Debatten über gesellschaftliche Transformationsstrategien stehen wieder hoch im Kurs. Vor allem die non-parlamentarische Linke bricht langsam mit dem gewohnten Unisono und macht sich tastend auf die Suche. Betriebliche und soziale Kämpfe, die Ökonomie als Kampffeld und Klassenfragen rücken immer mehr in den Mittelpunkt und lösen den narzisstischen Ansatz einer Politik des „richtigen Bewussteins“ allmählich ab. Dieser Trend kann durchaus als Indiz dafür verstanden werden, dass das syndikalistische Konzept etwas zu bieten hat, was die heutigen Erfordernisse einer emanzipatorischen Bewegung betrifft.
Dennoch wird der Syndikalismus häufig als relativ konzeptionslos wahrgenommen, seine Annahmen und Folgerungen sind wenig bekannt bis verkannt – ein Umstand, der mit Sicherheit auch auf die eigene mangelnde Theoriepflege zurückzuführen ist, die einer klaren Artikulation im Wege steht. Jahrzehntelange Prägung durch graue Literatur, die häufig nur eine Kanonisierung von Phrasen darstellte und sich zudem vielfach auf (Früh-)Theoretiker eines allgemeinen, häufig diffusen Anarchismus beschränkte, haben ihre Spuren hinterlassen. Originäre Theoriebeiträge aus dem bewegungsspezifischen Konzept „Syndikalismus“ gingen häufig unter. So kursierten im modernen Syndikalismus zwar allerorts die zentralen Schlagwörter (Selbstorganisation, direkte Aktion, Föderalismus usw.), doch traten sie einem meist nur als grobe und somit breit interpretierbare Hüllen entgegen.
Auch die FAU war lange davon geprägt und entfaltete ihr syndikalistisches Profil erst allmählich. Einiges ist noch aufzuholen, denn das hinterlassene Erbe ist reichhaltig. Es beinhaltet nicht wenige Überlegungen, die in vielerlei Hinsicht auch den Marxisten das Wasser reichen können, denen ja eine Führungsrolle in Sachen revolutionärer Theorie nachgesagt wird. Der Syndikalismus glänzt dabei vor allem im Bereich der Organisationsfrage und der Revolutionstheorie, wo schon früh Feststellungen kursierten, die sich mit Erkenntnissen aus der modernen Soziologie decken. Man könnte sogar sagen, dass die syndikalistische Gedankenwelt ein originäres Erklärungspotential in sich trägt, das nicht nur zu einem besseren Verständnis über das Scheitern der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert, sondern über die Abgründe dieser Zeit generell beitragen kann.
Sicher, der Syndikalismus war ursprünglich weniger ein Projekt, das aus der Theorie erwachsen ist. In einer Art Reflexion seines Erfolges, der gewissermaßen „das Resultat einer langen Praxis [war], die durch die Verhältnisse geschaffen wurde“ (V. Griffuelhes), entwickelte sich jedoch ein theoretisches Grundgerüst, in dem die wesentlichen Grundsätze und die Wirkmechanismen des Syndikalismus definiert wurden.[1]Zur syndikalistischen Theoriebildung, siehe Oostinga, „Wir kriegen nur, wofür wir kämpfen!“, in: Degen & Knoblauch (Hg.), Anarchismus 2.0, Stuttgart 2009. Daraus sind auch die Zitate franz. Syndikalisten entnommen. Geschah dies mitunter auch unzureichend, so bleibt der eigentliche Kern seiner Ideen davon unberührt. Sein Niedergang und seine lange Marginalität mögen es erschweren, das Interesse auf ihn zu lenken; als „historischer Verlierer“ ist sein Gehalt aber nicht unbedingt falsch.[2]Wie es so schön heißt: „Die Idee war gut, doch die Welt noch nicht bereit.“
Olle Kammellen frisch serviert – der Marxismus-Disput als Strukturfrage
Für viele leidig, aber unumgänglich: Die syndikalistische Konzeption lässt sich am besten verstehen, wenn man sie in den Kontrast zu anderen Konzepten revolutionärer Emanzipation stellt, insbes. zum politischen Marxismus.[3]Hier muss klar betont werden: Zu Marx´ Theorie steht der Synd. nicht unbedingt im Widerspruch, sehr wohl aber zum (polit.) Marxismus. Denn der Syndikalismus, dessen Grundlagen sich im Rahmen der Ersten Internationale herausbildeten, verstand sich von Anfang als Gegenentwurf zum Organisations- und Revolutionsmodell des Marxismus. Wesentlich beeinflusst durch die anarchistische Tradition der frühen Arbeiterbewegung, von französischen Syndikalisten wie Émile Pouget als eigenständiges Konzept theoretisch umrissen und im frühen 20. Jahrhundert international zu seinem Höhepunkt gelangt, behielt er trotz aller Radikalität (oder besser: gerade deswegen) eine starke Ablehnung gegen die marxistischen Organisationen – zunächst die der Sozialdemokratie, später auch die der Kommunisten – bei. Zugrunde lag dem die Annahme, dass bestimmte Organisationsformen und Methoden nicht für emanzipatorische Prozesse geeignet seien, da sich aus ihren Grundkonfigurationen Eigendynamiken entwickeln, deren tatsächliche Effekte selbst den ehrbarsten Zielen zuwiderlaufen. Mit der Behandlung dieser Struktur- und Methodenfrage antizipierten Anarchisten/Syndikalisten gewissermaßen die spätere Organisationssoziologie, wie sie z.B. von dem Politologen Robert Michels entwickelt wurde.[4]Vgl. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Leipzig 1911. Die Person Michels ist wegen seines späteren Werdegangs als ital. Faschist selbstredend mit Vorsicht zu genießen.
