Die Auseinandersetzung um die im letzten Sommer vom Bundesarbeitsgericht (BAG) gekippte Tarifeinheit geht in die nächste Runde, Schauplatz ist wieder einmal die Bahn. Seit letztem Jahr verhandelte die Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (GdL) mit der Bundesbahn (DB) und den sogenannten G6 (die privaten Bahnunternehmen Abellio, Arriva Deutschland, BeNEX, Keolis Deutschland, Veolia und Hessische Landesbahn) über den Abschluss eines Bundesrahmen-Lokführertarifvertrages (BuRa-LfTV), der auf eine Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen für LokomotivführerInnen abzielt.
Die GdL fordert eine einheitliche Vergütung auf dem Niveau der DB, außerdem sollen u.a. einheitliche Qualifizierungsstandards eingeführt und die Übernahme von Belegschaften bei Betreiberwechseln geregelt werden. Einige der privaten Bahnunternehmen zahlen momentan bis zu 30% niedrigere Löhne als die DB, außerdem erhalten Beschäftigte weniger Urlaub und Zuschläge. Die GdL verlangt deshalb die schrittweise Anhebung der Niedriglöhne, die von den privaten Bahnunternehmen offen als Wettbewerbsvorteil gepriesen werden. Bei Neuausschreibungen sollen laut GdL immer Löhne auf DB-Niveau bezahlt werden.
Abkehr vom Verhandlungstisch
Nachdem die Gewerkschaft noch im Oktober erklärt hatte, dass sich Verhandlungen „auf einem guten Weg befänden“, kündigte sie Anfang Februar schließlich Arbeitskämpfe an. Die G6 hatten bereits protokollierte Vereinbarungen zurückgezogen und von der GdL gefordert, sich dem Branchentarifvertrag zwischen ihnen und der aus der Fusion von Transnet und GDBA hervorgegangenen EVG anzuschließen. Dessen Entgeltniveau liegt jedoch 6,25% unter der von der GdL geforderten Vergütung bei der DB. Außerdem betont die GdL, dass sie die legitime Vertretung der LokomotivführerInnen sei, weil sie rund 75% von ihnen organisiere, im Gegensatz zu den 10% der EVG. Der EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner hingegen bezeichnet seinen Tarifvertrag als „wegweisend“ und relativiert die Bedeutung des Organisationsgrades: „Für die Beschäftigten ist nicht der vermeintliche Organisationsgrad entscheidend, sondern die Tatsache, wer ihre Interessen tatsächlich vertritt“.
Während die G6 und die DB die GdL in den Medien zur Rückkehr an „einen schönen, runden Verhandlungstisch“ – so Bahn-Personalchef Ulrich Weber gegenüber der Zeit – auffordern, hat die Gewerkschaft mit Warnstreiks begonnen. Am 7. März soll schließlich eine Urabstimmung über umfassendere Arbeitskampfmaßnahmen stattfinden. Der erste zweistündige Warnstreik am 22. Februar führte nach Gewerkschaftsangaben zum Ausfall von rund 80% der Züge, noch Stunden später kam es zu teils erheblichen Verspätungen. Medien hatten unter Berufung auf ein vermeintliches Schreiben der GdL bereits Streiks für den 21. Februar angekündigt, die GdL bezeichnet das Dokument jedoch als irreführende Fälschung.
Mehr als nur ein Tarifkonflikt
Für die GdL scheint es bei dem Konflikt nicht nur um die Durchsetzung ihres Tarifvertrages zu gehen, sondern um ihre Existenz. Denn offensichtlich spielen die Arbeitgeber auf Zeit und setzen auf die im Sommer 2010 von DGB und Arbeitgeberverband BDA angestoßene Initiative zur „Wiederherstellung“ der Tarifeinheit per Gesetz warten. Das Bundesarbeitsgericht hatte den bis dato herrschenden Grundsatz „ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ für nichtig erklärt. Nach dem Urteil forderte eine gemeinsame Initiative des DGB und des BDA umgehend ein Gesetz zur Wiederherstellung der Tarifeinheit (siehe auch Direkte Aktion Nr. 200). Dieses sollte eigentlich bereits im November vom Koalitionsausschuss diskutiert werden, Bundeskanzlerin Merkel hatte zuletzt eine Lösung bis Ende Januar angekündigt.
Wie genau eine solche „Lösung“ aussehen könnte, ist ungewiss. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sieht zwar die gesetzlich erzwungene Tarifeinheit als prinzipiell nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren Eingriff in die Koalitionsfreiheit an, dennoch gebe es auch andere Wege, die „Ausweitung der Tarifpluralität einzudämmen“ oder ihre „negativen Folgen“ zu verringern. Dazu werden in dem Gutachten der sogenannten Wirtschaftsweisen konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, beispielsweise könnte das BAG die in den letzten Jahren erfolgte „Verwässerung“ des Streikrechts rückgängig machen, auch könnte man den Geltungszeitraum von Tarifverträgen „synchronisieren“.
Für die GdL jedenfalls geht es nun ums Ganze. Die Annahme des von der schwächeren EVG „ausgehandelten“ Tarifvertrages wäre ein Armutszeugnis und eine Absage an die eigene Tarifmächtigkeit. Andererseits steht die GdL unter zeitlichem Druck. Falls tatsächlich von Regierungsseite versucht werden sollte, die nun bestehende Tarifpluralität per Gesetz wieder abzuschaffen oder anderweitig die Arbeitskampfmittel der kleineren Gewerkschaften noch weiter einzuschränken, könnte das Kräfteverhältnis kippen, die Verhandlungsposition GdL im Tarifkonflikt nachhaltig Schaden nehmen und die Arbeitgeber könnten Kampfmaßnahmen möglicherweise gerichtlich verbieten lassen. Die GdL hat in dieser Situation die Flucht nach vorne ergriffen und appelliert in einer Sonderausgabe der Gewerkschaftszeitung Voraus an den Kampfgeist ihrer Mitglieder zur Verteidigung der Koalitionsfreiheit: „Es geht um das Existenzrecht und die Handlungsfreiheit der GdL und ihrer Mitglieder – nicht mehr und nicht weniger“.