Dass erboste Arbeiter im Juli diesen Jahres den Boss ihres zur Privatisierung vorgesehenen Stahlwerks zu Tode prügelten, sollte auch den letzten Illusionen westlicher Investoren und Helfersyndrom-geplagter NGOs über die Passivität, Disziplin und Opferrolle der chinesischen Arbeiterklasse ein Ende bereitet haben. Seit Beginn der 1990er Jahre verzeichnen Arbeiterproteste einen nicht zu leugnenden kontinuierlichen Zuwachs (siehe Grafik). Nichtsdestotrotz herrscht unter den (wenigen) BeobachterInnen chinesischer Arbeitskämpfe Uneinigkeit über deren Charakter und die Entwicklungsperspektiven.
Bevor wir uns den Debatten um die Potentiale des Arbeiterwiderstandes in China widmen [1], seien noch einmal die wichtigsten Veränderungen der Situation der arbeitenden Klassen seit dem Beginn der kapitalistischen Öffnungspolitik 1978 rekapituliert. In den städtischen Staatsbetrieben wurde ab den 1980er Jahren die Verfügungsgewalt des Managements gegenüber der Kontrolle der Parteiorgane und der ArbeiterInnen stetig ausgeweitet, ab 1995 folgten die flächendeckende Einführung von Arbeitsmärkten und eine großangelegte Privatisierungswelle. Der Produktionsprozess wurde nun gänzlich nach Profitabilitätskriterien umgestaltet, weshalb zwischen 1996 und 1999 jährlich sieben Millionen StaatsarbeiterInnen ihre Jobs verloren.
Auf dem Land wurde die maoistische Kollektivwirtschaft in Form von Volkskommunen durch eine Rückkehr zu kleinbäuerlichen Produktionsmethoden abgelöst, die auf der staatlichen Garantie haushaltsbezogener Landrechte beruhte. Mit der großangelegten Entwicklung ländlicher Industrieproduktion in den 1980er Jahren nahmen viele Bauern neue Jobs an, verloren jedoch ihre Landtitel nicht. Bis heute ist der typische ländliche Haushalt durch eine semi-proletarische Lage gekennzeichnet: ein Teil der Familie – vor allem die Alten – verbleibt auf dem Land, die Hauptquelle des Einkommens entspringt aus der Wanderarbeit eines oder mehrerer Familienmitglieder.
Die chinesische Binnenmigration – die mit einer Zahl von mittlerweile 200 Millionen MigrantInnen jährlich mehr Personen umfasst als die internationale Migration des gesamten Globus –ist das Rückgrat der Exportwirtschaft, die durch überseechinesisches und transnationales Kapital aus allen kapitalistischen Kernländern aus dem Boden gestampft wurde. Während die lokalen Kader der Kommunistischen Partei selbst als private Unternehmer tätig werden und in hohem Umfang öffentliches Kapital in die eigene Tasche wandern lassen, verhindert die institutionelle Trennung der Wohn- und Beschäftigungsmöglichkeiten von Land- und StadtbewohnerInnen, dass sich ArbeitsmigrantInnen uneingeschränkt in den Städten niederlassen können.
