Zwei Filme aus der Hauptstadt setzen dem Taumel um die Deutsche Einheit die Erinnerung an den Neuaufbruch der HausbesetzerInnen-Szene entgegen
Was epochale Rückblicke anbelangt, waren linke Bewegungen schon immer um Augenhöhe mit der staatstragenden Geschichtsschreibung bemüht. Selbstverständlich waren auch die Jahresfeiern zu „20 Jahre Mauerfall/20 Jahre deutsche Einheit“ in den Jahren 2009 und 2010 Anlass für vielfältige Gruppen und Strömungen, die Deutungshoheit der Institutionen und Medien über das kollektive Gedächtnis in Frage zu stellen. Die thematische Spannweite war enorm: Während etliche K-Gruppen und deren Ableger mit Reichweite bis in die Partei „Die Linke“ hinein in erster Linie um Rehabilitation der DDR bemüht waren und trotzig bis störrisch tapfer weiter den Staatssozialismus propagierten, waren die Jubiläen in autonomen Antifa-Kreisen oftmals ein willkommener Anlass, sich die jeweiligen Lieblingstheorien zum deutschen Nationalismus um die Ohren zu hauen. Wieder andere stellten sich „Gegen das Ende der Geschichte“ und verquickten Mauerfall und die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise zu manchmal etwas gewagten Thesen und Handlungsvorschlägen zur Überwindung des Kapitalismus. Strömungsübergreifend wurden vor allem die mit der „Wende“ einhergehenden neonazistischen Gewalttaten gegen den offiziellen Ideologiebetrieb der Einheitsfeiern in Stellung gebracht.
In Berlin, Hauptschauplatz des Geschehens damals und heute, ließ es sich auch etwas weniger staatstragend und theorielastig mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen – weil es tatsächlich auch eine eigene kämpferische Praxis gab, auf die sich in diesem konkreten Fall bezogen werden kann: die Rede ist von den Häuserkämpfen in Ost-Berlin nach dem Mauerfall und in den frühen 90er Jahren. Der Mythos der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain steht dabei symbolisch für eine Zeit, in der der Untergang eines ganzen Staates kurzfristig Räume, Ideen und eine ungeahnte Energie zur Realisierung sozialer Utopien freisetzte. Die Mainzer Straße steht aber auch für die Unausweichlichkeit des Konflikts solcher Prozesse mit den hegemonialen Strukturen der kapitalistischen Wirklichkeit, sobald sie auch nur ansatzweise gesamtgesellschaftliche Relevanz bekommen.
Diese Geschichten haben zwei unterschiedliche Filmprojekte nun aufgegriffen: Zum einen William Perfetti’s „20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzer Fall“, welches sich also vom Titel her schon als direktes Gegenstück zur bundesrepublikanischen Selbstinszenierung versteht, und zum anderen Katrin Rothe’s „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag – Die Mainzer Straße wird geräumt“. Beide Filme sind Ende 2010 erschienen und entstammen sozusagen der Kiez-eigenen Erinnerungskultur linker und autonomer Zusammenhänge im Bezirk: Die Erzählungen spinnen sich um die Schilderungen „Ehemaliger“ herum, die nach wie vor in der Gegend leben und sowohl einen starken individuellen wie auch kollektiven Bezug zu den Ereignissen um 1990 aufweisen – ob nun mit DDR- oder BRD-Vergangenheit.