Was unsere Vorfahren eher intuitiv formulierten, weiß die moderne Soziologie, die sich dem Zusammenhang von Handlung und Struktur widmet, zu bestätigen: Denn die tatsächliche Praxiswirkung wird entscheidend herbeigeführt durch die Strukturen von Organisationen; sie wirken konstitutiv, kanalisieren Interaktionsprozesse und bestimmen das Feld und die Form des aktiven Handelns. Zum anderen wirkt das damit verbundene politisch-strategische Konzept sozialisierend; es befördert bestimmte Rationalitäten, Mentalitäten und Bewusstseinsformen.[5]Siehe z.B. das Einführungswerk von Schimank, Handeln und Strukturen, Weinheim 2002. Intention und Funktion einer Organisation oder gar Bewegung sind somit klar voneinander zu trennen.
Auf dieser Ebene findet sich denn auch ein entscheidender Schlüssel, um z.B. die Degeneration der sozialistischen Revolutionen zu erklären. Weder erklärt sich deren Tragödie durch falsche Personalentwicklungen (z.B. ob Lenin, Trotzki oder Stalin) noch durch spezifische politische Entscheidungen, die bspw. auf Grundlage einer falschen Marxismusinterpretation getroffen worden seien. Der Lauf der Geschichte ist keine Frage der richtigen Analyse. Kollektive Prozesse der Integration, Oligarchiebildung, Machtdynamik usw. sind größer als der Handlungsspielraum einzelner Persönlichkeiten, der wesentlich durch die umgebenden Strukturen bedingt ist. Die sog. „antiautoritäre“ Kritik am Marxismus war deshalb niemals ein moralischer Selbstzweck, sondern galt immer dem Zusammenhang von Struktur bzw. Methode und Wirkung.
Die häufig im innerlinken Disput zu hörende Aussage: „Wir wollen doch das Gleiche!“ geht insofern völlig am Thema vorbei. Es geht nicht darum, was die vermeintlich gemeinsame Zielvorstellung ist. Der noch so gefestigte Glaube an das richtige Reiseziel nützt dem Zugreisenden nichts, wenn er sich auf dem falschen Gleis befindet. Syndikalismus kann deshalb auch als Versuch verstanden werden, den zum Ziel führenden Streckenverlauf ausfindig zu machen.
Versucht man nun, die Eckpunkte der syndikalistischen Konzeption zu systematisieren, so kristallisieren sich verschiedene Aspekte heraus, deren Implikationen sich gegenseitig bedingen und insofern nicht klar voneinander zu trennen sind:
1. Bestimmung des Kampffeldes
Der Syndikalismus lehnt das Primat des staats- und parteipolitischen Kampfes ab und betont die Notwendigkeit der ökonomischen Aktion. Dem zugrunde liegt das Verständnis, dass die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wesentlich (doch nicht nur) durch die Produktionsverhältnisse bestimmt sind – ähnlich der materialistischen Gesellschaftsauffassung der Marxisten. Der Syndikalismus zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Menschen am meisten Gegenmacht in ihrer Rolle als Produzenten von Gütern und Dienstleistungen und nicht als Bürger entfalten können. Denn „in dieser Eigenschaft sind sie nicht nur in der Lage, ihre Arbeitskraft zurückzuhalten, sondern auch die Produktionsmittel und die Verteilung demokratisch zu übernehmen.“[6]Jakopovich, „Eine machtvolle Synthese“, DA Nr. 191. In ihrer Rolle als Bürger, in der sie vermeintlich gleich und frei wären, sind sie überwiegend auf indirekte politische Betätigung zurückgeworfen, die den Hebel nicht an der gesellschaftlichen Basis ansetzt. Eine nachhaltige Veränderung der Gesellschaft ist jedoch im Wesentlichen eine materiell-ökonomische Angelegenheit. Das ist die ganze Quintessenz, wenn es um den Gegensatz zwischen proletarischem und bürgerlichem Standpunkt geht. Der anscheinend für viele irreführende Begriff des Klassenkampfes kann insofern gerne als die Methode des ökonomischen Kampfes übersetzt werden.
