Hintergrund

Jenseits des Marktes

Die Wirtschaftstheorien Karls Polanyis als Inspiration für eine libertäre Ökonomie | Teil II

In dieser Ausgabe der Direkten Aktion findet ihr die Fortsetzung des Textes von Patrick Rossineri aus der letzten DA zur Wirtschaftstheorie von Karl Polanyi. Im ersten Teil führte Rossineri in das Thema ein und wies insbesondere auf die Verknüpfbarkeit der Theorien Polanyis mit denen Kropotkins hin. In dem nun folgenden Text werden die theoretischen Instrumente Polanyis genauer beschrieben und darüber eine libertäre Wirtschaftsordnung skizziert. Dabei greift er immer wieder auf eine anthropologische Perspektive zurück, in der unser aktuelles Wirtschaftssystem mit Formen der Ökonomie aus anderen Zeiten und anderen Regionen verglichen wird.

Florian Wegner (Redaktion Hintergrund)

Die Begriffe des Prinzips der Gegenseitigkeit (Reziprozität), der Umverteilung (Redistribution) und des über den Markt organisierten Austauschs (Marktaustausch) beziehen sich nicht auf individuelle Verhaltensweisen und Interaktionen. Sie beschreiben sozial und kulturell dominierende Mechanismen, die aufgrund ihrer Institutionalisierung innerhalb der Gesellschaft einen integrierenden Effekt haben. Sie werden durch den sozialen Kontext bestimmt, der individuelle Verhaltensweisen in einen von jeder dieser Integrationsmechanismen dominierten Kontext stellen. Das erklärt, warum in einem Wirtschaftssystem „das zwischenmenschliche Verhalten nicht die erwarteten Effekte erzielt, wenn eine dieser institutionalisierten Grundbedingungen nicht erfüllt ist“ (Polanyi).

Beispielsweise stammt das Konzept der Gaben, die um einen Weihnachtsbaum herum abgelegt werden, aus uralten Traditionen der Reziprozität. Dennoch haben sie ungeachtet ihrer weiten Verbreitung die kapitalistischen Gesellschaften nicht im Geringsten verändert. Wenn man in einer Marktgesellschaft wie derjenigen, in der wir leben, kooperative ökonomische Verhaltensweisen außerhalb der Marktbeziehungen umsetzt, können diese nur bis zu einer Grenze ausgelebt werden – übertreffen sie diese jedoch, müssen sie sich den Regeln des Marktes anpassen. So mussten sich auch die in Argentinien nach der Wirtschaftskrise im Jahr 2001 aufstrebende Fabrikbesetzerbewegung, die Kooperativen und Organisationen wie der Tauschring schnell den Regeln des Marktes anpassen. Der Tauschring war das deutlichste Beispiel: Er war zeitgleich mit der Krise und dem Bargeld-Mangel sowie dem Absinken der Kaufkraft der Bevölkerung angewachsen, jedoch musste man aufgrund der Menge der TeilnehmerInnen Handelsmechanismen zur Preisbildung einrichten. Dies unterlief jedoch den auf Gegenseitigkeit basierenden Austausch, welcher der Institution Sinn gegeben hatte. Nach dem Abflauen der Krise verschwand der Tauschring in der Bedeutungslosigkeit, mit dem zweifelhaften Erfolg, eben das, was er hatte ersetzen wollen, zu stärken.

Die drei Formen der wirtschaftlichen Integration

Reziprozität meint, dass die Waren- und Dienstleistungsbewegungen zwischen symmetrisch aufgestellten Gruppen stattfinden. In Dörfern von bis zu 200 Bewohnern, in denen sich alle untereinander kennen, sind die Tauschbeziehungen gegenseitig. Man gibt, weil man in der Zukunft zu bekommen erwartet, und umgekehrt. Auf diese Weise hatten sich Menschen seit Urzeiten gegen eine unvorhersehbare schlechte Ernte allein durch den einfachen Mechanismus der Großzügigkeit geschützt. Je größer das Risiko, je mehr wird geteilt. Der Anthropologe Marvin Harris sagt dazu: „Die Reziprozität ist die Bank der kleinen Gesellschaften“. Im Rahmen des Prinzips der Gegenseitigkeit dominiert die Selbstlosigkeit, und die Solidarität wird als gegeben angesehen. Der Austausch von Nahrungsmitteln wird ausgleichend zwischen den Familien der Gemeinschaft organisiert.