Trotz der Gemeinsamkeiten in Thematik und Machart unterscheiden sich die beiden Dokumentarfilme stark von einander. William Perfetti’s Film ist eindeutig derjenige, dessen Fokus explizit ein umfassender sein soll: Sich von den Fernsehberichten zum Treffen der Staatsspitzen anlässlich der Jahresfeiern zum Mauerfall abwendend, beginnt der Italiener, der selbst Anfang der 90er nach Berlin kam, als Rahmenerzähler in den frühen 70er Jahren mit den Ursprüngen des „Häuserkampfes“ um das Bethanien im West-Berliner Bezirk Kreuzberg. Anders, so Perfetti, seien die Kämpfe in Ost-Berlin nach dem Mauerfall, und insbesondere der Konflikt um die Mainzer Straße, nicht zu verstehen. Das besetzte Bethanien befand sich in unmittelbarer Nähe zur Staatsgrenze der BRD, vom Dach aus hatten die BesetzerInnen einen untrüglichen Blick auf den militarisierten „Realsozialismus“. Die auf dem Gebäude wehende schwarz-rote Fahne symbolisierte eine jugendliche und proletarische Eigenständigkeit gegen die Blockideologie des Ost-West-Konflikts. Martin Reiter, ein Zeitzeuge des Films, Aktivist und Künstler aus dem arthouse Tacheles, beschreibt die bemerkenswerte Entwicklung dieser Bewegung in den 80er Jahren, und wie sich West-Berlin durch sie veränderte: Die Trutzburg des „westlichen Konzernkapitalismus entgegen dem Staatskapitalismus des Ostens“ (Reiter) wurde zu einer linken Insel in Mitteleuropa, in der die HausbesetzerInnen-Bewegung zu einem gewichtigen Faktor aufstieg und Menschen aus vielen Ländern faszinierte und anzog – diesseits und jenseits des „Eisernen Vorhangs“. Wie der Österreicher Martin Reiter auf eben dieser „Insel“ sein neues Zuhause fand, so tat dies auch Jan Georg Fischer, ein in dem Film ebenfalls zu Wort kommender DDR-Dissident, der nach zwei Inhaftierungen aufgrund seiner politischen Aktivitäten und Überzeugungen nach West-Berlin ging, um sich dort der HausbesetzerInnen-Szene anzuschließen. Szenen aus einer Reportage des öffentlich-rechtlichen Fernsehens verdeutlichen noch mal den Konflikt mit den Interessen der InvestorInnen, die mit Abriss der Kreuzberger Altbaustruktur und Neubau teurer Eigentumswohnungen nicht bloß ein paar linke Post-68er, sondern auch große Teile der Bevölkerung gegen sich aufbrachten. Tatsächlich wurde in den oft eskalierenden Kämpfen der 80er Jahre durchgesetzt, dass Häuser, die aus bloßen Spekulationsgründen leerstanden, im Falle einer Besetzung zumindest vorerst nicht geräumt wurden.
Mit der Taktik aus „Zuckerbrot und Peitsche“ – also punktuelle Legalisierung von Besetzung einerseits, massive Polizeieinsätze andererseits, die auch den Tod Klaus-Jürgen Rattays nach sich zogen – waren Neubesetzungen in West-Berlin Ende der 80er Jahre fast unmöglich gemacht worden; die Szene befand sich vielmehr in einem ständigen Abwehrkampf um die bestehenden Häuser. In Verhandlungen wurden die BewohnerInnen und ihr Umfeld gegeneinander ausgespielt und zu Konformismus gedrängt, bis sie dann oft trotzdem einer Räumung wehrlos gegenüberstanden; diejenigen, die diesem Spiel eine radikale Absage erteilten, bekamen die ganze Gewalt der Staatsorgane zu spüren. Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 änderte sich dann urplötzlich die Situation: Ost-Berlin war in ein Machtvakuum gefallen, welches fast ein Jahr, bis zur offiziellen Einverleibung der DDR in die BRD am 3. Oktober 1990, die Möglichkeit zur kollektiven Selbstorganisation jenseits staatlicher und – zumindest was den Wohnraum anging – auch kapitalistischer Strukturen bot. Der Konflikt um die vielen leerstehenden Häuser in Ost-Berlin war zudem kein neuer und wurde nicht aus dem Westen importiert: Vielmehr hatte sich schon in der DDR eine Bewegung entwickelt, in der sich Menschen gegen ein eingepferchtes Leben im sozialistischen Einheitsplattenbau wandten und vor allem in Friedrichshain die alten, oft vom Zerfall bedrohten Häuser in Besitz nahmen. Anders als im Westen, wurde dies in Ost-Berlin meist von den Behörden geduldet. Mit der sich nach dem Mauerfall andeutenden Annektierung der DDR durch die BRD stand dieses „Gewohnheitsrecht“ auf dem Spiel und somit trugen viele bisher „stille“ BesetzerInnen ihr Anliegen um mietfreies und selbstorganisiertes Wohnen offensiv auf die Straße. In einigen Fällen vermengte sich dieses Anliegen sehr schnell mit den politischen Standpunkten, die die Westberliner Szene in den 80er Jahren entwickelt hatte: Es ging nicht bloß um ein besseres Wohnen, sondern auch um die kollektive Organisation des eigenen Lebens, den Aufbau autonomer, selbstverwalteter Strukturen, in denen die Überwindung sämtlicher Herrschaftsverhältnisse zielgebend sein sollte.
