Internationale Solidarität durch Parlamentarismus ausgehebelt. Hinter dem Votum für die Kriegskredite des deutschen Reiches steckte 1914 sozialdemokratisches Machtkalkül.
Vor 95 Jahren, an Weihnachten, brach die Westfront im Ersten Weltkrieg für kurze Zeit zusammen. Der Grund: Die Soldaten wollten nicht mehr kämpfen und verbrüderten sich. Dennoch dauerte es fast vier weitere Jahre, bis das industrielle Morden ein Ende hatte.
Es ist ein weit verbreitetes Bild, dass die Arbeiterbewegungen insbes. In Frankreich und Deutschland der „Verteidigung des Vaterlandes“ den Vorzug vor der Klassenidentität gegeben hätten. Tatsächlich war zwar mit dem Beginn des Krieges auf beiden Seiten der „Burgfrieden“ hergestellt und breite Teile der Arbeiterschaft von einer nationalen Begeisterung angesteckt worden. Eine differenziertere Betrachtung wirft jedoch ein brennendes Schlaglicht auf die Rolle der Organisationsformen und -konzepte in der Arbeiterbewegung, die dieser beidseitigen Endsolidarisierung zugrunde lagen. Dies ist ebenso relevant für ein besseres Verständnis z.B. der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, die nicht mal zwei Jahrzehnte nach der Katastrophe von 1914 erneut ihren Bankrott erklären musste.
Anders als in Deutschland waren in Frankreich Anfang des 20. Jahrhunderts die SyndikalistInnen die dominierende Kraft in der Arbeiterbewegung. Deren Organisation, die CGT, startete zwischen 1905 und 1914 mehrfach Initiativen, die internationale Arbeiterbewegung im Falle eines Krieges handlungsfähig zu machen. Zum Beispiel trat sie während der Marokkokrisen 1905/1911 und ebenso während der Balkankrise 1912/13 für parallele Antikriegsdemonstrationen in Deutschland und Frankreich ein. Ab 1907 versuchte sie immer wieder, das Thema Antikriegsstreik auf die Tagesordnung internationaler Treffen zu setzen. All diese Initiativen wurden stets von der deutschen Sozialdemokratie blockiert. In der Regel verweigerten sich die deutschen Gewerkschaften den CGT-Bemühungen, weil sie sich in ihrer Reduktion auf „rein gewerkschaftliche“ Belange nicht für eine solche politische Problematik zuständig sahen.
Eben jene Zuständigkeit sahen sie beim politischen Arm der Sozialdemokratie: der SPD. Diese wiederum setzte konzeptionell jedoch allein auf ihr parlamentarisches Betätigungsfeld und zog z.B. politische Generalstreiks nicht wirklich in Betracht. Wie der Historiker Arno Klönne schreibt, wurde „die eigene [antimilitaristische] Propaganda … offenbar nicht sehr ernst genommen, denn es gab keinerlei Konzepte der Partei für den Fall eines in den Krieg der Völker umschlagenden internationalen Konflikts.“(1) Symptomatisch hierfür war die Begründung für die Nichtteilnahme der deutschen Gewerkschaften am großen Baseler Antikriegskongress 1912: dass „wir eine Beteiligung der Gewerkschaften offiziell nicht angebracht erachten bei einer solch rein politischen Veranstaltung.“(2) Deutlich werden hier die fatalen Implikationen des sozialdemokratischen Bewegungskonzeptes. Denn die Macht der Arbeiterbewegung lag im Wesentlichen im Produktionsbereich; der aber wurde durch die Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und Partei entpolitisiert.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte die deutsche Sozialdemokratie auf nationaler Ebene abweichende Sozialismuskonzeptionen wirkungsvoll marginalisiert und den Zentralismus, die Arbeitsteilung von Partei und Gewerkschaft sowie das parteipolitische Primat institutionalisiert.