Man kann unter verschiedenen Typen von Gegenseitigkeit unterscheiden:

  1. Generalisierte Reziprozität. Hierbei handelt es sich um altruistische Transaktionen, wo die Gegenleistung auch langfristig erbracht werden oder entfallen kann. Die Normen der Gastfreundschaft, der Unterstützung Alter und Kranker, die gegenseitige Hilfe zwischen Verwandten haben nie die Erwartung einer direkten materiellen Gegenleistung: „Die soziale Seite der Beziehung übertrifft die materielle, und auf eine bestimmte Weise verdeckt sie diese, als zähle sie nicht“. Die Pflicht, sie zu erwidern, ist implizit vorhanden, aber zeitlich, quantitativ und qualitativ unbestimmt: Eine Mutter, die ihr Kind stillt, handelt nicht in Erwartung einer bestimmten Gegenleistung. Der Empfänger wird diese erbringen, sofern es ihm möglich ist oder wenn der Geber es für notwendig hält. Es kann ein dauerhaftes Fließen in eine Richtung sein. Die unterprivilegiertesten Mitglieder einer Gemeinschaft, die nicht für sich selbst sorgen können, sind die typischen Nutznießer dieser sozialen Verhaltensweise.
  2. Ausgeglichene Reziprozität. Diese Form umfasst Tauschbeziehungen, die direkt mit einer Gegenleistung verbunden sind und auf der von beiden Tauschpartnern angenommenen Gleichwertigkeit der Tauschgüter basieren. In der Stammesgesellschaft wird sie bei Hochzeiten durch Absprachen zwischen den Eltern des Brautpaares, in Friedensverträgen oder im Tausch von Gütern und Nahrung realisiert. Bei diesen Transaktionen existieren eine Gegenleistung und eine Frist, um diese zu erbringen; außerdem ist die sozial-affektive Verbindung nicht bedeutend. „Die Tauschpartner handeln aufgrund ökonomischer Interessen. Der materielle Aspekt der Transaktion ist ebenso wichtig wie der soziale und es sollte einen mehr oder weniger exakten Ausgleich geben, da diese Operationen sich lohnen sollen.“ Anders ausgedrückt, die Berechnung und das Maß bemächtigen sich der Transaktion, aber nicht ohne den Versuch, einen Vorteil zulasten der Gegenseite zu erhalten.
  3. Negative Reziprozität: Hierbei geht es darum, einen Vorteil, also einen Gewinn auf Kosten der Gegenseite zu erhalten: Die Partner haben eine distanzierte Beziehung, entgegengesetzte Interessen, und versuchen, ihren Profit auf Kosten der Ausgaben des anderen zu maximieren. Die Beziehung ist unsolidarisch, trägt aber zum sozialen Gefüge bei, weil das aggressive Verhalten einer Gruppe zu einer anderen eine ähnliche Reaktion hervorrufen wird.

Dem Anthropologen Marshall Sahlins zufolge entsprechen diese Transaktionsformen dem sozialen Abstand der Ausführenden: „Die generelle Reziprozität herrscht in den engsten Sphären vor und schwächt sich in den weiteren ab; die ausgeglichene Reziprozität ist charakteristisch für Beziehungen zwischen einzelnen Segmenten der Gemeinschaft, und die negative ist der in der peripheren Sphäre bestimmende Austausch, insbesondere zwischen Stämmen.“ Eine gegenseitige Struktur besteht notwendigerweise zwischen symmetrischen und egalitären Gruppen, währen die Umverteilung (Redistribution) eines Zentrums bedarf, das asymmetrisch zum Rest der Gesellschaft ist. Das führt uns zum nächsten Punkt.