Auch der häufig als ausschließend empfundene Begriff der „Arbeiterklasse“ oder „Arbeiterbewegung“ ist durchaus nicht hermetisch gemeint[7]Ein häufiger Irrtum, damit seien z.B. nur klassische Fabrikarbeiter gemeint., sondern dynamisch zu verstehen. Er ist keine Kategorie, die empirisch genau zu bestimmen ist und in die sich Menschen definitiv rein- oder rausrechnen lassen. Cornelius Castoriadis bringt es auf den Punkt:
„Das Proletariat ist keine durch seine Lage innerhalb der Produktionsverhältnisse objektiv oder durch seine historische Mission mythologisch definierte Klasse. Es erzeugt sich als Proletariat im und durch den alltäglichen Kampf gegen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse.“[8]Siehe Castoriadis, „Was heißt eigentlich Arbeiterbewegung?“, Bielefeld 1996.
Zwar kann die Stellung zu den Produktionsmitteln und die direkte oder indirekte Lohnabhängigkeit als vages Kriterium gelten[9]Oder negativ: Wer nicht im Besitz von Produktionsmitteln ist und/oder an der Arbeitskraft anderer verdient., die Sondierung erfolgt praktisch aber in den alltäglichen Interessenkonflikten. Ein mangelndes Bewusstsein über diese Interessen sagt erst mal noch nichts über Existenz von Klassen aus. Marx kannte dafür die Begriffe der Klasse „an sich“ und „für sich“. Wenn von der Arbeiterklasse als „revolutionärem Subjekt“ die Rede ist, sollte das deshalb nicht so verstanden werden, sie besitze per se das bessere Bewusstsein.[10]Der sog. „Proletarierkult“ hat diese Frage lange dahingehend banalisiert. In unserer Rolle als ArbeiterInnen – das ist der springende Punkt – haben wir nunmal „die Möglichkeit zur Revolution“, eben aufgrund dessen, den Hebel an den Produktionsmitteln, dem kapitalistischen Fundament also, ansetzen zu können.[11]Siehe Bewernitz, „Klasse[n] von Gewicht“, in: Mümken (Hg.), Anarchismus in der Postmoderne, Frankfurt a.M. 2005.
Die Trennung von politischem und ökonomischem Kampf (Partei – Gewerkschaft), wie sie die marxistische Bewegung praktizierte[12]Dies geht zurück auf die Politiker Marx u. Engels, die in der IAA eine verbindliche Linie zum Aufbau von nationalen, zentral organisierten Parteien durchsetzten und mit dem Kurs des ökonomischen Kampfes und den föderalen Strukturen brachen., wird in Konsequenz vom Syndikalismus abgelehnt. Stattdessen sollen mit ökonomischen Mitteln gesellschaftspolitische Ziele erreicht werden. Die revolutionäre Gewerkschaft wird dabei als die passende Organisationsform, als Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Veränderung, angesehen. Nicht zu unrecht bediente sich der frühere ITF-Sekretär Edo Fimmen aus dem Fundus des Syndikalismus, als er ab 1924 für die Einheit des ökonomischen und politischen Kampfes in Form revolutionärer Gewerkschaften warb. Er sah darin nicht nur den Unterbau für sozialrevolutionäre Prozesse, sondern war sogar der Meinung, dass nur mit diesem Organisationsansatz die Arbeiterbewegung eine Waffe in der Hand habe, um gegen die Gefahren der Reaktion (insbes. des Faschismus) handlungsfähig zu sein.[13]Siehe Fimmen, Vereinigte Staaten Europas oder Europa-AG, Jena 1924.
