Hintergrund

Stets zu Diensten, Herr Doktor!

Zur Situation in den Praxen im Gesundheitswesen

Als eine der wesentlichen Säulen des Gesundheitswesens geraten die Praxen nur alle paar Jahre ins Visier des öffentlichen Interesses. Thematisiert werden dann politische Maßnahmen, beispielsweise im Rahmen der Gesundheitsreformen. Praxisgebühren und Zuzahlungen für medizinische Leistungen, die von den Kassen nicht länger übernommen werden, sind in aller Munde. Nicht jedoch die Situation abhängig Beschäftigter, die in diesem Sektor ihre Brötchen verdienen. Keine Ausnahme bilden hierin die großen Zentralgewerkschaften, die diesen Bereich völlig links liegen lassen. Die Situation der abhängig Beschäftigten in den Praxen ist in der öffentlichen Wahrnehmung hingegen völlig unterbelichtet. Denn anders als ihre ArbeitgeberInnen haben sie keine Lobby.

Denkt man heute an Praxen, dominiert noch immer das Bild vom niedergelassenen Hausarzt oder der niedergelassenen Fachärztin, die eine Praxis mit Praxishilfen[1] betreibt. Alle kennen die Situation: Volle Wartezimmer, Termindruck, lange Wartezeiten. Eine Verschiebung der Versorgungsstrukturen zuungunsten der Versicherten durch Abwanderung niedergelassener ÄrztInnen und daraus resultierende weite Anfahrtswege. Kaum jemand scheint sich dagegen zu fragen, warum die immer freundliche und zuvorkommende Sprechstundenhilfe, die die Versichertenkarte schon am Morgen durchs Lesegerät zieht, einem am Abend immer noch lächelnd das unterschriebene Rezept überreicht. Warum kann der Arzt, dessen Name am Türschild steht, in die Mittagspause gehen, während seine Sprechstundenhilfe bleibt? Genauso wie die angestellte Assistenzärztin, die so die übliche Wartezeit wenigstens etwas verkürzt? Was verbirgt sich dahinter, wenn die behandelnde Ärztin eine Kollegin nur flüchtig als „Praktikantin“ vorstellt, die ihr danach bei der Arbeit über die Schulter blicken darf? Ein Bild hat sich dagegen auch in der öffentlichen Wahrnehmung festgesetzt, vielleicht das einzig realistische: Das Gesicht des Arzthelferinnenberufes, der medizinischen, zahnmedizinischen und tiermedizinischen Fachangestellten, ist weiblich. Das gleiche gilt für angestellte Tier- und Zahnmedizinerinnen.

Prekäre Nähe

Die Gemeinsamkeiten von Fachangestellten und angestellten MedizinerInnen münden am Ende nicht allein im Tätigkeitsfeld. Sie treten auch bei grundlegenden Problemen zutage: der Kontrolle um die Arbeitszeit, der Urlaubsplanung, der Vereinbarkeit vorhandener Kinder mit der Berufsausübung, der Wahrnehmung von Fort- und Weiterbildungen sowie der Bezahlung. Hinzu kommen subtile Prozesse, die sich zwangsläufig aus der Nähe von ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn am Arbeitsplatz ergeben. Diese haben enorme Auswirkungen auf die Duldsamkeit der Angestellten. Die Arbeitsbedingungen werden in der Regel hingenommen, bleiben unhinterfragt. Selbst dann noch, wenn sie längst nur noch als Zumutung bezeichnet werden können. Denn ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn arbeiten in Praxen auf engstem Raum zusammen. Das üblicherweise vorhandene Nähe-Distanz-Verhältnis ist aufgebrochen, wird durch das vertrauliche „Du“ oder eher „familiär“ anmutende Beziehungen verwässert. Am ehesten vergleichbar ist dies wohl mit den kleinen, klassischen Handwerksbetrieben, in denen die MeisterInnen zugleich ArbeitgeberInnen sind.

