Aus Protest gegen die britische Sparpolitik gehen Studierende auf die Barrikaden
Die neue britische Regierung – liberal-konservativ – wäre fast zu bemitleiden. Im Zuge der Wirtschaftskrise hat auch der Finanzstandort London gelitten, und nun ist auch Großbritannien von einer Herabstufung durch die Ratingagenturen, d.h. von höheren Zinsen bedroht. Jedenfalls ist nun auch auf der Insel, wie im restlichen Europa, „Sparen“ angesagt. Sicherlich keine leichte Aufgabe, haben doch bereits die Vorgängerregierungen der letzten Jahrzehnte wo irgendmöglich den Rotstift angesetzt und das Tafelsilber verscherbelt.
Doch ein waschechtes wirtschaftsliberales Kabinett findet immer einen Hebel. Mitte Oktober kündigte die Regierung 95 Mrd. Euro schwere Einschnitte an. Mit im Paket: die Erhöhung der Schul- und Studiengebühren. Ein Thema, von dem man hierzulande wohlweislich – und sei es mit Blick auf den „Bildungsstandort“ – die Finger lässt. Nicht so die Tories und Liberalen: Sie ließen prüfen, die Begrenzung der Gebühren auf umgerechnet 3.866 Euro aufzuheben, bis zu 11.700 Euro sollten die Universitäten dann gänzlich für ihren eigenen Haushalt verwenden können.
Es ist klar, welche Befürchtungen solche Pläne wachrufen und wogegen sich die Studierenden wehren: Würde nämlich den Universitäten in diesem Bereich freie Hand gelassen, verkäme die wissenschaftliche Einrichtung wohl bald zum Club von Privilegierten und einigen wenigen Stipendiaten. Die Reform würde zudem nicht nur das Uni-Studium, sondern auch das Abitur und die berufliche Fortbildung betreffen.
Zu einer ersten großen Demonstration kam es am 10. November in London, zu der die Gewerkschaften der Lehrkräfte (UCU) und der Studierenden (NUS) aufgerufen hatten. Sie argumentierten v.a. dahingehend, dass Bildungsausgaben als Investitionen in einen künftigen Wirtschaftsaufschwung zu verstehen seien. Hier, inmitten der etwa 50.000 Protestierenden, einer der größten Demonstrationen seit Jahren, trat erstmals ein „Block radikaler ArbeiterInnen und Studierender“ auf, der ein bisher ungekanntes Level der Kooperation verschiedener Basisgruppen darstellte. Der Bündnis warnte, dass ein von Gewerkschaftsbürokraten und Politikern kontrollierter Kampf die Regierung nie zum Nachgeben zwingen könne. Der Protestzug drang schließlich in die Londoner Parteizentrale der Konservativen ein: Scheiben gingen zu Bruch, Büros wurden verwüstet, jugendliche Wut brach sich Bahn – eine Woche zuvor war es zu ähnlichen Protesten in Dublin gekommen. Die zunächst völlig überforderten Polizeikräfte nahmen schließlich 50 Protestierende fest und fahndete nach 250 weiteren.
Es wäre jedoch irrig, diesen Gewaltausbruch allein den radikalen Gruppen wie der IAA-Sektion Solidarity Federation (SolFed) und anarchistischen Gruppen zuzuschreiben. Einige Zeitungen behaupteten gar, die SolFed allein sei für die Zusammenstöße verantwortlich, was diese als „absurd“ zurückwies. Ein beteiligter Student erklärte, „es waren garantiert einige Anarchisten da, aber ich muss sagen, es waren insbesondere jüngere Studenten“ in der Menge, aber auch Lehrkräfte. Ein 17-Jähriger erklärte: „Gewalt ist sicherlich nicht gut, aber es ist der einzige Weg, damit sie uns zuhören.“ Ein Assistent im Fachbereich Internationale Beziehungen der Sussex-Universität wird mit der Aussage zitiert, es gäbe etliche Regierungsgebäude in diesem Teil Londons und „alle wären legitime Ziele von Protest und Besetzung gewesen“. Auch David Graeber, Anthropologe am Londoner Goldsmiths-College sagt, er sei „sehr stolz“ auf die Studierenden und SchülerInnen, und fügt hinzu: „Sie [die Regierung] werden uns als Schläger hinstellen, aber in Wirklichkeit sind sie die Schläger und wir stehen für die Zivilisation.“
Zwei Wochen darauf anlässlich eines weiteren landesweiten Aktionstages versuchten die „Sicherheitskräfte“, die Demonstrationen einzukesseln und erneute Besetzungen zu verhindern. Der SolFed zufolge gelang es den Protestierenden jedoch vielfach, die Polizeiketten zu durchbrechen und teils auch (Universitäts-)Gebäude über 24 Stunden hinweg zu besetzen.
In der Zwischenzeit wurde die Reform im Dezember vom Parlament mit knapper Mehrheit verabschiedet: die Obergrenze wurde nicht aufgehoben, sondern auf 10.700 Euro ausgedehnt. Ein Erfolg der Proteste ist das nicht. Aber es war sicher nur die erste Runde in einem langen Kampf gegen die Angriffe der Regierung, die nun einen erneuten Anlauf nehmen will, die Post zu privatisieren.
Simon Galliers und André Eisenstein
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