(3) Die Historikerin Susan Milner zeigt auf, wie die SPD diese Uniformierungspolitik auch international – v.a. in Konkurrenz zur CGT – fortsetzte, indem sie während der Zweiten Internationale (1889–1914) Organisationen mit abweichenden Modellen unter Druck setzte.(4) „[D]eutlich wurde … der Versuch … die Gewerkschaften der anderen Länder nach deutschem Vorbild zu zentralistischen Organisationen … umzugestalten. … Damit etablierten sich aber auch innerhalb der internationalen Gewerkschaftsbewegung jene bürokratischen Verhaltensweisen, wie sie gerade für die deutschen Gewerkschaften typisch waren,“ so Leich und Kruse.(5) Es sollte deshalb nicht verwundern, dass die CGT, die weiterhin für die Einheit von ökonomischen und politischem Kampf in Form revolutionärer Gewerkschaften warb, letztlich isoliert und damit konfrontiert war, dass auch die international verbündeten Gewerkschaften „nicht bereit waren, über Formen antimilitaristischer Politik auch nur zu diskutieren“.(6)
Dass es Ende Juli 1914 unter den Gewerkschaften nicht einmal mehr Konsultationen gab und ein Vorstandstreffen der Zweiten Internationalen lediglich einen formellen Beschluss zu Antikriegsdemonstrationen fasste, kann nur als Resultat dieses Prozesses betrachtet werden. Auch die Enttäuschung der CGT über die deutsche Sozialdemokratie, die man zunehmend als einen dem deutschen Wesen entsprechenden bürokratischen und autoritären Apparat verstand – womit die nationale Integration der CGT in die union sacrée(7) ein stückweit psychologisch vorbereitet wurde –, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Dennoch war die Kriegsbegeisterung aufgrund des energischen Antimilitarismus der CGT in Frankreich grundsätzlich geringer. Wie Peter W. Reuter feststellte, hatte die überwiegende Mehrheit der französischen Arbeiterbewegung den Kriegseintritt „eher aus Resignation vor dem Unvermeidlichen akzeptiert“.(8) Selbst nachdem sich die CGT in das nationale Bündnis eingereiht hatte, stand die Loyalität der französischen Arbeiterklasse stets auf wackligen Füßen.(9)
Neben der konfigurierenden Arbeitsteilung darf auch die Bedeutung des Zentralismus in der Sozialdemokratie nicht unterschätzt werden. Wie Bernt Engelmann feststellt, war Ende Juli 1914 in der deutschen Arbeiterschaft „noch ein entschiedener Wille spürbar, den Kriegstreibern in den Arm zu fallen und „alle Räder still“ stehen zu lassen … Die Mehrheit der Partei- und Gewerkschaftsführung sowie der Reichstagsfraktion aber war bereits entschlossen, jeden weiteren Widerstand gegen den Krieg zu verhindern.“(10) Die nationale Euphorie, die sich Anfang August 1914 in großen Teilen der deutschen Arbeiterschaft zeigte, muss notwendigerweise wesentlich durch die Entscheidung der Führungsspitzen beflügelt worden sein. Hierbei gilt es sich vor Augen zu halten, dass die Sozialdemokratie eine Bewegung war, die auf erhöhter Disziplin gegenüber der Zentrale basierte. Mit der geschlossenen Zustimmung der SPD-Fraktion (Fraktionszwang) zu den Kriegskrediten – obwohl in der Vorabstimmung die Mehrheit nicht so deutlich ausfiel – gab die SPD ein Signal an die Arbeiterklasse, das keineswegs dem Querschnitt der Bewegung entsprach. Ein differenzierteres Votum der Fraktion hätte sicherlich den kämpferischen Teilen der Arbeiterbewegung, wo das Bekenntnis zum Internationalismus nach wie vor ausgeprägt war, enormen Auftrieb gegeben.