Mehrarbeit und Überstunden gehören in (Zahn-) Arztpraxen beispielsweise zum guten Ton. Sie werden nicht aufgeschrieben. Es ist selbstverständlich, länger zu bleiben, wenn PatientInnen kurz vor Dienstende noch in die Praxis kommen. Das gleiche gilt für die tägliche Pause. Die Zeit, von der der lange Arbeitstag üblicherweise unterbrochen werden sollte, wird von Angestellten häufig am Arbeitsplatz verbracht. Teile dieser Freizeit, die eigentlich der Erholung dient, werden stattdessen durch unentgeltliches Weiterarbeiten absolviert. Nicht viel anders ist es um notwendige Vor- und Nacharbeiten, zum Beispiel die Reinigung medizinischer Instrumente, bestellt. Auch diese werden oft außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit geleistet – vor und nach dem Dienst oder in den Pausen. Dabei könnte eine Kontrolle der tatsächlichen Arbeitszeiten durchaus auf der Grundlage vorhandener Strukturen erfolgen: Der passwortgeschützte Computerarbeitsplatz in Arztpraxen könnte fehleranfällige Stundenzettel, die in Kleinbetrieben zum Teil erst gar nicht geführt werden, durchaus ersetzen. Die Angestellten müssen sich dort ohnehin bei Dienstbeginn individuell an- und bei Arbeitsschluss wieder abmelden. Hierüber wäre zumindest eine ungefähre Kontrolle und Nachweisbarkeit der tatsächlichen Arbeitszeiten durch die Beschäftigten gewährleistet. Stattdessen aber wird das Problem komplett ignoriert.

Krankheitsbedingte oder anderweitige Ausfallzeiten von KollegInnen treffen Arztpraxen noch empfindlicher als andere Gesundheitsbetriebe. Der Mitarbeiterstamm ist klein, weshalb derartige Ereignisse immer auch unentgeltliche Mehrarbeit für die anderen mit sich bringen. Hierdurch wird auch ein enormer, vor allem unkollegial wirkender Druck unter den Angestellten aufgebaut.

Der Jahresurlaub wird den Beschäftigten durch Betriebsschließung weitestgehend vorgeschrieben: Bleibt die Praxis infolge Urlaubszeit des Arbeitgebers geschlossen, werden auch die Angestellten in den Urlaub geschickt. Noch mehr als üblich brummt dagegen in diesen Zeiten der Laden in den Vertretungspraxen: Ein Mehr an PatientInnen bedeutet zwangsläufig ein Mehr an Arbeit und Arbeitsintensität. Auch das wird auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen. In den Gemeinschaftspraxen niedergelassener ÄrztInnen relativiert sich dieses Problem nur bedingt: Die Arbeitsverdichtung findet hier lediglich unter einem Dach statt.

Kaum Platz ist im Berufsalltag der erforderlichen Fort- und Weiterbildung der Angestellten vorbehalten, selbst wenn deren Frequenz in Verträgen fixiert worden sein sollte. Diese fallen entweder gänzlich unter den Tisch oder sind in die Freizeit zu verlegen. Von Freistellungen, von der (Teil-) Finanzierung oder auch nur vom Angebot großer Gesundheitseinrichtungen wie Kliniken können abhängig Beschäftigte in Arztpraxen nur träumen. Üblicherweise wird dieser Bereich von ArbeitgeberInnen als persönliche Angelegenheit betrachtet.

Tierisch sittenwidrig: die Veterinäre

Ein wenig anders stellt sich demgegenüber die Situation im tiermedizinischen Bereich dar: In Deutschland sind Krankenversicherungen für Tiere unüblich, so dass es sich um reine „Privatpatienten“ handelt. Abgerechnet werden muss aber, zumindest theoretisch, nach einer staatlichen Gebührenordnung, die allerdings gerne unterschritten wird. Außerdem unterteilen sich die Patienten in landwirtschaftliche Nutztiere, bei denen vor allem finanzielle Erwägungen eine Rolle spielen, und Liebhabertiere, vor allem Pferde und kleine Haustiere, sogenannte „companion animals“, bei deren Behandlung nur die Geldbörse des Besitzers die Möglichkeiten nach oben begrenzt.