Redistribution meint die wirtschaftlichen Bewegungen einer Gesellschaft zu einem Aneignungszentrum hin und wieder nach außen zurück. Die Existenz eines Lager- und Verteilungszentrums ist hierfür eine grundlegende Bedingung. Die Zuweisung von Gütern und die Erbringung von Dienstleistungen sind in einer Hand gebündelt, die in vormodernen Gesellschaften üblicherweise an ein politisches Amt geknüpft war. Diese erhält, lagert und verteilt dann unter den Mitgliedern der Gemeinschaft. Die Redistribution ist in sehr unterschiedlichen Gesellschaften zu finden, von Stämmen von Jägern und Sammlern bis hin zu frühen staatlichen Gesellschaften im alten Ägypten, in Babylonien, in Sumer und dem peruanischen Inka-Reich.

Die Fähigkeit der Redistribution zur Versorgung größerer Bevölkerungszusammenhänge ist erheblich. Sie bewirkt eine Verminderung der ausgeglichenen Reziprozität. Es werden Machtpositionen im Distributionszentrum geschaffen und der Austausch wird zentralisiert. In seiner Erklärung der Entstehung des Staates, vermutet Harris, dass die Redistribution „anfangs klar zur Konsolidierung der politischen Gleichheit, die mit dem gegenseitigen Austausch verknüpft ist, diente“. Der umverteilende Austausch jedoch regte die Überproduktion an, weil die prestigeträchtigen Anführer im Zentrum ihre Autorität durch die Vergrößerung der ihnen unterstehenden öffentlichen Lager konsolidierten. So begann sich die politische Macht dem wirtschaftlichen Reichtum anzugliedern.

Marktaustausch meint die wirtschaftliche Bewegung zwischen Personen oder Gruppen in beide Richtungen innerhalb eines Marktsystems, das Preise erzeugt: Die Preise schwanken mit den Veränderungen von Angebot und Nachfrage im Wettbewerb. Unter den TeilnehmerInnen des Marktes besteht eine gegensätzliche Beziehung, weil ihre Motivation der Erhalt von Profit ist. Inzwischen produziert man nicht mehr für den Konsum, sondern für den Marktaustausch, und zwar mit dem Ziel, Gewinne zu erwirtschaften, was wiederum die Überproduktion fördert. Sahlins: „Der Urteilsspruch des Marktes verdammt den Konsumenten zum Mangel, und folglich zu einer lebenslangen Strafe harter Arbeit. Auch findet er keinen Trost im Erwerb von Dingen. Die Beteiligung an einer Marktgesellschaft ist eine unvermeidbare Tragödie: Das was mit einem Mangel begann, wird mit einem Entzug enden. Denn jeder Erwerb ist gleichzeitig ein Entzug – nämlich derjenigen Sache, die man anstelle der ersteren erworben haben könnte. Einen Gegenstand kaufen, bedeutet, sich einen anderen vorzuenthalten.“ So entsteht die Marktgesellschaft, in der die Organisation des Marktes alles umfasst und die Gesellschaft nach ihren Prinzipien organisiert. So begeben sich beispielsweise die ArbeiterInnen, die ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkaufen müssen, auf besser vergütete Märkte, um bessere Löhne zu erhalten. Die Bevölkerung verteilt sich und siedelt sich den Bewegungen des Arbeitsmarktes gemäß um. Die Gesellschaft beginnt, für den Markt zu existieren.

Die Totalität des Marktprinzips

Der Markt dringt in alles ein und ordnet alles seiner eigenen Logik unter. Fernab vom Zustandekommen eines Wettbewerbs, der den Fortschritt, also den allgemeinen Wohlstand auf der Basis von Gleichheit und Freiheit, vorantreibt, erzeugt er soziale Ungleichgewichte, Armut und die Unterordnung der Produktivkräfte unter die Logik der Effizienz. Die staatliche Intervention versucht dies zu korrigieren, verlässt selbst aber nie die Marktlogik.