2. Die Wahl der Waffen
Analog zur Bestimmung des Kampffeldes propagiert der Syndikalismus das Konzept der „direkten Aktion“, also ein direktes Eingreifen in die ökonomischen und sozialen Zusammenhänge ohne den Umweg über eine Partei und den Staat (indirekte Methodik). Verstanden als Gegenkonzept zu einer Politik der Stellvertretung, sollen Menschen unmittelbar zur Durchsetzung ihrer Interessen tätig werden, z.B. in Form von Streiks (auch politischen). Durch diese real-ökonomische „Repräsentation der Arbeit“ behält die Arbeiterklasse ihre Autonomie und macht sich nicht von Parteiapparaten abhängig, so dass sie den revolutionären Prozess jederzeit selbst bestimmt. Dies verdient einige Beachtung, denn es ist von größter historischer Relevanz:
Mit der Hegemonalisierung des arbeitsteiligen Konzeptes des Marxismus in der Arbeiterbewegung, das die Rolle der Gewerkschaften auf systeminterne Ausgleichsprozedere reduzierte, wurde die „eigentliche Arbeiterbewegung“, wie Engels einst die ökonomischen Kampforganisationen der Arbeiterklasse nannte, deaktiviert und entwaffnet. Denn ihre Macht lag im Wesentlichen im Produktionsbereich; der aber wurde entpolitisiert durch das arbeitsteilige Konzept, das politische Artikulation nur auf „bürgerlichem“ Wege, d.h. qua Stellvertretung durch die Partei, zuließ. War die Arbeiterbewegung einst auf sozialer Grundlage erwachsen, wurde sie so ideologisiert und zu einem Anhängsel von politischen Organisationen, wodurch eine Selbstgenügsamkeit der Bewegung (Autonomie) nicht mehr gegeben war. Es gibt gute Gründe zu behaupten, dass der Arbeiterbewegung – als sie sich von einer staatsorientierten Politik abhängig machte und in Konsequenz ihre Organisationen schrittweise in staatliche Strukturen und Prozesse eingebunden wurden – auch ein wichtiger zivilgesellschaftlicher Raum mit gesellschaftspolitischer Impulswirkung verlorenging.[14]Mit verheerenden Konsequenzen: Z.B. ist die mangelnde Resistenzfähigkeit der dtsch. Arbeiterbew. und ihre „Nationalisierung“ im frühen 20. Jh. wesentlich darauf zurückzuführen. Siehe Herr, Burgfrieden oder Klassenkampf, Neuwied/Berlin 1971. Dies ist ein Umstand, der uns v.a. in Deutschland noch heute belastet, wo die arbeitsteilige Tradition stets vorherrschend war. Das Unvermögen für politische Streiks rührt nicht unwesentlich daher.
Als „Partei der Arbeit“[15]„Partei“ im alten Sinne einer Gruppe gemeinsamen Interesses oder Standpunktes. sind „Taktik und Organisationsform [des Syndikalismus] originär“. Denn „auf dem neutralen Feld der Wirtschaft … verlieren die neu hinzustoßenden Elemente, die von dieser oder jener Denkschule … geprägt sind, ihre besondere Eckigkeit, um nichts als die allen gemeinsamen Prinzipien zu bewahren: den Willen zur Verbesserung und zur vollständigen Befreiung.“[16]Pouget, Parti du travail, Paris 1997 [1905], S. 226. Dieser an den unmittelbaren Interessen orientierte Ansatz markiert denn auch den wesentlichen Unterschied von einer revolutionären Organisation auf sozialer Basis zur politisch-ideologischen Organisationsform. Der Syndikalismus sieht darin die Möglichkeit, breite Massen in ein revolutionäres Projekt zu integrieren, sie zu aktivieren und emanzipatorische Potentiale freizusetzen.[17]Im Ggstz. zu Organisationsformen, die „richtiges Bewusstsein“ voraussetzen. Van der Walt & Schmidt betonen dies als zentralen Punkt der „broad anarchist tradition“; siehe grundlegend deren Black Flame, Oakland 2009.
Nicht zuletzt ist das Konzept direkter Aktion auch als effizientere Methode anzusehen, im Vergleich z.B. zur langwierigen parlamentarischen Tätigkeit, die Verbesserungen – wenn überhaupt – meist erst nach einem Erlangen von Mehrheiten zulässt.[18]Siehe z.B. zum aktuellen Problem der gesetzlichen Regelung von Praktika anstelle eines direkten betrieblichen Lösungsansatzes: Ortmann, „Das Prinzip Flächenbrand“, DA Nr. 194. Auch die vorherrschende, gewissermaßen doppelt indirekte Protestkultur der Linken, die fast ausschließlich der Logik folgt, über Öffentlichkeit Druck auf die Politik auszuüben oder Menschen zu „politisieren“ – z.B. in Form der allseits bekannten Gipfelproteste –, nimmt sich dagegen geradezu virtuell aus.[19]Siehe Marcks, „Basis statt Gipfel“, DA Nr. 180. D.h. nicht, diese Formen wären nicht legitim; es sollte nur klar sein, dass sie bestenfalls Kommunikationsmittel sind. Harald Beyer-Arnesen hat dies bereits direkt nach Seattle 1999 treffend verdeutlicht: „Wenn aus jeder Gemeinde, die vom … globalen Kapitalismus … betroffen ist, eine Person unter den Protestierenden … wäre, wären sie am falschen Ort …, um Veränderungen … zu erreichen.“[20]Beyer-Arnesen, „Direkte Aktion“, zu finden: auf www.fau.org (unter „Texte“). Oder anders ausgedrückt: Was sind schon eintausend Demonstranten gegen eintausend Streikende? Die „syndikalistische Artikulation“ ist dabei durchaus ein Mittel, das nicht nur in rein ökonomischen Belangen, sondern auch auf anderen sozialen Kampffeldern (Ökologie, Anti-Militarismus usw.), zum Einsatz kommen kann.[21]Siehe bspw. den Artikel von Jakopovich (s.o.).
