Wesentlich im Kampf gegen die Diktatoren Nordafrikas waren die Streiks – damit haben nun auch die neuen Regierungen ein Problem
Die verwackelten Aufnahmen von Foto-Handys aus Nordafrika vermittelten uns in diesem Winter 2010/2011 das, was die Aufnahmen von Marschflugkörpern über dem Irak vor 20 Jahren boten: das Gefühl, ganz nah dran zu sein – an den Geschehen im arabischen „Westen“ (Maghreb) und im Nahen Osten. Dass es sowas noch gibt: „Revolution“! Nicht minder überraschend, in deutschen Medien ausführliche Berichte über die Mittelmeer-Anrainer zu finden. Zugegeben, normalerweise ist das politische Klima ja recht „unappetitlich“ da: Diktatur, Zentralismus, Korruption, konzertiert von Repression durch Entlassung oder Entführung/Folter … Da schaut man lieber weg, oder berichtet von Solar-Großprojekten in der Wüste.
Wie inzwischen allseits bekannt, entzündete sich die Flamme des Aufstands zunächst in Tunesien. Hier kam es in der Provinzstadt Sidi Bouzid zu Demonstrationen, nachdem sich am 17. Dez. ein junger Akademiker namens Mohammed Bouazizi selbst verbrannte, weil die Polizei seinen Gemüsehandel dichtmachte. Weder sein Schicksal noch das Vorgehen der Polizei ist ein Einzelfall. Doch das Problem liegt tiefer: „Es ist die Fusion von Partei, Staat und Verwaltung. Alles steht im Dienste des Staates,“ erklärte ein Journalist. Die Mindestforderung war der Abtritt von Präsident Ben Ali, der sich am 14. Jan. absetzte, nachdem das Militär den Schießbefehl verweigert hatte – dennoch waren nach fast vier Wochen mehr als 200 Tote zu beklagen. Seit Januar gilt ein Ausnahmezustand, der Weg der Übergangsregierung unter Ghannouchi ist weiterhin unklar. Zwar wurde der Besitz der Diktatoren-Clans, d.h. alle wesentlichen Teile der tunesischen Wirtschaft „eingefroren“ und in eine Treuhandgesellschaft überführt. Aber die Vertreter des alten Regimes sind nicht vollends weg vom Ruder. Greifbare Erfolge sind zunächst die Einführung einer Arbeitslosenunterstützung und erste Freilassungen politischer Häftlinge. Berichten zufolge demonstrierten Ende Februar wieder mehr als 100.000 Menschen in Tunis – gegen die neue Regierung mit alten Gesichtern.
Das gleiche Los zog Ägypten: Angespornt vom tunesischen Beispiel sammeln sich seit dem 25. Jan. Massen auf dem Tahrir-Platz in Kairo und fordern den Rücktritt des Präsidenten Mubarak. Versammelt hatte sich, so Susanne El Khafif, „das Volk, mit einer nach wie vor starken Präsenz der akademischen Mittelschicht“ und ihrer elektronischen Medien. Als unabdingbarer Nährboden für dieses Aufbegehren aber gelten die seit fünf Jahren zunehmenden Arbeiterkämpfe. Nachdem nun Streiks anschwollen und das Militär Polizei und Schläger gegen die Demonstranten nicht unterstützte, trat Mubarak am 11. Feb. ab. Zwei Tage darauf löste ein Militärrat unter dem Mubarak-Vertrauten Tantawi das Parlament auf und setzte die Verfassung außer Kraft. Ein seltsamer Sieg der Demokratie, der mindestens 300 Menschenleben kostete. Obwohl der seit 1981 geltende Ausnahmezustand noch in Kraft ist, scheint die Lage sehr viel offener. Das haben auch westliche Wirtschaftsexperten verstanden. Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert „Analysten“ wie folgt: Wichtig sei es, nun die Erwartungen der gestärkten Arbeiter in den Griff zu bekommen. Das Militär stehe unter Druck, „schnell einige glaubwürdige Vertreter der Opposition an die Regierung zu bringen, um die Nachricht zu überbringen, die viele Ägypter nicht hören wollen – dass man nicht in der Lage ist, höhere Löhne zu zahlen.“
In gewisser Weise erinnern die Vorgänge in Nordafrika an 1989: Demonstrationen, Rufe nach Freiheit, und sogar eine Treuhand. Und ebenso unterbeleuchtet wie die „Wende in den Betrieben“ blieb auch diesmal die Lage und Rolle der ArbeiterInnen. In den Städten und Industriezentren der Tourismus-, Textil-, Elektro- und Autoindustrie sowie im Öffentlichen Dienst herrschen Unsicherheit und Hungerlöhne; Arbeitslosigkeit auf dem Lande. Daher waren, so die FTD, „die steigenden Kosten für Grundnahrungsmittel“ ein Auslöser der Revolten. Der UN-Preisindex der FAO übertraf Anfang 2011 die Spitzen von 2008, dem Jahr der Hungerrevolten.