Die Wohlfahrtsstaaten legen den Schwerpunkt auf die Redistribution innerhalb eines Modells des Marktaustauschs. Man verteilt das um, was zwangsweise einbehalten wird, und erhöht theoretisch die staatliche Investition in die einkommensschwächsten und ärmsten Teile der Gesellschaft. Diese Umverteilung kann die Form von Sozialprogrammen annehmen, wie Arbeitslosenversicherungen, Nahrungspakete oder auch eines Kindergeldes. Der Staat stellt sich in der Gesellschaft gegenüber der Gier des privaten Sektors als „das Öffentliche“ auf. Doch eigentlich sieht er sich als Verteidiger dessen, was er vorher zerstört hat: der sozialen Gemeinde. Der Staat als Repräsentant der öffentlichen Ordnung wird zum Unternehmer, indem er öffentliche Bauvorhaben vorantreibt, die Gewerkschaften und sozialen Hilfswerke aufnimmt und den Korporativismus fördert.

Die liberale Utopie hatte sich am Modell des überlaufenden Bechers orientiert, also der Annahme, dass (durch enorme Gewinne der Kapitalisten) die Überschüsse des Festmahls den ArbeiterInnen und dem Rest der Gesellschaft zugute kämen. Das Versagen dieser Idee führte zum Modell der sozialen Marktwirtschaft, der zufolge öffentliche Ausgaben die Verwerfungen des Marktes korrigieren. Diese Situation ist aber nicht auf lange Sicht nachhaltig, weil das Pendel immer wieder in Richtung des Liberalismus ausschlägt. Die Chimäre des freien Marktes auf dem Feld der Wirtschaft und die Demokratie als Regierungsform brechen angesichts einer dauerhaften Tatsache zusammen: Die Monopole setzen sich immer durch, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft. Das Monopol hat sowohl in dem neoliberalen als auch im sozialstaatlichen Modell Gültigkeit. Auf der wirtschaftlichen Seite herrschen die multinationalen Konzerne, die großen industriellen Komplexe, „nationale“ Unternehmensgruppen, mächtige Finanzkonzerne und Banken; auf der sozialen und politischen Ebene regieren die nationalen Volksparteien, die gelbe Gewerkschaft und ihre Sozialwerke, die Arbeitsministerien, die Medienunternehmen und Sicherheitskräfte.

Innerhalb der Rationalität des Marktes ist der Preis das Maß des Austauschs, der Rohstoffe und produzierten Güter, einschließlich der menschlichen Arbeit. So wird unter diesem Gesichtspunkt eine Entscheidung wie die, chilenische Bergarbeiter aus einer in 700 Metern Tiefe eingestürzten Mine zu retten, als unwirtschaftlich bewertet. Es wäre billiger gewesen, die Arbeiter sterben zu lassen und eine Entschädigung an ihre Angehörigen zu zahlen, als Millionen von Dollar für die Rettung auszugeben. Allerdings wäre der politische Preis dafür sehr hoch gewesen, weshalb die politische Rendite der chilenischen Regierung sich trotz der materiellen Ausgaben mit der Rettung maximierte.

Betrachten wir ein wenig die „Rationalität“ dieser Logik: Nehmen wir an, dass 100.000 Tonnen Weizen auf dem Getreidemarkt 100 Millionen Dollar kosten. Und zu diesem Preis von 100 Millionen kann man gemäß dem Marktpreis äquivalente Güter kaufen: Die Mona Lisa von Da Vinci, ein Kriegsflugzeug neuester Bauart, die Reinigung eines verseuchten Flusses oder die Entschädigung für die Arbeitsunfähigkeit von 1.000 krebskranken Anwohnern eines Atomkraftwerkes. Der „Rationalität der wirtschaftlichen Akteure“ zufolge sind sie im Preis äquivalent, also austauschbar. Es ist also dasselbe, wenn die Mona Lisa zerstört wird oder ein Kriegsflugzeug, oder ob eine unbekannte Anzahl von Menschen stirbt; es ist das gleiche, Getreide wie Flugzeuge zu kaufen, wenn sie im Preis äquivalent sind. Und jedes dieser Güter und Dienstleistungen soll ein paar Tausend zerknautschten Papierstückchen entsprechen, die von Banken geschaffen und von Staaten ausgegeben wurden, die wir „Geld“ nennen. Wie es schon Marx sagte, im Kapitalismus ist alles eine Ware. Und weil alle Waren in der Marktgesellschaft einen Preis haben, hat alles einen Preis, sogar unser Leben.