In den letzten 20 Jahren ist es zu massiven Veränderungen im Berufsfeld Tiermedizin gekommen, vor allem bei den TierärztInnen. Aus einem ehemals fast reinen Männerberuf wurde ein zum Großteil von Frauen ausgeübter. Dadurch hat sich auch das Spannungsfeld lange Arbeitszeiten – geringe Entlohnung verstärkt: Viele Tierärztinnen kehren nach einer Babypause gar nicht mehr in den familienfeindlichen Beruf zurück. Gerade der Nutztiersektor hat Nachwuchssorgen – was schon zu Rufen nach einer Männerquote im Studium geführt hat: Nach Ansicht einiger Tierärzte tragen nicht die schlechten Arbeitsbedingungen, sondern die Frauen, an die ein teures Studium verschwendet sei, die Schuld am jetzigen Nachwuchsmangel.

Die momentane Situation der in Praxen angestellten TierärztInnen stellt sich ähnlich dar wie in den anderen akademischen Medizinberufen: Lange Arbeitszeiten, geringe Entlohnung. Eine Entlohnung von unter 2.000 Euro brutto für eine AnfangsassistentIn in Vollzeit – normalerweise mindestens 48 Stunden in der Woche an sechs Arbeitstagen – gilt als sittenwidrig[2], ist aber in der Praxis eher hochgegriffen. Im Kleintierbereich sind zum Teil 500 Euro im Monat üblich. Gerade für frische UniversitätsabgängerInnen ist auch die Beschäftigung ganz ohne Gehalt – „Hospitation“ genannt – beliebt. Geringe Gehälter von AnfangsassistentInnen werden oft mit mangelnder Erfahrung gerechtfertigt, steigen oft aber auch nach mehreren Jahren nicht signifikant an. Zusätzlich verdienen Frauen bei vergleichbarer Tätigkeit im Schnitt zwischen 300 und 500 Euro im Monat weniger.

Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden täglich sind vor allem im Großtiersektor nicht unüblich. Zum Teil gibt es eine mehrstündige „Mittagspause“, in der sich die AssistentInnen aber zur Verfügung zu halten haben. Nächtliche Bereitschaftsdienste, oft mehrere in der Woche, und Wochenenddienste ohne Freizeitausgleich oder Zuschläge – beides ist gesetzlich vorgeschrieben – sind üblich, gesetzeskonforme Abrechnungsmodalitäten hingegen die absolute Ausnahme.

Bei den ArbeitgeberInnen liegt kein Unrechtsbewusstsein vor: Angestellte, die ihre gesetzlichen Rechte in Anspruch nehmen möchten, werden zum Teil öffentlich des Missbrauchs bezichtigt. Möglich wird dieses Verhalten auch hier durch das oft familiär geprägte Arbeitsumfeld, das häufig nur aus Chef und eventuellen Helferinnen besteht. Bei mehreren AssistentInnen kommt noch der soziale Druck seitens der KollegInnen hinzu. Krankheits- und Urlaubsabwesenheit müssen meist von den anderen voll und ohne Ausgleich aufgefangen werden. Allein schon den vollen Jahresurlaub zu nehmen, ist verpönt. Ohnehin wird regelmäßig nur der Mindesturlaub gewährt. Im schon arbeitgeberfreundlichen Mustervertrag der deutschen Tierärztekammer werden arbeitnehmerschützende Passagen einfach gestrichen oder es wird gleich ohne schriftlichen Vertrag gearbeitet.

In der Vergangenheit wurden diese Arbeitsbedingungen von den angestellten TierärztInnen regelmäßig als selbstverständlich hingenommen, da sie davon ausgingen, in absehbarer Zeit selbst „Chef“ zu sein und dann ebenso handeln zu dürfen. Durch die Veränderungen im Berufsfeld, die unter anderem auch dazu geführt haben, dass immer mehr TierärztInnen dauerhaft Angestellte bleiben, ändert sich diese Haltung gerade.

Es gibt momentan keine Vertretung der angestellten TierärztInnen. Der Bundesverband praktizierender Tierärzte (bpt) vertritt als Interessenverband sowohl Angestellte als auch selbstständige TierärztInnen[3]. Ein Spagat, der mehrheitlich zugunsten der Selbstständigen ausfällt, deren Vertretung auch vom bpt als seine wichtigste Aufgabe definiert wird. Lediglich bei der Vertretung der Interessen der von den Landkreisen angestellten TierärztInnen in der Fleischbeschau ist es unter Beteiligung des bpt jemals zum Arbeitskampf gekommen. Im Augenblick entwickeln sich vor allem mit Hilfe des Internets kleinere Interessengemeinschaften von angestellten TierärztInnen.