3. Willen und Organisation
Im Gegensatz zum zentralistischen Organisationsverständnis sieht der Syndikalismus mit seinem Föderalismuskonzept eine weitgehende Selbständigkeit der Basiseinheiten vor. Der Syndikalismus, so meinte Camus, geht „von der konkreten Grundlage aus“; „er ist die Verneinung des bürokratischen und abstrakten Zentralismus“.[22]Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek b.H. 1969, S. 241. Pouget sprach vom „syndikalistischen Organismus“, bei dem auf jeder Ebene die Autonomie verwirklicht sei.
In der Tradition Proudhons, der den Föderalismus als „empirischen Typ der Ordnung“ begriff, sieht man im Föderalismus – als Abbild der sozialen und kulturellen Pluralität – den Garanten für eine vitale, dynamische Bewegung und gesellschaftlichen Fortschritt, während der Zentralismus – als Minderheitenimpulse nivellierendes Prinzip – zu Machtkonzentrationen und sozialer Erstarrung führt.[23]Siehe Rocker, Über das Wesen das Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus, Frankfurt a.M. 1979 [1923]. Im Syndikalismus „kommt der Impuls von bewussten Minderheiten, die – durch ihr Beispiel, ihren Elan, und nicht durch autoritäres Vorgehen – die prüde Masse in ihren Bannkreis ziehen und zur Tat animieren.“[24]Pouget, S. 226. Tatsächlich zeigt sich in der Geschichte immer wieder, dass einzelne beschränkte Kämpfe inspirierend wirken und blitzartig ganze Flächenbrände auslösen können.[25]Für eine Reihe solcher Beispiele siehe Marcks & Seiffert (Hg.), Die großen Streiks, Münster 2008. Denn „wenn sie erfolgreich sind, verbreiten direkte Aktionen eine Nachricht, die über ihre unmittelbaren Ziele hinausgeht und die die eigentliche Saat einer libertären, sozialen Revolution mit sich trägt“ (Beyer-Arnesen).
Von Anfang an verstand sich der Syndikalismus als „antiautoritärer“ bzw. „freiheitlicher“ Flügel der Arbeiterbewegung; die Kategorien von Freiheit und Mitbestimmung wurden von ihm als unerlässliche Bedingung für die Realisierung des Sozialismus verstanden. Statt hierarchischem Aufbau soll die Entscheidungsgewalt auf unterer, lokaler Ebene bleiben, so dass die Mitglieder nicht ihre Freiheit an die Organisation veräußern, sondern sie miteinander teilen. Als entscheidendes Instrument gilt das Prinzip des imperativen Mandates, wonach die Entscheidungen ausschließlich von der Basis nach oben zu delegieren und gewählte Funktionäre jederzeit absetzbar sind.
Die Tragweite dieses Aspekts darf nicht unterschätzt werden: Denn neben der Frage nach revolutionärem Zweck und Mitteln und einer effizienten Kampfform ist hierbei v.a. die psychologisch-kulturelle Komponente essentiell. Das Prinzip der direkten Aktion und die föderalistische Organisationsstruktur sollen selbstbewusste, partizipierende und aktive Mitglieder herausbilden[26]Vgl. Confederacion Nacional del Trabajo, ¿Que es la CNT?, o.O. 1977, S. 16f. Dort ist die Rede von der Herausbildung eines „militanten Typus“. Pouget wiederum spricht vom „Gewerkschafter als selbständiger Persönlichkeit“. und eine Verselbständigung von „Führern“ verhindern.[27]Die Entstehung von Quasi-Managerklassen, die strukturbedingt eine eigene Interessenlage und Rationalität herausbilden, darf nicht unterschätzt oder als Frage persönlicher Integrität banalisiert werden. Im Bezug auf den DGB siehe hierzu Marcks, „Hansen ist überall“, DA Nr. 189. Deswegen war für die Syndikalisten der Sozialismus auch schon immer eine „Kulturfrage“. Sie kritisierten die meisten marxistischen Organisationsformen deshalb auch dahingehend, dass sie Agenturen der Sozialdisziplinierung seien. In der Tat gibt es gute Gründe zu behaupten, dass z.B. die deutsche Arbeiterbewegung durch diese maßgeblich einer Disziplinierung und Entmündigung unterworfen wurde.