Für eine Ökonomie des Konkreten

Von den Formen wirtschaftlicher Integration, die wir oben beschrieben haben, ist mit dem Anarchismus nur eine Ökonomie der Reziprozität, kombiniert mit einer Form von Redistribution, vereinbar. Eine libertäre Wirtschaft, die gemäß den Bedürfnissen ihrer Mitglieder organisiert ist, sollte über Umverteilungsstrukturen verfügen, die eine Zirkulation bestimmter Güter und Dienstleistungen zu einem Zentrum erfordern, um sie später nach außen zu verteilen. Diese Zirkulation von Gütern wird mit starken Netzwerken der Gegenseitigkeit zwischen den Produzenten koexistieren und von diesen durchdrungen sein.

Dieses Konzept wurde in den Kollektiven während der Spanischen Revolution in die Tat umgesetzt, wenn auch in einem Kontext, in dem der Staat noch nicht abgeschafft worden war. Es gab sehr unterschiedliche Erfahrungen, manche waren dem Kooperatismus näher, in anderen wurden Transaktionen innerhalb einer Kommune (ähnlich dem Mutualismus Proudhons) über eine interne Währung abgewickelt; in anderen Kollektiven wurde das Geld abgeschafft und man näherte sich einem kommunistischen System an; es gab auch die Zuteilung von Konsumgütern in einem kollektivistischen System. Außerdem wurden – gemeinsam mit den individuellen ProduzentInnen, die sich der Beteiligung an den Kollektiven verwehrten, und auch im Warenverkehr zwischen Kollektiven – frei vereinbarte Austauschformen gebraucht, und zwar auf der Grundlage von Tausch oder über Geld. Leider wurden all diese Netzwerke von den Stalinisten zerschlagen, die sich der Verteidigung des Privateigentums und des industriellen Bürgertums verschrieben hatten.
Innerhalb eines Systems von Netzwerken und übergeordneten Föderationen, in dem Waren frei auf der Grundlage von Abmachungen zwischen Kollektiven und Individuen zirkulieren, besteht die einzige der Organisation innewohnende Gefahr im Gewicht der Redistributionszentren. Die Redistribution kann in Autoritarismus kippen, weil die wirtschaftliche Konzentration auch in Systemen, in denen das Privateigentum und der Markt abgeschafft wurden, Klientelismus und politische Herrschaft entstehen lassen kann. Diese Gefahr war von den Mitgliedern der Federación Obrera Regional Argentina (FORA) erkannt worden, die einigen Aspekten der Rolle der Gewerkschaften nach der Revolution in den Konzepten der Syndikalistem widersprachen. Erkenntnisse, die sich in der Spanischen Revolution leider bestätigten. In den modernen Gesellschaften ist das eindrücklichste Beispiel eines durch die Redistribution dominierten Systems das marxistisch-leninistische. Der Staat ist die umverteilende Institution par excellence. In der zentralistischen Planwirtschaft sind alle Einwohner Angestellte des Staates, weshalb dieses System als „Staatskapitalismus“ bezeichnet wurde, auch wenn kein „Markt“ existiert, der Preise bilden könnte. Preise werden vom Staat nach dessen eigenen Kriterien festgelegt. Die Menschen geben dem Staat ihre Arbeitskraft und dieser erbringt Dienstleistungen und verteilt die produzierten Güter. Der sozialistische Staat wird so zu einer mächtigen Struktur, der sich niemand entziehen kann, ohne in die Marginalität abzurutschen. Dieselbe Logik, die im politischen System angewandt wird, gilt auch im wirtschaftlichen System. Das bestätigt die Annahme Polanyis, dass Wirtschaft und Gesellschaft (Kultur, Politik, Religion usw.) miteinander verknüpft sind, und dass es nicht möglich ist, sie voneinander getrennt zu analysieren.

