Gewaltfreier Graswurzel-Anarchismus in der Direkten Aktion
Unser Autor Anarr stellt zwei im Graswurzel Verlag erschiene Bücher vor (die zweite Rezension im Artikel Abkehr von der Gewaltfaszination), die die intellektuellen und praktischen Grundlagen eines gewaltfreien Anarchismus vorstellen, diskutieren und propagieren. Die DA als verlängerter Arm der Graswurzel? Natürlich nicht, und die in den beiden Artikeln vertretenen Ansichten spiegeln auch nicht die Meinungen der gesamten DA-Schlussredaktion wider. Doch interessant sind die Veröffentlichungen ohne Frage, weshalb sie auch berechtigter Weise ihren Weg auf die Kulturseiten gefunden haben.
Albert Camus ist kein Unbekannter. An würdigenden Worten für sein literarisches Werk lassen es selbst bürgerliche Zeitungen nicht fehlen. Selten jedoch stehen dabei Camus‘ libertär-gewaltfreie Anschauungen im Mittelpunkt des Interesses. Ganz zu schweigen von seiner Nähe zum Anarchosyndikalismus. Ist der politische Camus etwa uninteressant? – Mitnichten! Im Verlag Graswurzelrevolution erschien unlängst ein Tagungsband, der sich dieser Frage eingehend widmet.
Kulisse
Zentraler Gegenstand der Tagung, die 1991 im Ostteil Berlins stattfand, war die Frage nach der Aktualität von Camus‘ philosophischem Vermächtnis. Seine libertären Grundauffassungen waren nicht nur in das weithin verbreitete literarische Werk eingeflossen, sondern bündelten sich vor allem in seinem politischen Essay “Der Mensch in der Revolte“ von 1951. Mit den Beiträgen der Tagung, die mit dem vorliegenden Band nach knapp zwanzig Jahren erstmals einem größeren Publikum zugänglich werden, wird Camus‘ Philosophie nahezu lebendig. Sie bewegt sich hier in einem ganz besonderen Spannungsfeld, wird unter dem Eindruck jüngster epochaler Ereignisse betrachtet. Die mit großen Hoffnungen eingeläutete, doch nur mit zarten Vorstellungen eines “dritten Weges” einhergehende, so genannte „Wende“ in der DDR, der Aufbruch von 1989, der schon im Frühjahr 1990 wieder ein jähes Ende nahm, hatte die Idee einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staatskapitalismus – auch bekannt als „Realsozialismus” – und Kapitalismus für einen kurzen Moment in der Geschichte wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Schon Camus hatte Ideologien und Heilsbringern jeglicher Couleur eine klare Absage erteilt. Ein möglicher Weg wäre allein auf der Grundlage sozialen Handelns, menschlicher Solidarität und Moral zu entdecken gewesen. Die Schrift Camus‘, “Der Mensch in der Revolte“, hätte demnach auch in dieser Zeit wichtiger Impuls sein können. Der Autor selbst war dem Anarchosyndikalismus sowie jeglichen Formen basisdemokratischer Organisierung in der Gesellschaft zugewandt.
Vielschichtig
Seine schneidende Auseinandersetzung mit dem Marxismus, die Klinge, die er darüber mit berühmten Zeitgenossen wie Sartre kreuzte, wird in dem Tagungsband ebenso beleuchtet wie die Auffassung über Gewalt und Moral, individuellen und staatlichen Terror. Camus, der die Anwendung von Gewalt ablehnte, verurteilte nicht einfach. Er ging den Motiven nach, wie in dem Beitrag über russischen Terrorismus eindrucksvoll herausgeschält wird. Einflüsse wie die Nietzsches oder der „alten Griechen” auf sein Denken, auf die Entwicklung seiner Philosophie, aber auch seine Haltung zu Hegel, Marx und Lenin formen im Band erst das Bild des Schriftstellers und Philosophen Camus in all seiner Vielschichtigkeit. Herausgekommen ist deshalb ein schönes, vor allem aber anregend zu lesendes Buch, das einen mit Leichtigkeit eintauchen lässt, Camus nahe bringt, am Ende gar den Hunger nach mehr nicht mehr zu stillen weiß, sondern erst recht Appetit macht.
Das Buch würde vielleicht nicht diesen Reiz ausstrahlen, wenn die Beiträge eine homogene Wirkung entfalten würden. Das Aroma entsteht gerade erst dadurch, dass Camus‘ Auffassungen auch kontrovers dargelegt werden. Einiges an den getroffenen Aussagen der RednerInnen regt zu krassem Widerspruch an, egal, ob es sich um fragliche Demokratieverständnisse, den problematischen, da längst von Rechts besetzten Totalitarismusbegriff oder aber – einer marxistischen Lesart geschuldeten – Verteidigung von Hegel, Marx und Lenin gegen Camus handelt. Aber genau das macht das Salz in der Suppe aus.
Fraglos anregend
Ein Manko hat das Buch jedoch, auf das die Herausgeberin selbst hinweist: Denn man erfährt wenig über den Inhalt der Diskussionen auf der Tagung. Noch viel weniger aber über die rund 100 TeilnehmerInnen selbst. Die Hinweise der Herausgeberin und der am Ende abgedruckte zeitgenössische Zeitungsartikel bleiben in Andeutungen stecken. Das ist bedauerlich, wäre es doch gerade aufgrund des zeitlichen Kontextes („nach dem Mauerfall”), in dass das ansonsten zeitlos lesbare Buch bewusst gestellt wurde, nicht unerheblich zu wissen, aus welcher Motivation heraus sich die Gäste tatsächlich einfanden. Ging es ihnen vornehmlich um ein literarisches Interesse an Camus oder wehte durch die Tagung tatsächlich der Geist des Aufbruchs, der so genannten „Wende“? Die war zum Tagungszeitpunkt seit einem Jahr Geschichte. Die Frage nach dem „Wie weiter?“ wurde von der Mehrheit der Menschen in der ehemaligen DDR nur noch individuell und längst aus nackter Existenzangst heraus beantwortet. Auch wenn man diese Trennung heute nicht mehr aufmachen will und kann: In der DDR existierten zwei völlig unterschiedliche Milieus. Deshalb: Saßen auf der Tagung auch ArbeiterInnen oder doch nur wieder Angehörige der einst privilegierten Intelligenz, also akademischer Berufe?
Nichtsdestotrotz: Auch wenn das Buch die Beantwortung dieser entscheidenden Frage offen lässt: Seinem Reiz tut das keinen Abbruch. Eine äußerst empfehlenswerte Lektüre!
Buchdaten
Brigitte Sändig (Hg.)
„Ich revoltiere, also sind wir.”
Nach dem Mauerfall: Diskussion um Albert Camus‘ „Der Mensch in der Revolte”
Verlag Graswurzelrevolution 2009
Pb, 192 Seiten
ISBN 978-3-939045-10-6
14,90 Euro