Rudolf Rocker stellte im Rückblick auf die Entwicklung der Sozialdemokratie fest: „Indem [sie] … ihre ganze Wirksamkeit allmählich völlig auf … die Eroberung der politischen Macht als angebliche Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus einstellten, schufen sie im Laufe der Zeit eine ganz neue Ideologie … In den Köpfen der Führer dieser neuen Richtung vermengten sich die Belange des nationalen Staates mit den geistigen Belangen ihrer Partei … So konnte es nicht ausbleiben, dass [sie] sich allmählich in das nationale Staatsgefüge … eingliederten…“(11)
Tatsächlich folgte das machtpolitische Kalkül der sozialdemokratischen Führer abstrakten Erwägungen, die aus der marxistischen Theorie hergeleitet wurden. So sollte mit dem Burgfrieden das politische Gewicht der SPD erhöht und die Rolle der Gewerkschaften in den industriellen Beziehungen gestärkt werden. Die Sozialdemokratie vertrat dabei u.a. die Auffassung, der Krieg gegen Russland richte sich gegen den Zarismus; die Errungenschaften des kapitalistischen Fortschritts und der deutschen Arbeiterbewegung würden so in das noch halb-feudale Russland exportiert und dessen Entwicklung zum Sozialismus beschleunigt. Albert Camus hatte insofern nicht ganz Unrecht, wenn er im Zusammenhang des Marxismus von der „deutschen Ideologie“ und der „cäsarischen Revolution“ sprach, die „von der Doktrin ausgeht und mit Gewalt die Wirklichkeit in sie einführt.“(12) Auch Rudolf Rocker verwies öfters auf dessen preußischen Charakter, was wiederum Erich Mühsam unter dem Begriff „Bismarxismus“ spöttisch zu pointieren versuchte.
Es wäre falsch, diese Tendenz nur als das Resultat eines bestimmten politischen Kurses zu bewerten. Es gibt gewisse Grunddispositionen, die im marxistischen Konzept der politischen (nationalen) Machteroberung und des historisch-materialistischen Revolutionsverständnisses vorangelegt waren. So argumentierten bereits 1870 Marx und Engels, dass der Deutsch-Französische Krieg von Vorteil sei, da er international zu einem Übergewicht des zentralistischen, deutschen Konzeptes in der Arbeiterbewegung führen würde.(13) Es gibt gute Gründe zu behaupten, dass die Politik, die aus diesem abstrakten Revolutionsverständnis rührte, Anfang des 20. Jahrhunderts eine „Germanisierung“ der internationalen Arbeiterbewegung bewirkt hatte, während – wie es einst Hans-Ulrich Wehler herausgearbeitet hat – die Sozialdemokratie wesentlich zu einer „Nationalisierung“ des deutschen Proletariats beigetragen hatte.(14)
Durch die umfassende Hegemonie der Sozialdemokratie hatte es eine Kriegsopposition in Deutschland schwer, sich zu artikulieren, und war zu diesem Zwecke notwendigerweise gezwungen, erstmal organisatorisch mit der Sozialdemokratie zu brechen. Der Syndikalismus in Deutschland war vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend unbekannt.(15)
So zeigte sich der Unmut gegen den Krieg zunächst in unorganisierten Formen, z.B. im sog. „Weihnachtsfrieden“ von 1914, als die Front für mehrere Tage praktisch nicht existierte, weil die Soldaten beider Seiten an der Westfront sich verbrüderten – eine regelrechte Massenbewegung von unten. Nur mit äußerster Mühe, Repressionen und Versetzungen gelang es den Generälen beiderseits, die Soldaten wieder in die Gräben zu treiben. Für die Folgejahre war man vorgewarnt und verlegte in der „besinnlichen Zeit“ nur die verlässlichsten Truppenteile an die Front.(16)
Es dauerte eine Weile, bis in Deutschland die Antikriegsbewegung zum Durchbruch gelangte. Die revolutionären Folgen dieser Zeit sind allseits bekannt. Es war die Zeit, in der organisatorische Konsequenzen innerhalb der Arbeiterbewegung hätten gezogen werden müssen. Edo Fimmen, der Vorsitzende der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF), stellte damals fest, dass das Versagen der internationalen Arbeiterbewegung wesentlich durch den Zentralismus und die Entpolitisierung der Gewerkschaften bedingt gewesen sei.(17) Er machte sich mit der organisatorischen Neuausrichtung der ITF, hin zu einer revolutionären Gewerkschaft, für eine Syndikalisierung der Arbeiterbewegung stark. Die Hegemonie des marxistischen Organisationsmodells konnte aber nicht gebrochen werden. Auch die KPD hielt an dem Konzept der Arbeitsteilung, dem Zentralismus und dem parteipolitischen Primat fest, ja intensivierte dies sogar.(18) Der „Kriegssozialismus“ von SPD und Gewerkschaften erfuhr z.T. seine Fortsetzung durch industrielle Arbeitsgemeinschaften und die staatliche Einbindung der Gewerkschaften. Der Idee der Volksgemeinschaft wurde damals ein stückweit der Boden bereitet.(19)
Mit dieser weiteren Deaktivierung von Basistendenzen, der zunehmenden Disziplinierung der Arbeiterschaft und weiteren Nationalisierungstendenzen war das erneute Versagen der Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik fast vorprogrammiert. Das deutsche Modell von Zentralismus, Disziplin und Arbeitsteilung zeigte erneut seine Wirkung – und ließ die Arbeiterklasse unresistent und handlungsunfähig zurück.
