Menschen sind widersprüchlich. Das liegt in ihrer Natur und ist an sich nicht weiter tragisch. Aber es ist auch nicht immer leicht zu ertragen, und noch schwerer zu verstehen, zumal dann, wenn sie sich wegen eines vermeintlich nichtigen Anlasses in rohe Geschöpfe verwandeln, gleichsam erschreckend wie bemitleidenswert. So wie dieser Tage, da Abermillionen sich zu Fähnchen schwingenden, Plastiktröten blasenden Lästlingen entwickeln, ergriffen von einer der eigentümlichsten Nebenwirkung der menschlichen Kultur: dem Nationalgefühl.
Es ist ja nicht so, dass ich grundsätzlich etwas gegen Fähnchenschwingen und Anfeuerungsrufe hätte; für meinen Fußballclub übe ich mich selbst alle 14 Tage darin. Aber bei jenen Massen, die der Auswahl ihres Staates die Daumen drücken, handelt es sich gerade nicht um erprobte, leidenschaftliche Fußballfans, sondern um bloße Amateure.
Bei einer Reise durch die Schweiz während der Europameisterschaft 2008 musste ich mitansehen, wie deutsche Schlachtenbummler alles karikierten, wofür Fan-Initiativen seit Jahrzehnten kämpfen. Schwer betrunken lungerten sie am Basler Bahnhof und übten sich in Liedern und Gesängen, die sie in einer Sportübertragung im Rundfunk aufgeschnappt haben dürften, und dichteten sie auf „Deutschland“ um, ohne den kleinsten Gedanken an einen möglichen Sinn zu verschwenden.
Der Slogan „Wir sind XY-ler und ihr nicht!“ beispielsweise stellt kein sinnfreies Blablabla dar, mit dem Fußballfans Außenstehenden zu verstehen geben wollen, bei einem Pegel über zwei Promille angekommen zu sein, sondern brandmarkt Teile des eigenen Vereins, z.B. die eigene Mannschaft nach einem schlechten Spiel, als „Verräter“.
Als vor dem Hauptbahnhof Basel nun eine Gruppe niederländischer Fans in niederländischen Trikots mit Fahnen der Niederlande auftauchten, wurden sie von der Gruppe deutscher Fans nicht einfach bepöbelt, sondern mit einem rätselhaften „Wir sind Deutsche und ihr nicht!“ empfangen. Verwirrt verwiesen die Oranjes auf die niederländische Fahne, den Schriftzug „Neederland“ auf ihren Trikots usw., einer sagte gar in bestem Deutsch: „Ja, ich weiß“ – ohne Erfolg, die Deutschen sangen es weiter.
Oder nehmen wir meinen irischstämmigen Bekannten aus London. Wie oft hatte er mir gegenüber über seine Familie geklagt, wie furchtbar er den Nationalismus seines Vaters fände, wie sehr er den ganzen Irlandkitsch verabscheue, dass er es seinen Eltern nie verzeihen werde, dass sie ihn in jeden Ferien zur Oma nach Irland verschickt hatten, während er von Italien träumte, und dass überhaupt das Allerschlimmste die katholische Kirche, der Papst und Religion an sich seien. Und dann spielt Frankreich gegen Irland, und er steht fingernägelkauend vor dem Fernsehgerät, bekreuzigt sich fortwährend, betet abwechselnd Vaterunser und Avemarias, um das Ausscheiden in der WM-Qualifikation als Anlass zu nehmen, sich allen guten Vorsätzen entgegen in der nächstbesten Spelunke besinnungslos zu trinken, und das drei Abende hintereinander.
Ich weiß, man muss nicht alles verstehen, und manchmal sollte ich vielleicht wirklich gelassener werden. Aber als wir dem Fahrkartenverkäufer in Basel überrascht erklärten: ach, der Intercity kostet in der Schweiz gar keinen Zuschlag, in Deutschland müsse man für alles Zuschlag bezahlen, und dieser daraufhin mit verdrehten Augen antwortete: „Ja ja, ich weiß schon, in Deutschland ist alles besser“ – da wusste ich, wodurch er Schaden genommen hatte.
Matthias Seiffert