Globales

Prekär, prekärer, Portugal

Im Land der wuchernden Scheinselbständigkeit organisieren sich immer mehr Prekäre selbst

Während hierzulande der Begriff der „Prekarität“ mühsam etabliert werden musste, begegnet man ihm in Portugal an jeder Ecke. Denn das Land von Fado und Ronaldo hat in der EU den höchsten Anteil an prekärer Arbeit, die sogar bis in den öffentlichen Dienst vorgedrungen ist. Obwohl die Gewerkschaften, äußerlich betrachtet, nicht gerade zu den zurückhaltenden gehören, wird das Problem von ihnen fast schon stiefmütterlich behandelt. Und so setzen immer mehr Prekäre auf das Mittel der Selbstorganisation.

In der BRD erleben wird derzeit den Trend, dass zunehmend Menschen auf Honorarbasis arbeiten müssen. Sie erledigen eigentlich reguläre Arbeiten, verfügen aber über keinen Arbeitsvertrag und die damit verbundenen sozialen Vorteile, während der Boss sich die Sozialabgaben spart. In Portugal ist das nicht anders, nur hat sich dort die Scheinselbständigkeit zu einem umfassenden und perfiden System entwickelt. Die „grünen Quittungen“ machen es möglich. Einst für die Abrechnung freiberuflicher Dienstleistungen (wie etwa von Handwerkern) geschaffen, beschäftigen heute 35% aller Unternehmen „Selbständige“ auf dieser Grundlage. Mehr als 900.000 der etwa fünf Mio. Arbeitskräfte arbeiten mit dem grünen Schein. Dieser Prozess geht einher mit einer Ausweitung der Leiharbeit in fast allen Berufsbereichen. Selbst der öffentliche Dienst heuert mittlerweile LeiharbeiterInnen auf diese Weise an.

Der Druck auf dem Arbeitsmarkt ist hoch. Etwa 40% der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Bei einer Arbeitslosenquote von etwa 8% ein klarer Fall von working poor. Denn der Anteil an prekärer Arbeit in Portugal beläuft sich auf etwa ein Drittel, viele Erwerbstätige verdienen nicht mehr als 500 Euro im Monat. Von der Arbeitslosenversicherung haben v.a. die „grünen“ ArbeiterInnen wenig. Denn einen Anspruch auf Unterstützung hat man erst, wenn man 36 Monate Beiträge entrichtet hat. Nur wenige sind solange am Stück beschäftigt; sie zahlen somit ein, ohne etwas zurückzuerhalten.

In dieser Situation kümmern sich die Gewerkschaften, wie etwa die CGTP, im Wesentlichen um ihr Stammklientel der Regulären. Obwohl das Problem gesehen wird, dass auch deren Sicherheiten durch die Prekarisierung bedroht werden, verfolgt sie keine nennenswerte Strategie in dieser Frage. Die Prekären hätten in der Gewerkschaft genauso ihren Platz wie die Festangestellten, beteuert man bei der CGTP. Doch bei einer Gewerkschaftsarbeit, die wie bei der CGTP auf festen Betriebsbindungen basiert, ist das gleichbedeutend mit Ausgrenzung. Sicher, es gibt sie, die Kampagne gegen Prekarisierung. Mit ihr wolle man für jede feste Stelle einen festen Vertrag erwirken. Nach Angaben der CGTP wurden durch sie schon mehrere tausend Stellen umgewandelt.

Bei den Prekärenorganisationen, die sich zunehmend bilden, scheint man das anders zu sehen. Hier fühlt man sich von den Gewerkschaften vernachlässigt und setzt immer häufiger auf Selbstorganisation. In Porto etwa gründete sich Anfang 2009 das Movimento Popular de Desempregados e Precários (MDPD). Hier setzt man auf Selbsthilfe: auf kostenlose Speisungen (in Kooperation mit Bäckereien), den Anbau eigener Lebensmittel, Kleidersammlungen, Beratung und soziale Hilfe, bis hin zu einer Arbeitsbörse, wo man sich gegenseitig Jobs vermittelt. Die Initiative FEVRE wiederum erreichte einige Beachtung mit einer Online-Petition, die sich gegen die grünen Scheine richtete. Sie hatte eine öffentliche Debatte und Diskussionen im Parlament zur Folge. Oder etwa die Precarios Inflexiveis, die sich für eine Aktivierung von Prekären stark machen, Betroffene mit sozialen Initiativen vernetzen und reguläre Arbeitsverträge durchsetzen will.

Auf diese Weise konnten die Prekären bereits einigen Druck entfalten. Und die Regierung reagierte mit einem neuen Gesetz, nach dem Unternehmen mit Geldstrafen belegt werden können, die mit den Quittungen reguläre Beschäftigungsverhältnisse umgehen. Doch die Strafen sind so gering und rar gesät, dass sich die Praxis weiterhin gut rentiert. Tatsächlich bewegt sich diese im rechtlich fragwürdigen Bereich. Denn auch nach portugiesischem Arbeitsrecht hätten viele Scheinselbständige ein Anrecht auf einen regulären Vertrag. Selbst die Regierung verweist – auch um sich aus der Verantwortung zu stehlen – darauf, dass man ja den Arbeitgeber verklagen könne. Die Klagen bleiben dennoch aus, häufig wegen großer Angst, gar keinen Job mehr zu haben, oder aufgrund rechtlicher Unkenntnis, aber vielleicht auch aus Mangel an einer gewerkschaftlichen Organisation, die solche Fälle exemplarisch und offensiv anstrengt.

Leon Bauer

Redaktion

Die Redaktion der Direkten Aktion.

Share
Veröffentlicht von
Redaktion

Recent Posts

Syndikalismus für das 21. Jahrhundert II

Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.

13. November 2024

Syndikalismus für das 21. Jahrhundert

Der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben…

23. Oktober 2024

Aber es braucht viele.

Rezension zum Buch der Sanktionsfrei e.V. Gründerinnen über Bürgergeld, Armut und Reichtum.

9. Oktober 2024

Arbeiter:innen für die Zukunft des Planeten

Arbeits- und Klimakämpfe verbinden - zum neuen Buch von Simon Schaupp und dem Film Verkehrswendestadt…

2. Oktober 2024

Back to Agenda 2010?!?

Alter Chauvinismus oder die Kehrtwende in eine neue Fürsorglichkeit.

31. August 2024

Marxunterhaltung und linker Lesespaß

Rezension zu „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“

24. August 2024