An diesem Punkt verliert William Perfetti’s Film allerdings ein wenig die Spur. Der ideologiekritische Ansatz der Gegenüberstellung der Einheitsfeiern 20 Jahre danach mit der Erinnerung an die Häuserkämpfe in Ost-Berlin tritt mit fortschreitender Länge der Dokumentation nicht mit klarer Schärfe hervor; die immer wieder eingeschnittenen Fernsehberichte zu den Staatsfeierlichkeiten geraten immer mehr aus dem Kontext, ohne dass Rahmenerzähler Perfetti, der als „Stimme aus dem Off“ die Möglichkeit dazu hätte, hier Abhilfe leistet. Auch die Erzählungen seiner Zeitzeugen geraten etwa ab der Hälfte des Films eher zu Schilderungen der individuellen Nischenfindung nach dem Ende des großen Neuanfangs, ohne dass sie einen für die Zuschauenden Erkenntnis bringenden roten Faden aufweisen. Über die Länge des Films betrachtet, erscheint der Titel „20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzer Fall“ sogar etwas irreführend: Nicht so sehr der Konflikt um die Mainzer Straße steht im Vordergrund, vielmehr geht es um die Entwicklung alternativer Wohn- und Kulturprojekte in West- und Ost-Berlin im Laufe der Zeit. Bezeichnender Weise war keiner der interviewten Zeitzeugen tatsächlich selber BewohnerIn der Mainzer Straße, und jegliche Beteiligung an den Kämpfen war höchstens indirekt. Der Film verliert sich so immer weiter in den Lebensgeschichten einiger
Menschen, die es sich mit selbst erzeugtem Öko-Strom und Nachhaltigkeitsprojekten, Medien und Kultur ein wenig im Status Quo gemütlich gemacht haben. Der um einiges kürzere Film „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag – die Mainzer Straße wird geräumt“ beschränkt sich dagegen auf die Erzählungen von Leuten, die die Geschehnisse um die Mainzer Straße als Beteiligte erlebten, auf ihre Motivationen, Hintergründe und Taten. Katrin Rothe kommentiert im Gegensatz zu William Perfetti den Film nicht selbst, nur kleine „Zwischenüberschriften“, untermalt mit Fotos und Musik, geben der Dokumentation eine Gliederung. Die Erzählungen ihrer Interviewpartner lenkt sie auch nicht, wie es Perfetti unverkennbar tut, auf deren politische Einschätzungen und Überzeugungen, vielmehr kommen diese durch ihre Erinnerungen an die Mainzer Straße selber und – das ist das Entscheidende – im Kontext darauf zu sprechen. Dem Film tut dies sehr gut; während Perfetti’s Film mit dem Anspruch, das große Ganze im Blick halten zu müssen, so manche Unschärfe beinhaltet (z.B. Martin Reiters Einschätzung, dass Widerstand gegen das System kontraproduktiv sei, weil sich dieses ja doch von allein erledige) sprechen die Interviewten bei Rothe über ganz konkrete Sachverhalte. Zudem lässt Rothe auch Widersprüche zu, so dass die Ausführungen der Erzählenden vielmehr als eine Diskussion wahrgenommen werden. Bei Perfetti hingegen, so scheint es, soll eigentlich eine Wahrheit vermittelt werden, nur leider hat sie der Film nicht finden können.
„20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzerfall. Mit Willy unterwegs in Berlin“, Dokumentarfilm von und mit William Perfetti, 112 Minuten in zwei Teilen. Kino-Premiere war am 18.12. mit William Peretti im Kino Lichtblick in Berlin. Weitere Informationen bei www.lichtblick-kino.org
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag – die Mainzer Straße wird geräumt“, Dokumentarfilm von Kathrin Rothe, 40 Minuten. Als DVD erhältlich bei Good!Movies, www.goodmovies.de
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
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