Anmerkungen:
(1) Klönne, Die deutsche Arbeiterbewegung, Düsseldorf/Köln 1981, S. 127.
(2) Zitiert nach Leich & Kruse, Internationalismus und nationale Interessenvertretung, Köln 1991, S. 42.
(3) Der dtsch. Anarchismus/Syndikalismus formierte sich als eigenständige Bewegung z.T. in Reaktion auf diese Entwicklung.
(4) Milner, The Dilemmas of Internationalism, New York u.a. 1990.
(5) Leich & Kruse, S. 51-4.
(6) Leich & Kruse, S. 54
(7) „Heilige Union“: das Burgfriedensbündnis in Frankreich.
(8) Reuter, „Gewerkschaftlicher Antimilitarismus und staatliche Gegenstrategien in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg“, in: Francia, Nr. 10 (1982), S. 425.
(9) Schon Anfang 1915 bildete sich Opposition in der CGT gegen den Burgfrieden; auf dem Kongress 1917 konnte sich der regierungstreue Flügel nur mit knapper Mehrheit durchsetzen. Auch gab es immer wieder Desertionswellen in der franz. Armee, ab 1917 nahm dies den Charakter von Revolten an. Siehe Willard, Geschichte der französischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a.M. u.a. 1981, S. 115-8.
(10) Engelmann, Wir Untertanen, Frankfurt a.M. 1976, S. 320.
(11) Rocker, Nationalismus und Kultur, Bd. 1, S. 313. Der Sozialist Kurt Eisner bezeichnete die Sozialdemokratie als „eine bis zur Komik getreue Volksausgabe des Staates, in dem sie lebt“.
(12) Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek b.H. 1969, S. 241-2.
(13) Ähnlich war auch die Argumentation der österr. Sozialdemokraten/Marxisten für den Anschluss ans Dritte Reich 1938, gemäß derer dies zu einer für die Entwicklung zum Sozialismus günstigen Zentralisierung führen würde.
(14) Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat, Würzburg 1962, S. 211-9.
(15) Die zahlenmäßig kleine Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FvdG) kann dennoch als erste Kriegsopposition gelten. Im Zuge der Kriegserklärungen wurde sie als erste Organisation verboten, deren Mitglieder wurden gezielt an den übelsten Frontabschnitten eingesetzt.
(16) Siehe Jürgs, Der kleine Frieden im Großen Krieg, München 2003.
(17) In dieser Analyse stellte das Zusammenspiel von Arbeitsteilung und Zentralismus quasi eine Entwaffnung und Deaktivierung der Arbeiterklasse dar, weil sie so zum Anhängsel politischer Parteien und zum bloßen Objekt ihrer Entscheidungen wurde.
(18) Auch der Historiker Hannes Heer führt das Scheitern der Weimarer Arbeiterbewegung v.a. auf die Arbeitsteilung zurück; siehe Herr, Burgfrieden oder Klassenkampf, Berlin/Neuwied 1971.
(19) Siehe z.B. Huhn, Der Etatismus der Sozialdemokratie, Freiburg i.B. 2003.
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