In Tunesien war der einzige Gewerkschaftsbund immer eine Stütze des Systems. Aber das ist nur eine oberflächliche Betrachtung auf Landesebene. Dem Berliner Ökonom El-Aouni zufolge war die UGTT bzw. deren linker Flügel die einzige Organisation, die den Aufstand „unterstützt und mitorganisiert“ hat: durch Kundgebungen, Demonstrationen und regionale Generalstreiks. Seither schwankt die Führungsriege, zwischen Ordnungs- und Freiheitsliebe.
Das Problem der Hungerlöhne und der FDGB-gleichen Einheitsgewerkschaft kennt man auch in Ägypten: Mehr als 40% der Bevölkerung, darunter Erwerbstätige, leben von nicht mehr als 2 Dollar am Tag. Ende Januar erklärte die Staatsgewerkschaft ETUF jedoch, man werde alles tun, um jegliche Arbeiterbewegung einzudämmen. Aber, so Kamal Abbas, „während Ägyptens offizielle Gewerkschaftsbewegung unter staatlicher Kontrolle ist, wird die ägyptische Arbeiterbewegung von den Arbeitern selbst organisiert und angetrieben.“ Auch die New York Times berichtete, die Streiks seien „eine Graswurzelmobilisierung“ gewesen, „die anscheinend einen eigenen Antrieb hatte, auch ohne die Hilfe von Facebook oder Twitter oder irgendeines landesweiten Arbeiternetzwerks“. Bisher habe es keine engen Beziehungen zwischen Arbeitern und Internet-Aktivisten gegeben. In den Arbeiterbewegungen der letzten Jahre haben sich einige Forderungen herausgeschält, die nun aufgegriffen werden: für eine Arbeitslosenversicherung, einen Mindestlohn von 150 Euro, ein Sozialsystem (Gesundheit, Bildung, Wohnung, Rente) und Organisationsfreiheit. Neu hinzu kam die nach der Absetzung korrumpierter Manager. Das Militär bemüht sich nun, die Streiks zu beenden. Dabei sind die Streitkräfte keine neutrale Größe, sondern ein Großkonzern, der mit mehreren Zehntausend Beschäftigten, in der Mehrheit Wehrpflichtige, u.a. Fabriken, Hotels und Bäckereien betreibt.
„Die Streiks jetzt werden weitergehen“, so der Aktivist El-Hamalawy, „das ist unsere einzige Hoffnung im Moment, die Mission ist noch nicht erfüllt.“ Nicht nur, dass der politische Wandel nicht vollzogen ist, vor allem die ökonomischen Ursachen sind unverändert. Massendemos gegen Preiserhöhungen werden auch aus Indien gemeldet, wo die Lebensmittelpreise allein 2010 um 18% stiegen. In den USA (siehe Struggle) und in China beziehen sich DemonstrantInnen auf die Vorgänge in Nordafrika. Gewiss auch in Afrika selbst verfolgen die Menschen die Entwicklungen. Der kenianische Publizist Firoze Manji erklärte: „Was die Leute wollen, ist die Demokratisierung der Gesellschaft, der Produktion, der Wirtschaft und aller Lebensbereiche. Was ihnen stattdessen geboten wird ist eine Wahlurne.“
Die Kraft der Erhebungen macht Hoffnung. Sie sind ein deutliches Zeichen für das Revival der Arbeiterbewegung. Aber die politische Neuordnung hat eben erst begonnen, der Kampf ist noch nicht vorbei: ein Wiedererstarken reaktionärer Kräfte und/oder eine Öl- und Wirtschaftskrise sind nicht ausgeschlossen. Auch die Ratingagenturen haben schon reagiert und z.B. Tunesiens „Kreditwürdigkeit“ herabgestuft. Das Konfliktpotenzial bleibt, denn es war ein Kampf gegen die Diktatur und gegen die Ausbeutung in einer globalisierten Welt. Unabsehbar sind die weiteren Entwicklungen in Bahrain, Jemen, Algerien, aber auch im Irak sowie in Libyen, wo der große Zampano Gaddafi noch einmal großzügig den Tod austeilt – doch mit dem Osten des Landes, und der Millionenstadt Benghazi als wichtigem Industriestandort, stehen die Regime-Gegner nicht mit leeren Händen da.
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