Ähnlich schlecht ist die Situation der tiermedizinischen Fachangestellten (TFA): Auch von diesen werden regelmäßig Überstunden ohne Entlohnung verlangt. Ein Erscheinen mitten in der Nacht, zum Beispiel für Not-Operationen, wird vorausgesetzt. Eine gesetzeskonforme Entlohnung findet meist nicht statt. Oft werden Teilzeitstellen angeboten, die sich in der Realität als Vollzeitstellen herausstellen, so dass das ohnehin schon schmale Einkommen weiter sinkt.

Der Beruf der TFA ist ein fast reiner Frauenberuf mit schlechter Entlohnung und geringen Aufstiegs- oder Weiterbildungschancen. Sofern die TFA Mitglied im Verband medizinischer Fachberufe[4] ist, der als Berufsverband und Gewerkschaft in einem fungiert, und ihr Chef gleichzeitig Mitglied im bpt ist, gilt für sie theoretisch der zwischen den beiden Berufsverbänden ausgehandelte Tarifvertrag. In der Realität wird dieser aber gerade in den vielen kleinen, „familiär“ geprägten Praxen nicht beachtet. Kranksein wird regelmäßig als Krankfeiern bewertet. Auch gesetzlich vorgeschriebene Arbeitsschutzbestimmungen wie die jährlich zu wiederholende Einweisung in den sicheren Umgang mit Röntgenstrahlung oder auch nur die Benennung einer Strahlenschutzbeauftragten werden ignoriert. Oft gibt es noch nicht einmal Dosimeter[5]. Theoretisch müsste das den zuständigen Stellen eigentlich ins Auge fallen. In der Praxis wird aber nicht nachgefragt. Selbst die Arbeitsschutzbestimmungen für Auszubildende unter 18 Jahren werden einfach ignoriert.

Arbeitszeit oder „Beschäftigungstherapie“? Die Situation in der Ergotherapie

Nicht viel anders sieht es im Bereich der ergotherapeutischen Praxen aus. Auch hier sind überwiegend Frauen angestellt, wenn auch zunehmend Männer den Beruf ausüben. Die Probleme, was die Anrechnung von Arbeitszeiten, die Bezahlung oder die Fort- und Weiterbildung anbelangt, ähneln denen der medizinischen Fachangestellten und angestellten MedizinerInnen, weisen aber zum Teil einige Besonderheiten auf. Auch in diesem Bereich sind gerade Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse verbreitet. Nicht weil ErgotherapeutInnen dies unbedingt wünschen oder ihre ArbeitgeberInnen besonders familienfreundlich sind, sondern weil ihnen dies vertraglich vorgegeben wird. Anders als ihre BerufskollegInnen in Akut- und Reha-Kliniken, Heimen und anderen Einrichtungen, werden sie nicht durch Kollektivverträge oder daran angelehnte Arbeitsverträge geschützt, sondern handeln die Bedingungen wie die angestellten Zahn- und TiermedizinerInnen individuell aus.

Die Bezahlung ist, gemessen an der Arbeitszeit, gering, gerade im Bereich der Praxen. Sie unterliegt bundesweit großen Schwankungen. ErgotherapeutInnen arbeiten im Niedriglohnbereich, teilweise bis hinunter auf ein Niveau, bei dem ohne weiteres von Lohnwucher bzw. sittenwidrigem Gehalt gesprochen werden kann. Keine Seltenheit sind geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, so genannte „400-Euro-Jobs“.

Bei ErgotherapeutInnen in Praxen wird die vertragliche Arbeitszeit im Wesentlichen durch die einzelnen, wahrzunehmenden Termine ausgefüllt. Diese werden von den ErgotherapeutInnen selbst vereinbart bzw. abgesprochen. Gängig ist, dass hier ein eigentliches Risiko des Chefs auf die Beschäftigten abgewälzt wird: Von KlientInnen abgesagte oder ausfallende Termine werden insbesondere in Praxen nicht auf die Arbeitszeit angerechnet, sondern sind nachzuarbeiten. Zur Überwachung der Arbeitszeit werden Stundenzettel von den Angestellten geführt, in die die Plan-Einheiten (Soll-Zeiten) eingetragen werden, denen am Monatsende die tatsächlich geleistete Arbeitszeit (Ist-Zeit) gegenübersteht. Letztere wird durch die beschriebenen Ausfälle gemindert oder durch Mehrarbeit erhöht, wenn beispielsweise Einheiten bei Krankheitsausfällen von KollegInnen übernommen wurden. Überstunden werden in diesen Einrichtungen von ArbeitgeberInnen oft ebenso wenig berücksichtigt. Freizeitausgleich oder Bezahlung? Fehlanzeige! Somit sind die Beschäftigten hier doppelt betrogen.