Die Verlagerung des Eigentums an Produktionsmitteln von einer bürokratischen Staatsklasse auf private und halbprivate Unternehmer und die Aufrechterhaltung der Trennung von Stadt und Land findet ihren Niederschlag in Form und Inhalt der Arbeiterproteste. In den Feldstudien der 1990er und frühen 2000er Jahre dominierte die Ansicht, dass Arbeiterwiderstand entlang der Unterscheidung StaatsarbeiterInnen vs. WanderarbeiterInnen begriffen werden müssten. Im Staatssektor führten Privatisierung, Bankrott und erodierende Renten- und Wohlfahrtsansprüche zu Widerstandsformen, die von kollektiver Arbeitsverweigerung bis zu Straßenblockaden reichten. Ziel war dabei primär die Einforderung gesetzlicher Kompensationsleistungen und der Erhalt von Arbeitsplätzen. WanderarbeiterInnen hingegen würden aufgrund nicht gezahlter Löhne, physischen Übergriffen und Arbeitsunfällen protestieren. Hier sei das primäre Ziel eine rechtliche Gleichstellung mit den städtischen ArbeiterInnen und eine Einhaltung von Arbeitsstandards. Dieser von Ching Kwan Lee veranschlagte Fokus auf „das Recht“ ging einher mit ihrer Charakterisierung der Proteste als „zellulärer Aktivismus, d.h. spontanen, lokal begrenzten Aktionen, die verebbten, sobald staatliche Stellen zur Regelung der Konflikte einschritten [2]. Für diese Interpretation spricht, dass die chinesischen Lokalbehörden tatsächlich, und in zunehmendem Maße, um die Schichtung von Arbeitskonflikten bemüht sind, um größeren Ausschreitungen vorzubeugen. Hier werden insbesondere die offiziellen Gewerkschaften aktiv, auch um zu verhindern, dass sich ArbeiterInnen in eigenständigen Zusammenschlüssen, die meist als NGOs getarnt sind, organisieren.
Aktuellere Untersuchungen bestreiten jedoch ebenso den von Lee betonten Legalismus wie die Gültigkeit der Unterscheidung von Protesten im Staats- und Exportsektor. Zwar bleibt festzuhalten, dass sich das Zentrum der Proteste seit den späten 1990er Jahren vom Staatssektor auf die private Leichtindustrie der Sonderwirtschaftszonen verlagert hat, doch hat die innere Umstrukturierung der verbleibenden Staatsbetriebe zu Ausbeutungsverhältnissen geführt, die auch städtische ArbeiterInnen in eine zunehmend ähnliche strukturelle Lage bringt.
Besonders scharf wird von BeobachterInnen wie Pun Ngai und Chris Chan die rechtliche Fixierung der Proteste zurückgewiesen. In einer Untersuchung von drei Streikwellen im südchinesischen Shenzhen 1997, 2004 und 2007 stellte Chan fest, dass in den früheren zwei Protesten rechtliche Normen als taktisches Mittel zur Einforderung besserer Arbeitsbedingungen genutzt wurden. Die Streiks 2007 gingen in ihren Forderungen jedoch weit über legale Standards heraus. Deutlich wurden aus Chans Studien zudem zwei weitere Trends: Zum einen richtet sich die Praxis der ArbeiterInnen unabhängig von ihrer subjektiven Wahrnehmung unmittelbar gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse, d.h. sie ist Klassenpraxis. Dies zu betonen ist wichtig, da die chinesische moderate Linke – das „sozialdemokratische“ Lager und NGOs – das „Problemthema WanderarbeiterInnen“ vor allem als eines fehlender Gleichstellung behandelt. Während der urbanen Arbeiterklasse ein „Klassenbewusstsein“ zugesprochen wird, weil sie ihre neuen Ausbeutungsverhältnisse in den vom Maoismus geprägten anti-kapitalistischen Termini artikuliert, entdecken auch progressive Intellektuelle in den Protesten der WanderarbeiterInnen meist eine fehlende Reife. Dabei konnte Chan jedoch zeigen, dass ArbeiterInnen ihre Erfahrungen aus vergangenen Widerstandsaktionen in vermehrtem Ausmaß weitergeben und die Zahl an „kampferprobten“ AktivistInnen zunimmt. Internet- und Handy-basierte Kommunikation ermöglicht eine schnelle Verständigung, die zur spontanen Solidarisierung benachbarter Fabriken oder gar geografisch weit getrennter Standorte des selben Unternehmens führen [3].
