Lucien van der Walt und Michael Schmidt leisten mit „Counter-Power“ einen imposanten Beitrag zu Theorie und Geschichte des Syndikalismus
Was die Definition des Anarchismus betrifft, so bedarf es den Autoren zufolge eines „neuen Zugangs“ [41], der „einigen herkömmlichen Definitionen widerspricht“ [19]. Für van der Walt und Schmidt ist Anarchismus ausschließlich das, was im deutschen Sprachraum allgemein als Sozialanarchismus bekannt ist: ein Anarchismus, der sich auf die ökonomischen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft konzentriert, die Klassenfrage in den Mittelpunkt stellt und sich klar zu einer sozialistischen Tradition bekennt. Van der Walt und Schmidt machen deutlich: „Wenn wir Spezifikationen wie ‚Klassenkampf‘ oder ‚sozial‘ dem Wort Anarchismus hinzufügen, dann würde das implizieren, dass es AnarchistInnen gäbe, die dem Klassenkampf keine besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen oder individualistisch sind. Dies wäre jedoch keine korrekte Verwendung des Begriffs ‚Anarchismus‘ “ [71]. Als Folge dieser Haltung werden eine Reihe von Denkern, die häufig als anarchistische Größen gelten, aus der anarchistischen Geschichtsschreibung ausgeklammert: Godwin ebenso wie Proudhon, Stirner ebenso wie Tolstoj.
Auch Gedanken an einen „alten“ oder „ewigen“ Anarchismus scheinen den Autoren des Buches verschwendet. Der Anarchismus sei eine „moderne“ Bewegung, die in den 1860er Jahren „mit Bakunin, der [Ersten] Internationalen und der Allianz [der sozialistischen Demokratie]“ [44] beginne. „Wir weisen die Vorstellung zurück, dass die menschliche Geschichte immer wieder anarchistische Strömungen kannte. Die anarchistische Bewegung entstand erst in den 1860er Jahren als ein Flügel der modernen sozialistischen Arbeiterbewegung … Die Schlüsselfiguren bei der Bestimmung des Anarchismus und Syndikalismus waren Michael Bakunin und Peter Kropotkin“ [9]. Die einzige gröbere Unterscheidung, die von den Autoren zugelassen wird, bezieht sich auf die „strategische“ Differenz zwischen einem „Massenanarchismus“, der „betont, dass nur Massenbewegungen eine revolutionäre gesellschaftliche Änderung schaffen können“ [20], und einem „aufständischen Anarchismus“, der „die bewaffnete Aktion … als wichtigstes Mittel erachtet“ (ebd.).
Der Ansatz der Autoren wird jene, die ihre Arbeit bisher verfolgt haben, nicht überraschen. Beide stehen der südafrikanischen Zabalaza Anarchist Communist Front (ehemals Federation) (www.zabalaza.net) nahe, die sich auf jene „plattformistischen“ Prinzipien gründet, die 1926 von Nestor Machno und Genossen im Pariser Exil formuliert wurden: die Forderung nach einer anarchistischen Organisation, die sich einem gemeinsamen Programm verpflichtet, eine gewisse Avantgarderolle nicht zurückweist (die Autoren sprechen gar von „libertarian leadership“ [261]) und den Klassenkampf im Zentrum revolutionärer Aktivität sieht.
Mit seinen über 400 Seiten ist Black Flame eine beeindruckende Studie zur internationalen Geschichte des (Sozial)Anarchismus und eine Auseinandersetzung mit dessen Kernfragen wie Organisierung, Strategie und Taktik. Das Buch beinhaltet eine Reihe spannender, theoretischer Aspekte, etwa die Zurückweisung eines Konflikts zwischen Anarcho-Syndikalismus und Anarcho-Kommunismus, die bereits angedeutete, enge Verwobenheit von Syndikalismus und Anarchismus (die die Autoren dazu führt, auch selbsterklärte Marxisten wie Daniel De Leon oder James Connolly der „breiten anarchistischen Tradition“ zuzurechnen) oder die Ablehnung der These, dass der Anarchismus „in Spanien eine Massenbewegung wurde wie sonst nirgends“ – eine solche „spanische Besonderheit“ gibt es für van der Walt und Schmidt nicht [15].
Was Umfang und Reichweite des gesammelten Materials betrifft, muss das Buch bereits jetzt als Standardwerk gelten und es wird zweifelsohne eine bleibende Rolle im Kanon anarchistischer Geschichtsschreibung einnehmen. Das völlig zu Recht. Die internationale Dimension der Materialiensammlung – eingeschränkt einzig durch die limitierte Aufnahme nicht-englischsprachiger Literatur – ist einzigartig und höchstens mit dem Nachlass Max Nettlaus zu vergleichen, allerdings mit zwei wesentlichen Unterschieden: van der Walt und Schmidt konnten weit mehr Information zu Lateinamerika, Asien und Afrika sammeln, und sie hatten die Zeit, ihre Daten in einen ausgezeichnet strukturierten und ausgesprochen lesbaren Text zu verarbeiten.
