Durchschnittliche europäische Mobilisierung am 29. September, dafür harter Widerstand gegen die französische Rentenreform
Die Regierenden in Europa nutzen die Krise und verabschieden ein Sparpaket nach dem anderen, so dass Wirtschaftsnobelpreisträger Krugman befürchtet, den Leuten könne vom Gürtel-enger-Schnallen die Luft ausgehen – mit gravierenden Auswirkungen auf die Wirtschaft. Am 29. September fand u.a. deshalb in Spanien ein Aktionstag gegen die Arbeitsmarktreform statt (siehe DA Nr. 201). Nach Gewerkschaftsangaben beteiligten sich 70% aller Beschäftigten an dem Ausstand. Doch blieb er mit seinen 24 Stunden eher symbolisch. Auf denselben Tag fiel der Aktionstag des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), der zu Protesten gegen die EU-weiten Sparmaßnahmen aufgerufen hatte. Doch abgesehen von Spanien und z.T. Griechenland kam es nirgendwo zu größeren Streikaktivitäten. In Salzgitter demonstrierten immerhin 6.500 ArbeiterInnen während der Arbeitszeit – eine Ausnahme. So zogen bei der zentralen Demo in Brüssel fast 100.000 ArbeiterInnen in den Jubelpark, um den Reden der Gewerkschaftsgranden zu lauschen. Der französische Soziologe Arnaud Mias weist auf die Ritualhaftigkeit des EGB hin: Dieser sei eher eine „Salongewerkschaft“, die sich primär am institutionellen Räderwerk der EU orientiere. Kein Wunder, dass die Organisatoren sich an die Polizei gewandt haben sollen, um 148 „radikale“ DemonstrantInnen festnehmen zu lassen, wie die polnische ZSP berichtet.
In Frankreich hingegen nahm die Bewegung gegen die Rentenreform beträchtlichen Schwung auf. Am ersten Aktionstag demonstrierten bis zu drei Millionen. Bereits seit Anfang September befanden sich die Hafenarbeiter in Marseille im Streik, wo es auch um eine Hafenreform geht. Dort brachten dann auch prekär Beschäftigte Frauen aus den Schulkantinen Streiks ins Rollen, die LehrerInnen zogen alsbald nach. Bald streikten auch die Belegschaften der zwölf französischen Raffinerien, die wegen des Hafenstreiks ohnehin mit Engpässen zu kämpfen hatten. Ein weiterer Schub kam durch die LKW-Fahrer, die mit einer Art Bummelstreik („Operation Schnecke“) den Verkehr behinderten. Hohe Ausfälle gab es auch bei der Post und im Schienenverkehr. Die zentrale Taktik war jedoch die Blockade von Treibstoffdepots, Industriegebieten und Verkehrsadern. Wirtschaftsministerin Lagarde bezifferte die täglichen Ausfallkosten auf 400 Mio. Euro.
Die Argumente für die Reform sind bekannt – leere Kassen, Bevölkerungsentwicklung, höhere Lebenserwartung –, ebenso die Gründe für den Widerstand: Durch die Aufhebung von Steuergeschenken könnten leere Kassen gefüllt werden, und die höhere Rentnerquote werde durch Produktivitätszuwächse aufgefangen. Denn seit 1946 stieg die Produktivität um mehr als 800%. Zudem haben Arme und ArbeiterInnen eine geringere Lebenserwartung als etwa leitende Angestellte. Knapp zwei Drittel der Über-55-Jährigen seien ohnehin erwerbslos. Dennoch soll Anfang November die Reform vom Präsidenten unterzeichnet werden. Somit wird das Mindestrentenalter von 60 auf 62 erhöht. Die Zahl der Beitragsjahre erhöht sich auf 41, was angesichts des durchschnittlichen Einstiegs ins Erwerbsleben mit 27 und chronischer Erwerbslosigkeit für die Masse der Lohnabhängigen bedeutet, bis zum regulären Rentenalter von 67 malochen zu müssen.
Nach zwei Wochen Streik erklärten sich 69% der Bevölkerung mit der Bewegung und 46% mit den Blockaden solidarisch. Sarkozys Umfragewerte liegen dagegen bei 30%. Nachgeben scheint für ihn keine Option gewesen zu sein, zumal ein Erfolg der Streikbewegung EU-weit zu einigem Echo hätte führen können. Daher schritten die „Ordnungskräfte“ zur Räumung der Blockaden. Es kam vielerorts zu einem Katz-und-Maus-Spiel: die Streikposten zogen sich zurück, nur um sich am nächsten Morgen wieder aufzustellen. Die Arbeiter der Raffinerie Grandpuits (nahe Paris) wurden gar per Notverordnung zurück an die Arbeit geholt – unter Androhung von bis zu fünf Jahren Haft, auch wenn ein Gericht später den Erlass für ungültig erklärte. In Marseille wurde derweil die Fremdenlegion eingesetzt, um die Müllabfuhr zu besorgen. Auch der vielfache Einsatz von Provokateuren ist belegt, die Vorwände für Verhaftungen lieferten und die Bewegung in Verruf bringen sollten. Mit dem Import von Treibstoff aus den Nachbarländern wurde zudem ein internationaler Streikbruch organisiert, auf den auch vonseiten deutscher Gewerkschaften nicht angemessen reagiert wurde.
Nach Verabschiedung der Reform heißt es nun, es gäbe keine Grundlage, ein „demokratisch“ verabschiedetes Gesetz zu torpedieren. Die Bewegung gegen die Aufhebung des Kündigungsschutzes 2006 beweist zwar das Gegenteil (siehe DA Nr. 175), doch die Regierung hofft, damit den Gewerkschaften eine Scheu vor der Radikalisierung einzujagen. Traditionell sind diese zahlenmäßig schwächer als in der BRD, doch die Branchen- und lokalen Verbände verfügen über einiges mehr an Autonomie. Sie – und nicht die Dachverbände – waren es, die zu unbefristeten Streiks aufriefen. Meist entscheidet eine tägliche Vollversammlung der Belegschaft über Fortgang oder Ende des Kampfes, wodurch in der Aktion Einheit und Dynamik entstehen. Ende Oktober scheint aber der Moment gekommen, da die Dynamik abnimmt und die Stunde der Organisationsspitzen schlägt.
Mit den Raffineriearbeitern stimmte das Rückgrat der Bewegung für ein Ende des Streiks. Dennoch soll es noch einige Glutnester geben. In Marseille etwa, streiken die Beschäftigten der Müllverbrennungsanlage weiter. Nach den Ferien, beim Aktionstag Anfang November, wird sich entschieden haben, ob der Widerstand weitergeht. Eines jedoch ist sicher: In Frankreich wurde gekämpft, nicht protestiert. In der Bewegung haben wirtschaftliche Ansatzpunkte und radikale Taktiken eine zentrale Rolle gespielt. Wenn eine Lösung für die finanzielle Klemme einiger Streikenden wegen nicht existenter Streikkassen gefunden wird, könnte die nächste Schlacht noch härter werden. Und die wird kommen, denn die Polarisierung in der französischen Gesellschaft ist nicht zu übersehen.
André Eisenstein
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