Die aktuellen Lektionen aus Frankreich mögen das verdeutlichen: Wie selbst Die Welt richtig feststellte, werden Konflikte in Deutschland „traditionell nicht vor Ort, sondern zentral von den Großverbänden ausgefochten. Anders [ist] das in Frankreich, wo die „direkte Aktion“ der Gewerkschaften im Betrieb eine wichtige Rolle [spielt].“[28]Welt Online, „Tätlichkeiten“ (30.03.2009). Die Folge dessen ist, dass sich Basisdynamiken nicht selten Bahn brechen, häufig in Form radikaler Methoden und weitgehender Forderungen. In Deutschland dagegen werden solche Prozesse durch die zentralisierte Struktur nicht nur gedeckelt, sie haben über die Zeit auch eine Kultur der Passivität geschaffen, so dass die Basis auch von der Führung nur schwer zu mobilisieren ist.
Auch „Iron Lady“ Maggie Thatcher hatte die Bedeutung dieser Strukturfrage früh erkannt und zog nicht umsonst den Gewerkschaften in Großbritannien den Zahn, indem sie einfach deren Verhandlungsstrukturen per Gesetz zentralisieren ließ. In Anlehnung an soziologische Erkenntnisse[29]Siehe grundlegend Calmfors & Driffill, „Bargaining Structure, Corporatism and Economic Performance“, Economic Policy, Nr. 6 (1988), S. 14-61. vertreten neoliberale Sozialtheoretiker tatsächlich die Auffassung, es bedürfe strikt zentralisierter Gewerkschaften, um die aus den Klassenantagonismen entspringenden Dynamiken in kontrollierbare Bahnen zu kanalisieren.[30]Siehe z.B. Aidt & Tzannatos, Unions and Collective Bargaining, Washington (Weltbank) 2002. So betrachtet, erfüllen Strukturen wie die des DGB tatsächlich, unabhängig von ideellen Absichten, eine den Kapitalismus stabilisierende Funktion.
Blick in die Ferne: die Revolutionstheorie
Alle bisher genannten Elemente des Syndikalismus spiegeln sich denn auch in seiner revolutionären Strategie wider, die nicht auf eine politische, sondern eine soziale Revolution abzielt. Rocker spricht in diesem Zusammenhang von „der Eroberung der Betriebe und des Grund und Bodens“ anstelle der politischen Macht.[31]Rocker, Nationalismus und Kultur, Bd. 1, S. 311 f.. Der Syndikalismus vernachlässigt „diesen äußerlichen Ansatz … [Er] arbeitet an der Veränderung der Mentalitäten, der Gesellschaftsformen und der wirtschaftlichen Beziehungen.“[32]Pouget, S. 209. Die Transformation der Gesellschaft soll somit radikal sein, also an ihren Wurzeln, an der sozioökonomischen Basis erfolgen. Orientiert man sich an Marx´ Basis-Überbau-Schema, wonach die ökonomische Basis den Überbau einer Gesellschaft bestimme, so lässt sich getrost behaupten, die Syndikalisten haben die Revolutionstheorie des politischen Marxismus – wonach der Staat erobert werden müsse, um die ökonomische Basis umzugestalten – vom Kopf auf die Füße gestellt.[33]Dies markiert den Unterschied zwischen dem Konzept einer sozialen und einer politischen Revolution. Tatsächlich hat auch Lenin z.B. seine Differenz zur klassischen Sozialdemokratie im Wesentlichen nur als eine taktische Frage auf dem Weg zum Sozialismus verstanden. Die Strategie (über die politische Macht) sah er in beiden Flügeln unverändert, wobei er diese Strategie klar von der sozialrevolutionären des „Linksradikalismus“ (u.a. Syndikalismus) abgrenzte.