Diese Entwicklungen hängen auch mit einem demografischen Wandel zusammen. Seit Beginn der 2000er Jahre verlässt die zweite Generation von ArbeitsmigrantInnen die Dörfer – und hat anders als ihre Eltern auf das Stadtleben ausgerichtete Erwartungen. Während einige in ihren Dörfern kein Agrarland mehr besitzen oder nicht mehr wissen, wie sie es bestellen sollen, haben andere schlicht die Einöde des Landlebens satt und verlangen ihren Teil des Kuchens. Dass diese Erwartungen meist bitter enttäuscht werden – insbesondere während der jetzigen Krise, in der zwischen 20 und 40 Millionen WanderarbeiterInnen ihren Job verloren haben und in ihre Dörfer zurückkehren mussten – wird die Zahl von Arbeiterprotesten weiterhin ansteigen lassen. Das zentrale Problem bleibt jedoch nach wie vor das Integrations- und Gewaltpotential des kommunistischen Regimes. Insofern sind sich alle Beobachter einig, dass die Gefahr für den chinesischen Kapitalismus bis auf weiteres nicht von einer organisierten Arbeiterbewegung, sondern von einer massiven sozialen Destabilisierung durch die schiere Anzahl von Protesten und Ausschreitungen ausgeht.
[1] Eine ausführlichere Diskussion der chinesischen Wirtschaftsreformen der letzten 30 Jahre findet sich in der Direkten Aktion, Nr. 184 (November/Dezember 2007), S. 12-13
[3] Ching Kwan Lee (2007): „Is Labor a Political Force in China?“, in: Perry, Elizabeth and Merle Goldman: Grassroots Political Reform in Contemporary China, Cambridge, Massachusetts. London.
[4] Chan, Chris King-Chi (2008a): „Neue Muster von ArbeiterInnenprotest in Südchina“, in: Peripherie, Jg. 28, Nr. 111.
Chinas einzig legale und mit ca. 170 Millionen Mitgliedern weltweit größte Gewerkschaftsorganisation ist der All-Chinesische Gewerkschaftsbund (ACGB). Traditionell erfüllt er eine Doppelfunktion: Als „Transmissionsriemen“ der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) soll er einerseits eine Umsetzung politischer Beschlüsse auf Betriebsebene garantieren, andererseits Arbeiterinteressen vertreten. Der ACGB funktioniert nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus und ist gesetzlich zu Betriebsfrieden und Vertretung von ArbeiterInnen und Unternehmern verpflichtet – ein Streikrecht existiert in China ohnehin nicht. Seit neueren Kampagnen der Hu Jintao-Regierung zur Organisierung von WanderarbeiterInnen, tripartistischen Tarifverhandlungen und zum Ausbau von Schieds- und Schlichtungsverfahren ist die Funktion der Gewerkschaften für die Regulation der Arbeitsverhältnisse immer wichtiger geworden. Eine Vielzahl von BeobachterInnen entdecken darin eine vermeintliche Umorientierung der Gewerkschaften zu einem sozialpartnerschaftlichen Modell westlichen Typs. Obwohl unbestreitbar ist, dass der ACGB neue – sozialpartnerschaftliche – Aufgaben wahrnimmt, sind die jüngsten Veränderungen eher als Versuch quasi-staatlichen Kontrollerhalts zu interpretieren. Eine paternalistische Vereinnahmung von Arbeiterinteressen ist nicht unwahrscheinlich; noch deutlicher als im Westen gilt hier allerdings, dass die ArbeiterInnen selbst so gut wie keinen Einfluss auf die Politik der Gewerkschaften haben und in näherer Zukunft auch nicht haben werden.
„Die Chefs halten uns, die dagongmei [„arbeitende Schwestern“, geschlechtlich konnotierte Bezeichnung für Wanderarbeiterinnen], für minderwertig. Wenn es keine Arbeit gibt, schmeißt uns der Chef raus. Ist viel zu tun, stellt er uns befristet ein, um uns gleich nach der Auslieferung eines Auftrags wieder rauszuschmeißen – alles ohne Arbeitsvertrag und ohne irgendeine Absicherung.“ – Zhonghong, 20 Jahre
„Er [der Chef] hat ein grausames Herz. Alle Arbeiterinnen würden ihm am liebsten eine reinhauen, wenn sie mal aufhören. Einmal ist er vor einem Krankenhaus in Shiyan verprügelt worden und hat sich dann nicht mehr getraut rauszugehen.“ – A’xiu, 26 Jahre
Alle Zitate aus: Ngai, Pun u. Wanwei, Li (2008): Dagongmei – Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Berlin. Verlag Assoziation A.
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