Was an der Herangehensweise der Autoren zwangsläufig Diskussionen auslösen wird, ist der enge definitorische Ansatz. Es ist kühn, einen großen Teil klassischer anarchistischer Geschichtsschreibung als „nicht wirklich anarchistisch“ [18, 71] über Bord zu werfen. Viel hat damit freilich mit unserem Verständnis von Definition zu tun. Definitionen sind kommunikative Vereinbarungen, die es uns erleichtern, uns zu verständigen. In diesem Sinne haben sie primär pragmatische Funktion und keinen Wahrheitsgehalt. Insofern sind kategorische Aussagen wie „es gibt nur eine anarchistische Tradition und sie ist in der Arbeit Bakunins und der Allianz verwurzelt“ [41] oder „[diese Sekten] haben keinen Platz in der anarchistischen Tradition, weil sie nicht anarchistisch sind“ [170] tautologisch und sagen wenig mehr als: Anarchismus ist, was ich Anarchismus nenne. Natürlich lässt sich der vielfältige Komplex Anarchismus mit Hilfe einer „effektiven Definition“ [41] als „kohärente intellektuelle und politische Strömung“ [143] fassen, wenn wir soviel von den konventionellen Definitionen wegschneiden, bis das übrig bleibt, was unseren eigenen Vorstellungen entspricht. Die Frage ist nur, was uns das hilft.
Van der Walt und Schmidt versprechen sich von ihrer Vorgangsweise offensichtlich bessere anarchistische Forschung und eine stärkere anarchistische Bewegung. Ich bin von diesem Punkt nicht ganz überzeugt. Abgesehen davon, dass ich ideologische Grabenkämpfe als Bedrohung für antiherrschaftliche und damit auch (radikale) sozialistische bzw. syndikalistische Politik begreife (und dazu gehört seit jeher das gegenseitige Absprechen „wahrer“ anarchistischer Identität), glaube ich, dass wir auch von GenossInnen lernen können, die sich auf den Kampf gegen Herrschaftsformen wie Patriarchat, Heteronormativität oder Rassismus konzentrieren. Solange sie sozialen Dimensionen gegenüber nicht völlig blind sind, würde ich es dabei für ihre anarchistische Glaubwürdigkeit nicht als entscheidend erachten, welchen Status sie dem ökonomischen Kampf nun genau einräumen.
Die Autoren betonen, dass ihr Ansatz kein „Reduktionismus“ sei, und dass ihr Verständnis nicht als „plumper Proletarismus“ [7] oder als „Ökonomismus“ [21] missverstanden werden dürfe. Dies sind nicht nur Lippenbekenntnisse. Ein Kapitel zu „Anarchist Internationalism and Race, Imperialism and Gender“ untersucht die Zusammenhänge des Klassenkampfes mit antirassistischen und antipatriarchalen Kämpfen. Dennoch wird das Buch von einer Aufarbeitung syndikalistischer Geschichte dominiert, und das erwähnte Kapitel bestätigt zwar, dass es in diesem Rahmen ein Bekenntnis zum Kampf gegen Patriarchat und Rassismus gibt, der auch relative Erfolge verzeichnen konnte, doch wird dem Widerstand gegen diese und andere Unterdrückungsmechanismen eine vom Klassenkampf unabhängige revolutionäre bzw. anarchistische Bedeutung abgesprochen. Dies öffnet Tür und Tor zu einer neuen Verstrickung in „Hauptwiderspruchsdebatten“, die meines Erachtens antiherrschaftliche Bewegungen noch nie weitergebracht haben.
Die stärkste Kritik, die van der Walt und Schmidt an konventionellen Definitionen des Anarchismus formulieren, ist jene, dass „Antistaatlichkeit“ alleine für eine sinnvolle Definition des Anarchismus nicht ausreicht, weil dann auch Anarcho-KapitalistInnen oder MarxistInnen (die schließlich auch in letzter Konsequenz den Staat ablehnen) mit aufzunehmen wären [41ff]. Hier stellt sich allerdings die Frage, warum es zwischen einer einfachen Gleichsetzung von Anarchismus mit Antistaatlichkeit und einer engen Definition des Anarchismus als „bestimmte rationalistische und revolutionäre Form des libertären Sozialismus, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand“ [71] keine weiteren Definitionsmöglichkeiten geben sollte. Anarchismus lässt sich beispielsweise auch als die Vereinigung egalitärer sozialer Prinzipien mit größtmöglicher individueller Freiheit und der ausnahmslosen Ablehnung staatlicher Strukturen begreifen (auch in Zeiten von „Übergangsperioden“); dies würde einerseits sowohl „anarcho-kapitalistischen“ Sozialdarwinismus als auch marxistischen Bolschewismus ausschließen, uns andererseits jedoch erlauben, einer breiteren anarchistischen Tradition – und Gegenwart – Rechnung zu tragen.
Am allgemeinen Urteil zu Black Flame kann kein Zweifel bestehen: Das Buch ist ein außerordentliches Werk und es sei allen am Anarchismus Interessierten wärmstens ans Herz gelegt! AnarchistInnen, die mit der Definition der Autoren übereinstimmen, werden begeistert sein. AnarchistInnen, die das nicht tun, werden viel lernen und sich herausgefordert sehen, ihren Anarchismus im Verhältnis zu Syndikalismus, Anarcho-Kommunismus und Plattformismus zu reflektieren. In diesem Sinne sollen zum Abschluss noch einmal die Autoren selbst zu Wort kommen: „Sicherlich sind einige der hier präsentierten Argumente kontrovers. Aber das ist nur gut so: Anregende Forschungsarbeit entwickelt sich aufgrund kritischer Debatte, nicht aufgrund etablierter Orthodoxien. Wenn dieses Buch zu weiterer Anarchismusforschung anregt – selbst wenn diese Forschung unseren Argumenten widerspricht –, dann erachten wir unsere Arbeit als erfolgreich“ [26f].
Gabriel Kuhn
Lucien van der Walt & Michael Schmidt:
Black Flame. The Revolutionary Class Politics of Anarchism and Syndicalism (Band 1 des Projekts „Counter-Power“)
Oakland 2009. 395 Seiten, 22,95 US-Dollar.
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
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