In der syndikalistischen Theorie stellt die Aneignung der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse selbst die ultimative direkte Aktion dar.[34]Siehe z.B. Ramus, Generalstreik und direkte Aktion im proletarischen Klassenkampfe, Berlin 1910. Den Gewerkschaften kommt dabei vor allem die Rolle zu, Produktion und Konsumption neu zu organisieren, nach den Prinzipien des Föderalismus und der Partizipation. Der „syndikalistische Organismus“ soll den sozioökonomischen Organismus ablösen und ersetzen. Die syndikalistischen Organisationen sollen deshalb schon in der vorrevolutionären Phase der „Embryo der kommenden Gesellschaft“ sein. Zu diesem Zwecke kann er sogar bereits in der Gegenwart eigene alternative Wirtschaftsstrukturen integrieren.[35]Zum Konzept der Wirtschaftsföderation, siehe Marcks, „Hand in Hand“, DA Nr. 193. Die „Rekonfiguration der Gesellschaft“ (Van der Walt & Schmidt) muss dabei nicht auf das Ökonomische beschränkt bleiben; in Form von Sozialorganisationen können auch spezifische Gesellschaftsfelder wie die der Erziehung, des Wohnens, der Kultur usw. einbezogen werden.[36]Siehe z.B. das Modell der „gewerkschaflichen Sozialorganisation“ der portug. Syndikalisten; Merten, Anarchismus und Arbeiterkampf in Portugal, Hamburg 1981. „Die neue Gesellschaft in der Schale der alten aufbauen“ nannten das die Wobblies.
Dieses Revolutionsmodell wird aus verschiedenen Gründen als einzig gangbarer Weg der Emanzipation angesehen. Zum einen sollte selbstverständlich sein, dass eine freie und gleiche Gesellschaft nicht mit Strukturen von Macht und Differenz erreicht werden kann. Zum anderen bergen Revolutionen tatsächlich die Gefahr von Chaos und des Umschlagens in eine Reaktion in sich. Der weit verbreitete „Anti-Chaos-Reflex“ (R. Löwenthal) hat insofern eine gewisse Berechtigung. Geradezu fahrlässig ist es, Revolution als Akt statt als Prozess zu verstehen, oder allein auf die spontaneistische Kraft der Massen zu vertrauen. Alexander Schapiro betonte deshalb einst in einer Auseinandersetzung mit der CNT, dass Umwälzungen in „provisorischen“ Institutionen die revolutionäre Entwicklung hemmen oder gar vernichten würden. Der Syndikalismus betrachtet in diesem Sinne die organische Transformation des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens als Notwendigkeit, wenn die Arbeiterklasse die Kontrolle über den revolutionären Prozess behalten, unter keiner angeblichen „Übergangsphase“ leiden und sich nicht von taktisch gut aufgestellten Usurpatoren die Butter vom Brot nehmen lassen soll. Die Geschichte hat diesen Befürchtungen vielfach recht gegeben. Der späte Karl Korsch gelangte denn auch zu der Erkenntnis, dass der Marxismus nur die „negative Seite des Sozialismus“ (Abschaffung des Kapitalismus) benannt habe. Die „positive Seite“ des Sozialismus erblickte er im Syndikalismus und seinem „konstruktiven“ Revolutionsmodell.[37]Siehe seine „Zehn Thesen über den Marxismus“.
Aufgaben der Gegenwart
Syndikalisten betonen die Rolle der Gewerkschaften als „Schule der Revolution“. Denn „wenn die Gewerkschaften notwendig sind für den Guerillakrieg zwischen Kapital und Arbeit, so sind sie noch weit wichtiger als organisierte Kraft zur Beseitigung des Systems der Lohnarbeit und Kapitalherrschaft selbst,“ stellte schon der 1. IAA-Kongress 1866 fest. „Es gibt kein bloß reformistisches Element im täglichen Guerillakrieg um die Arbeitsbedingungen; wenn wir es darauf anlegen, tägliche Konkurrenz, Gefeilsche, Erpressung, Bestechung und Unterwerfung zu beseitigen, führt auch der Lohnkampf nicht zur Befriedung, sondern zur Ermutigung und Selbstorganisation.“[38]Gerd Fischer in der FAU-Debatte, Okt. 2006. Tatsächlich: Auch das aktuelle Beispiel der CNT Sevilla zeigt, wie deren Kämpfe einen Schneeballeffekt auslösen und viele ArbeiterInnen längerfristig aktivieren.[39]Louis Banos hat dies auf seiner BRD-Rundreise eindrucksvoll geschildert. Die Behauptung, konkrete Kämpfe würden zur Befriedung der Massen führen und per se eine „Affirmation“ des Systems darstellen, ist deshalb streng zurückzuweisen. Dies mag wohl für Stellvertreterapparate gelten, ganz gewiss aber nicht für Organisationsformen, die zur Basisaktivierung konzipiert sind. Die Geschichte des Syndikalismus kann diese Behauptung denn auch nicht bestätigen.
