Rein statistisch ist die Wirtschaftskrise bereits Vergangenheit. Zumindest in der Bundesrepublik, seit Frühjahr 2009. Seither wächst die Wirtschaft wieder, wenn auch langsam. Auch für die EU insgesamt verzeichnet die Statistik wieder Wachstum. Indes, hier handelt es sich um eine Draufsicht. Griechenland und Italien etwa stecken noch in der Rezession, und den Ökonomen ist der Aufschwung noch zu schwächlich.
Zudem sind die Wachstumsraten nicht das einzige Kriterium wirtschaftlicher Erholung. Bereits im vergangenen Herbst hatte die EU-Kommission auf Risiken hingewiesen, dass 13 der 27 Mitgliedsstaaten langfristig (bis 2060) ihre Staatsschulden nicht aus dem laufenden Haushalt decken könnten. Sie müssten Schulden machen, um Schulden zu begleichen. Dazu zählten u.a. Spanien und Griechenland. Mitte Oktober dann leistete die neugewählte Regierung in Athen einen Offenbarungseid, dass das Haushaltsdefizit für 2009 nicht bei 6, sondern bei 12,7 % liegen werde. Nach Prognosen der EU belaufen sich die griechischen Staatsschulden 2010 auf 125 % der jährlichen Wirtschaftsleistung bzw. 300 Mrd. Euro; etwa 30 Mrd. an Schulden liegen bei deutschen Banken, so Linksfraktions-Chefvolkswirt Michael Schlecht.
Anfang Dezember stuften private Ratingagenturen die Glaubwürdigkeit Griechenlands herab, womit sich die Zinsen für neue Kredite verteuerten. Dabei steht Griechenland nicht allein. Die Konjunkturprogramme und Rettungsschirme vergrößerten die Haushaltsdefizite quasi weltweit. Ähnlich hohe Schuldenstände hatte es zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Aussicht auf einen fordistischen Boom gibt es heute aber nicht. Die Staatsschulden gelten daher inzwischen als „tickende Zeitbombe“. Die Lösung wurde zum Teil des Problems. Von einem „globalen Schwelbrand“ spricht Karl-Heinz Roth. Dem Theoretiker zufolge befindet sich die Welt seit dem dritten Krisenjahr in deren vierter Phase: Nachdem die US-Hypotheken- und Finanzkrise (2007/08) weltweit auf die „Realwirtschaft“ übergegriffen hatte (2008/09), bremsten oder beendeten Konjunkturprogramme die Rezessionen (2009). Seither stellt sich die Frage, wie die öffentlichen Haushalte wieder ins Lot kommen sollen.
Europa oder nicht Europa…
Der Showdown auf europäischer Ebene begann am 6. Mai: Der Euro befand sich seit einer Woche auf „Talfahrt“. Dann stürzte die US-Börse aus ungeklärter Ursache ab. Die Kreditausreichung der Banken untereinander kam, wie nach der Lehman-Pleite 2008, ins Stocken. Weitere Euro-Länder mussten Zinsaufschläge hinnehmen. EZB-Chef Trichet sprach tags darauf von einer „systemischen und andauernden Krise“. Laut Bundeskanzlerin Merkel ging es um das „Primat der Politik“ und „die Stabilität des Euros“. Der französische Präsident Sarkozy führte am geschichtsträchtigen 8. Mai schließlich die „absolute Generalmobilmachung“ der Finanzpolitik Europas ins Felde und mahnte: „Der Euro ist Europa, und Europa ist der Frieden.“ Das Feuilleton, etwa in Gestalt von Jürgen Habermas, rief zum Erhalt der Europäischen Union und Idee auf.
Die Debatte erinnert an diverse Börsenblasen der vergangenen Jahre. Denn bereits Anfang 2009 war über Austritte aus der Währungsunion spekuliert worden. Die meisten Ökonomen, so die Financial Times Deutschland, sehen einen solchen Schritt jedoch als „sehr unwahrscheinlich“ an: zu aufwendig, zu teuer, zu risikoreich. Nun aber war sogar von einem „Auseinanderbrechen der Währungsunion“ die Rede! Ein großer Bluff. Als würde die deutsche Wirtschaft, die hohe Im- und Exportraten an die Euro-Zone binden, nicht vom Wegfall der Wechselkursschwankungen profitieren. Nein, im Vordergrund stand ein Ressentiment: „Schon wieder muss Deutschland blechen.“ Gar Inflationsängste, seit den 1920ern ein spezielles deutsches Trauma, wurden geschürt. In der allgemeinen Sehnsucht nach der guten „harten“ D-Mark drückt sich vielleicht nur ein Wunsch aus: Wohlstand ohne Kampf, zumindest einmal im Jahr an der Adria oder auf Malle.