Und nun?

In Praxen findet sich die ganze Palette von Problemen, wie sie insgesamt im Niedriglohnsektor und in prekären Bereichen zu Tage treten: unentgeltliche Praktika, geringfügige Beschäftigung, befristete Vertragsverhältnisse, Teilzeitarbeit, lange Arbeitstage, unvergütete Teile eigentlicher Arbeitszeiten, fehlende Zuschläge, Überstunden, Arbeit auf Abruf, Individualisierung beruflicher Qualifikation. Hinzu treten die besonderen Bande zwischen ArbeitgeberInnen und Angestellten, die sich in mangelnder Distanz am Arbeitsplatz ausdrücken. Diese verstärken noch die Schwierigkeit, sich daraus zu lösen und dem etwas entgegenzusetzen.

Eine Organisierung abhängig Beschäftigter zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen ist allein durch ihre Zahl in den einzelnen Betrieben und ihre Streuung ungleich erschwert. Ein Bewusstsein für ihre besondere Lage ist demgegenüber oft nicht vorhanden bzw. wird – wie bei den MedizinerInnen – noch als temporäres Problem begriffen. Insofern ergibt sich hieraus, dass in einem weitestgehend unbeachteten, klassischen Niedriglohnsektor, in dem fast ausschließlich Frauen tätig sind, mit der Anstellung von AkademikerInnen und ErgotherapeutInnen ausgesprochen prekäre Bedingungen Einzug gehalten haben. Die Anstellungsverhältnisse, denen erstere zur Finanzierung ihrer Studienzeit in anderen Branchen wie Gastronomie, Kino oder ähnlichem unterworfen waren, setzen sich hier nur konsequent fort. Die Tretmühle des Jobberdaseins wird somit auch nach der Studienzeit nicht mehr verlassen.

Zwar gelten zum Teil für Medizinische Fachangestellte Tarifverträge[6], doch lassen auch diese die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen an vielen Stellen offen. Im Gegenteil: Hier wird sogar festgeschrieben, dass sich diese nach den Erfordernissen der einzelnen Praxen zu richten haben. Selbst in den Betrieben, in denen sie gelten bzw. die sich daran orientieren, bleibt Papier geduldig: Wo keine Klägerin, da kein Richter. Dies gilt auch für die Vielzahl von Praxen, in denen Kollektivverträge nicht zur Anwendung kommen. Denn mit den gesetzlichen Schutzbestimmungen, was beispielsweise Arbeitszeit und Arbeitsschutz anbelangt, nimmt man es ebenso wenig genau. Die Berufsverbände, die lediglich als eine Art gewerkschaftliches Servicebüro fungieren, haben diese Situation mit zu verantworten. Vor allem auch, wenn sie – wie bei den TiermedizinerInnen – zugleich die Arbeitgeberseite vertreten. Oder sich aber an den Arbeitgeberinteressen orientieren. Hier bedarf es also einer wirklich unabhängigen, kämpferischen Alternative!

Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte deshalb eine berufsgruppenübergreifende Organisierung in lokalen, auf regionaler und bundesweiter Ebene föderativ zusammengeschlossenen Gewerkschaften bieten. Die Berücksichtigung lokaler und beruflicher Besonderheiten wäre hier ebenso gewährleistet wie die volle Kontrolle über die Entscheidungen und Vorgehensweisen in den einzelnen Betrieben durch die Beschäftigten selbst.

