Kolumne Durruti

Was gibt es Schöneres, als nach einer anstrengenden Arbeitswoche am Samstagnachmittag im Stadion zu stehen, alte Freunde wiederzusehen, Bier und Bratwurst zu genießen und die eigenen Jungs beim Fußballspielen anzufeuern? Und doch, auch das kann man übertreiben.

Matthias Seiffert

In den nunmehr 31 Jahren, die ich mich schon als Fußballfan verstehe, habe ich einige Leute kennengelernt, die nicht genug davon bekommen können. Zum Beispiel sogenannte Groundhopper, die Fußballstadien sammeln, wie andere Briefmarken. Dabei kann es nicht exotisch und entlegen genug sein. So lernte ich einen nicht mehr ganz jungen Mann kennen, der jeden Urlaub in den letzten 15 Jahren mit Reisen zu den entlegensten Fußballplätzen der Welt verbrachte. Er hatte es in seinen Kreisen zu Bekanntheit gebracht, weil er sechs Wochen lang Spiele in der zweiten mongolischen Liga besuchte – mit selten mehr als 100 Zuschauern.

Wenn diesesprivate Steckenpferd mir noch ein tiefes Stirnrunzeln verursachte, trieb mich der schier selbstzerstörerische Lebenswandel eines anderen Bekannten in verzweifeltes Kopfschütteln. Nicht nur, dass er buchstäblich jeden Cent, den er verdient, in den FC steckt; jeden freien Tag mit Heimspiel, Auswärtsfahrten, Trainingsbesuch, einschließlich zweite Herren und Jugendmannschaften verbringt. Er schmiss die Ausbildung, weil es ihm wichtiger erschien, seinem FC St. Pauli möglichst nahe zu sein. Und heute bekommen ihn Frau und Kinder nur dann zu Gesicht, wenn wirklich gar kein Fußball in der Nähe stattfindet. Urlaub, Ferien, Verreisen? Wovon, alles geht schon für den Fußball drauf. Wann, schließlich muss er ja auch zu allen Auswärtsspielen – wofür es seit einigen Jahren sogar eine spezielle Dauerkarte gibt.

Einmal, es ist schon einige Jahre her, lieh er mir seine Heimspiel-Dauerkarte, als er unter der Woche arbeiten musste. Geld wollte er keines, dafür musste ich ihm schwören, vollen Support zu geben. Da lächelte ich noch zuversichtlich, nicht ahnend, was das bedeutet, wenn man sich unter den „Ultras“ wiederfindet. Ultras sind organisierte Fans, die Fahnen schwenken und Lieder singen, und das auf koordinierte Weise, was dann als „Choreo“ bezeichnet wird. Hier in der Kurve kann man nicht einfach Fan sein. Man ist Teil einer Inszenierung: alle 10 Meter sitzt ein „Capo“ – ein Vorsänger – mit dem Rücken zum Spielfeld auf dem Zaun, und gibt Parolen und Gesänge vor, die wir mitzusingen hatten. Diese Capos bekommen vom Spiel selbst nicht viel mit, wohl aber alles, was sich vor ihnen auf den Rängen tut. Und hier heißt es ununterbrochen: jetzt alle! Zusammen! Auf mein Zeichen! Schließlich kam der Moment, da der Capo vor mir ein Lied anstimmte, bei dem meine Lippen versiegelt blieben; zu kindisch, zu feindselig, zu langweilig ist mir der Text, nie singe ich hier mit, egal wo ich stehe. Da drehte sich der Capo zu mir um und brüllte durchs Megaphon: „Mitmachen, auch Du!“, und zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf mich. Jetzt verstand ich, warum manche nicht-organisierten Fans die Ultras auch die „Fan-FDJ“ nennen.

Doch es gibt offensichtlich viele Wege, sich das Leben selbst unnötig schwer zu machen. Fährt man in Berlin mit der S-Bahn raus Richtung Grunewald und Zehlendorf, dort, wo vorwiegend Reiche und Mächtige wohnen, begegnet man mit etwas Pech älteren Damen mit Gewaltpotential. Nun ist es mir schon zum fünften Mal passiert, dass eine Frau von geschätzten 70 Jahren extra die Beine ausstreckte, damit ich mich nicht auf den freien Platz ihr gegenüber setzen konnte. Typischerweise setzen sich diese Damen auf den Außenplatz eines Vierersitzes, damit sich neben sie niemand setzt. Und setzt sich ihnen jemand gegenüber, strecken sie die Beine aus. Im Feierabendverkehr macht sich das nicht besonders gut, und erregt nicht selten zorniges Unverständnis.

Wie auch in meinem Fall. „Was soll das jetzt werden?“, gab ich meinem Unverständnis Ausdruck. „Eine Dame“, erklärte mir die Frau, „kann nicht anders sitzen“. Was immer ich in der Folge anführte – dass die gute Frau kein Benehmen habe, dass mir solch rücksichtsloses Verhalten noch nie untergekommen sei, ob sie sich nicht schäme -, nichts focht sie an. Erst, als ich sie fragte, ob sie auch für vier bezahlt habe, wenn sie schon vier Plätze brauche, lenkte sie ein, mit der eigenwilligen Begründung, „ich bin nicht dick“.

Nun, wahrscheinlich war jene „Dame“ noch nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, der Chauffeur war wohl kurzfristig erkrankt. Wie man aber auf Dauer heil durchs Leben kommen will, wenn man andere Menschen stets nur als Ärgernis begreift und ganz offen auf Rücksichtnahme pfeift, erschließt sich mir nicht.

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