisa Czapnik und Anja Rud sprechen über ihren Widerstand mit einer unaufgeregten Selbstverständlichkeit, auch über die Schwierigkeiten des illegalen Kampfes, über Ängste – und über Trauer. Der Regisseurin Ingrid Strobl und ihrem Kameramann Manfred Linke ist es gelungen, die drei Frauen nicht vorzuzeigen als Bebilderung eines vermeintlich allwissenden Kommentars. Vom derzeit üblichen Geschichts-Entertainment hebt sich “Mir zeynen do” durch einen empathischen, solidarischen Blick auf die PartisanInnen ab.

Die Kamera bleibt in ruhigen Einstellungen auf den Gesichtern, ohne Mätzchen, die ProtagonistInnen werden nicht zu Objekten degradiert, sie sind gleichberechtigtes Gegenüber der Interviewerin Ingrid Strobl. Dieser Umgang auf gleicher Augenhöhe nimmt die Frauen ernst, gibt ihrer Geschichte Raum, ihrer stillen Wut und Trauer, ihrem Aufbegehren gegen die übermächtigen Deutschen, ihrer Erinnerung.

Anmerkungen und Bezugsquellen

Der anderthalbstündige Film “Mir zeynen do!” von 1992 ist bis heute nicht im deutschen Fernsehen gezeigt worden – nur in Teilen im Schulfernsehen. Dazu die ProduzentInnen von KAOS-Film: “Unsere Versuche, diesem Film 1992 einen Sendeplatz zu verschaffen, blieben […] ohne Erfolg. So produzierten wir ihn auf eigene Rechnung, führten ihn in Veranstaltungen vor, verkauften Cassetten.” Georg Seeßlen schrieb 1993 in konkret, der Film sei in Deutschland wohl unsendbar: “Ganz offensichtlich ist also »Mir zeynen do!« nicht in den endlosen Fluß der Bilder und Nachrichten integrierbar, der uns das törichte Glück vermittelt, nach allen Richtungen in Zeit und Raum, in Emotion und Meinung , ununterbrochen »informiert« zu sein.” Daran hat sich auch siebzehn Jahre später nichts geändert.

Erhältlich ist “Mir zeynen do” für ca. 45 Euro bei KAOS Kunst- und Video-Archiv e.V., Gladbacher Str. 33, 50672 Köln; info@KAOS-Archiv.de. Oder als Download für 8 Euro unter http://tube.heimat.de/preview/index.php?id=22390

Gaston Kirsche

Die Redaktion der Direkten Aktion.

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Gaston Kirsche

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