Eine Verständigungsebene unter den Angestellten an einem Ort oder in einer Stadt wäre schnell erreicht, denn die Probleme ähneln sich in den verschiedenen Bereichen. Die Überschaubarkeit der einzelnen Betriebe ist gewiss Hürde, zugleich aber auch die Stärke der Praxisangestellten – wenn sie in eine solche verwandelt und genutzt wird! Sicherlich, es ist ein beliebter Ausspruch: „Jede ist ersetzbar!“, doch trifft dies tatsächlich zu? ArbeitgeberInnen können nicht von jetzt auf gleich auf alle MitarbeiterInnen verzichten. Manchmal ist es nur erforderlich, den Anfang zu wagen, sich nicht länger auf die individuelle Ebene zurückzuziehen, sondern zu versuchen, die Gemeinsamkeiten herauszustellen.

Was würde also passieren, wenn sich Angestellte an ihren ArbeitgeberInnen ein Beispiel nähmen, die – wie auch schon in der Vergangenheit – momentan gemeinsam mit Praxisschließungen gegen die Gesundheitspolitik der Bundesregierung demonstrieren?

Forderungen überbetrieblich aufzustellen, Druckmaßnahmen zu beschließen und sich für seine Interessen einzusetzen, ist offenbar nicht schwer. Erst recht nicht unmöglich.

Gewerkschaft Gesundheitsberufe Hannover (GGB) – Plenum

Anmerkungen

Die Gewerkschaft Gesundheits-berufe Hannover (GGB) ist eine kleine, basisdemokratische Ge- werkschaft, der sich neben klassischerweise organisierten Gesundheitsberufen in Kranken-häusern und der Pflege auch abhängig Beschäftigte aus den Bereichen Ergotherapie, Zahn- medizin und Tiermedizin ange- schlossen haben.

[1] PraxishelferIn oder Sprechstundenhilfe sind nur weit verbreitete umgangssprachliche Bezeichnungen. Die offizielle Berufsbezeichnung ist Medizinische Fachangestellte (MFA), bis zum 31. Juli 2006 ArzthelferIn. Es handelt sich hierbei um einen klassischen Assistenzberuf. Dieser entstand erst in den 50er Jahren. MFA arbeiten überwiegend in Arztpraxen zur Unterstützung von ÄrztInnen.

[2] Sittenwidrige Löhne: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) urteilt, dass Sittenwidrigkeit dann vorliegt, wenn sich Stundenlöhne ein Drittel unter dem Tariflohn bzw. unter dem ortsüblichen Lohn bewegen.

[3] Als ein Kriterium von Gewerkschaften gilt nach der Definition des BAG ihre „Gegnerfreiheit“. In ihre Reihen dürfen keine Arbeitgeber(-vertreter) aufgenommen werden.

[4] Der Verband medizinischer Fachberufe e.V. wurde 1963 als Berufsverband der Arzthelferinnen e.V. (BdA) gegründet. Neben den Aufgaben eines Berufsverbandes wie Öffentlichkeitsarbeit und Bildungspolitik, nimmt er zugleich die Aufgabe einer Gewerkschaft wahr. Nach seinem eigenen Verständnis ist er partnerschaftlich ausgerichtet.

[5] Dosimeter: Messgeräte zur Messung der Strahlendosis.

[6] 1969 wurde der erste Tarifvertrag für Arzthelferinnen abgeschlossen. 1982 folgte der erste Kollektivvertrag für Zahnarzthelferinnen, 1987 für Tierarzthelferinnen. Heute bestehen zwischen dem Verband medizinischer Fachberufe e.V. auf Arbeitnehmerseite und der „Arbeitsgemeinschaft zur Regelung der Arbeitsbedingungen der Arzthelferinnen bzw. Medizinischen Fachangestellten“ (AAA) sowie dem Bundesverband Praktizierender Tierärzte (bpt) auf Arbeitgeberseite zwei Tarifverträge auf Bundesebene und mit der „Arbeitsgemeinschaft zur Regelung der Arbeitsbedingungen für Zahnmedizinische Fachangestellte“ (AAZ) in Hamburg, Hessen und Westfalen-Lippe auf Landesebene. Bis zum 1. Juli 2009 gehörte zudem Berlin der AAZ an, das seinen Austritt erklärte. Aufgrund der Nachwirkung gilt für Berlin jedoch der alte Vergütungstarifvertrag vom 01.07.2007 weiter. Die Tarifverträge finden sich unter: http://www.vmf-online.de/verband/gewerkschaftsarbeit

Fotos: Jens Kammradt

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Die Redaktion der Direkten Aktion.

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