Heraus kam ein Kreditfonds für defizitäre Staatshaushalte der Euro-Länder. Notfalls sollen bis zu 750 Mrd. Euro bereitgestellt werden, und 110 Mrd. für Griechenland. Außerdem kauft die EZB selbst geringbewertete Staatsanleihen. Das Wichtigste aber ist Punkt drei: die „Haushaltskonsolidierung“. Die griechische Regierung verpflichtet sich nicht nur zu Transparenz gegenüber der EU, sondern auch auf eine Zielmarke: Von 13% auf 3% Defizit bis 2014. Spanien, Italien, Frankreich, alle ziehen mit. Für die deutsche Regierungsposition offiziell ein Eins zu Eins: Griechenland wird gerettet, und die deutsche Sparwut wird zur EU-Doktrin erhoben.
Auffallend ist, dass die real existierende Möglichkeit eines „Staatsbankrotts“ nicht ernstlich in Erwägung gezogen wurde. Eine historische Ausnahmeerscheinung wäre dieser nicht. Letztlich ist das Ganze nämlich gar nicht so dramatisch, wie es sich anhört. In Wirklichkeit gilt das Primat der Politik. Durchaus geläufig als Synonym für Staatsbankrott ist daher der Begriff „Umschuldung“. Denn kann oder will ein Staat seine Verpflichtungen nicht rechtzeitig begleichen, und nichts anderes ist der „Bankrott“, tritt Plan B in Kraft: Es wird neu verhandelt. Üblich ist dabei auch der Verzicht der Kreditgeber auf einen (Gut-)Teil ihrer Forderungen. Das aber, so erklärte der Bundesverband deutscher Banken Ende April lapidar, sei „keine Lösung“. Dass der Risikofall eintreten könnte bei hochriskanten Geschäften, ist schließlich nicht vertretbar.
Gewerkschaftliche Unmündigkeit
Heute, da die EU laut Lissabon-Strategie der „wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Erde“ sein wollte, stehen die Zeichen auf Misere. Wachstum und Wohlstand bedingen sich nicht mehr. Das liegt zwar auch daran, dass die Regierungen „ihre Hausaufgaben“ gemacht haben: EU-weit wurde flexibilisiert und ausgelagert, wurden Erwerbslose aktiviert und Wirtschaft gefördert. Ebenso ins Gewicht fällt aber wohl, dass die europäischen Gewerkschaften ihre Hausaufgaben nicht erledigt haben. Denn konzeptionell haben derzeit weder Apparate noch Bewegung viel zu bieten. So fordert die französische CGT eine „nachhaltige Industriepolitik“, der DGB legte ein „Konjunktur- und Wachstumsprogramm“ vor. Tragfähige Konzepte zur Überführung von Betrieben in Kollektiveigentum, oder zur Neuordnung von Tauschbeziehungen und Arbeitsteilung sucht man (fast) vergebens. Nicht zu überhören sind indes Appelle an die Politik, oder der ewig gleiche, symbolische Protest gegen allzu schmerzliche Einschnitte … ob sich das nun in einem Streiktag oder einer Samstagsdemo ausdrückt. Solange die Gewerkschaften nicht ihr ganzes, also ihr ökonomisches Gewicht in die Waagschale werfen, werden es trotz aller wohlfeilen Losungen die Beschäftigten sein, die für die Krise zahlen.
Alternative Ansätze einer Krisenbewältigung, die sich auf das Wesentliche konzentriert: auf Produktion und Verteilung, werden indes wohl kaum zu haben sein, ohne dass die Gewerkschaftsbasis mehr Raum für Experimente erhält, und mehr Elan dafür aufbringt. Solche Experimente mögen so unkontrollierbar sein wie die Folgen eines Staatsbankrotts. Aber wie das Großexperiment „Realpolitik“ heute zeigt: die absolute Vermeidung ist auch keine Lösung. Zumal angesichts der Produktivitätssteigerungen der letzten Jahrzehnte jedwede Verzichtslogik als Ausfluss selbstverschuldeter Unmündigkeit gelten darf.
André Eisenstein, STICS 13 CNT