Es ist generell ein immenses Problem der Linken, dass sie ihre Postulate für die Praxis meist nur aus abstrakten Überlegungen ableitet. Die typische „Ums Ganze“-Diskussion ist hierfür ein gutes Beispiel. Es ist wahr, dass die Überwindung des ganzen kapitalistischen Systems her muss und es keinen Frieden, keine Gerechtigkeit mit ihm geben wird. Daraus aber herzuleiten, es dürften keine konkreten Kämpfe geführt werden, ist geradezu absurd. Es verunmöglicht jegliche Praxis. Es ist „Ausdruck eines falschen Menschenbildes“ wie Dutschke einst feststellte; und erst recht verkennt es das berechtigte Bedürfnis nach konkreten Verbesserungen.
Dennoch wird der Reformismus, worunter eine parlamentarische Strategie zu verstehen ist, sehr wohl vom Syndikalismus verworfen. Zwischen Reformen selbst und einer Revolution besteht aber kein Widerspruch. Im Gegenteil. Wohl kein Syndikalist ist der Meinung, mit alltäglichen Kämpfen um konkrete Verbesserungen ließen sich schrittweise der Kapitalismus ablösen und der Sozialismus einführen. Das Konzept, an den konkreten Interessen anzusetzen, dient vielmehr der Aktivierung. Es bindet die Menschen an eine revolutionäre Organisation; in ihren alltäglichen Kämpfen werden kollektive Erfahrungen gemacht und spitzt sich das Alltagsbewusstsein zum Klassenbewusstsein zu. In solch einer Bewegung entsteht eine Parallelität von Kämpfen, die sich gegenseitig befruchten und sich letztendlich zu einer revolutionären Entwicklung verdichten können. Fast jede revolutionäre Situation in der Geschichte war die Kulmination einer Reihe von ganz konkreten Kämpfen. Diese Tatsache darf man nicht vergessen. Darin besteht die Dialektik von Tageskampf und Revolution.
Eine revolutionäre Emanzipation ist nur mit der Masse der Gesellschaft möglich. Wer mit dieser nicht „arbeiten“ will, hat grundlegende Veränderungen bereits abgeschrieben. Das ist eine große Crux der heutigen Linken. Die Politik der Freiräume und des richtigen Bewusstseins hat sich als tiefe Sackgasse erwiesen. So wichtig auch bestimmte Freiräume sind, als die radikale Linke sich ausschließlich auf diese zurückgezogen hatte, hat sie auch eine zweite Freiraumsphäre geschaffen: nämlich die vollständige Abwesenheit emanzipatorischer Unterschwelligkeiten in der Mehrheitsgesellschaft. Über reaktionäre Entwicklungen muss man sich dann nicht wundern. Eine Bewegungskonzeption, die erst mal an den Interessen und nicht ideologisch am Bewusstsein ansetzt, bietet die einzige Perspektive, breite gesellschaftliche Prozesse zu radikalisieren.
Das geradezu Geniale am Syndikalismus ist, dass er sich nicht zwangsläufig am revolutionären Erfolg messen muss. Er verfolgt eine Emanzipationslinie, „ohne die Gegenwart der Zukunft oder die Zukunft der Gegenwart zu opfern“ (Pouget). Er kann im Rahmen jeglicher Gesellschaftsverhältnisse seine Position bestimmen und die momentan erforderliche Aufgabe angehen. Heute besteht diese in erster Linie darin, überhaupt Strukturen gewerkschaftlicher Selbstorganisation zu etablieren, damit sich kämpferische Dynamiken entfalten können. Auch unabhängig von einer eventuellen Machbarkeit revolutionärer Entwicklungen, kann er zumindest das jeweils Mögliche erreichen. Das Mindeste, was er z.B. in Deutschland erreichen kann, ist, mit seinem praktischen Beispiel die etablierten Gewerkschaftsapparate soweit unter Zugzwang zu setzen, dass sie sich zumindest ein stückweit klassenkämpferischer strukturieren und mehr Partizipation zulassen.[40]Siehe dazu Marcks, „Die marginale Gewerkschaft“, DA Nr. 187. Wie weit es wirklich gehen kann, hängt nicht nur von unserem Willen ab.
Sicher ist dies eine Strategie, die weniger von großen Spektakeln und wuchtigen Paukenschlägen begleitet wird. Auch das häufig artikulierte Kriterium, dass die Revolution Spaß machen soll, erfüllt sich eher selten. Aber die hohe Kunst der gesellschaftlichen Veränderung kann wohl kaum zu einer Frage solch eitler Bedürfnisse gemacht werden. Wahrscheinlich müssen wir uns wirklich die Revolution als das Langweiligste der Welt vorstellen.
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