In einer libertären Wirtschaft sollte darauf geachtet werden, dass das Reziprozitätssystem nicht der Sphäre des Marktaustauschs untergeordnet wird, weil dies zu einer Rückkehr des Kapitalismus führen würde. Dies ist die große Schwäche der mutualistischen Idee, die sogar ein Preis- und Marktsystem für den Austausch beibehält. Außerdem ist jede Form der Bewertung über Preissysteme zu verwerfen. Eine libertäre Ökonomie sollte sich auf die Befriedigung von Bedürfnissen und nicht auf die Erzeugung von Gewinnen konzentrieren. Beispiele des Austausches auf der Grundlage der Notwendigkeiten, symmetrisch und ohne das Ziel eines Gewinns, sind nicht nur in der anthropologischen Literatur, sondern auch in der modernen kapitalistischen Gesellschaft zahlreich zu finden.

Ebenso wie der Ethnologe Marcel Mauss bei vormodernen Tauschbeziehungen bemerkte, haben in einer auf der Gabe (statt der Ware) basierenden Wirtschaft die Güter keinen Preis, weil das, was nicht zum Verkauf steht, keinen Preis hat. Der Tausch hat einen umverteilenden Effekt, wenn die ausgetauschten Güter symmetrisch sind. Sind die Tauschgüter asymmetrisch, entsteht eine Schuld oder Pflicht und der Geber bekommt Macht über den Empfänger, wodurch die Bedingungen für die Entstehung einer Hierarchie oder Klientelbeziehung erfüllt werden. In den auf Reziprozität und symmetrischer Redistribution basierenden Wirtschaften maximieren die Tauschbeziehungen die Freude zu geben und zu empfangen, wobei die Solidarität der Gruppe gestärkt, Konflikte abgeschwächt, die Kooperation verstärkt und die individuelle Entwicklung der Personen gefördert wird. In einer Gesellschaft mit einer derartigen Wirtschaft wird das egoistische Verhalten sozial sanktioniert: Diejenigen, die versuchen, das altruistische und solidarische Verhalten auszunutzen, werden im Gegenzug irgendeine Art negativer Gegenseitigkeit erleiden.

Den Markt und den Staat, die zwei grundlegenden Säulen der modernen kapitalistischen Wirtschaft, und die Marktgesellschaft hinter sich zu lassen, ist weder ein Hirngespinst, noch das Produkt phantasievoller anarchistischer Theoretiker, sondern eine konkrete und gangbare Möglichkeit, die eine bemerkenswerte wissenschaftliche Grundlage hat. Wir dürfen die Wichtigkeit, unsere theoretischen Grundlagen und Ideen zu überdenken, nicht unterschätzen, wenn wir eine freie und egalitäre Gesellschaft erreichen wollen. Es ist ziemlich klar, dass sich die Formen der Ausbeutung und Unterdrückung nicht nur durch die Macht der Waffen und die Verführung der Massenmedien erhalten, sondern auch durch die akademische Unterstützung und das, was „Allgemeinwissen“ genannt wird.

Patrick Rossineri
Übersetzung: Sebastian Frei & Florian Wegner
Das spanische Original dieses Textes erschien
in den Ausgaben 56 (Dez. 2010) und 57 (Jan. 2011)
der Zeitschrift Libertad! aus Buenos Aires (Argentinien).

Literatur:

  • Alexander Berkman, ABC des Anarchismus, Trotzdem, Grafenau 2002 (1978).
  • Maurice Godelier, Ökonomische Anthropologie, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1973.
  • Marvin Harris, Menschen: wie wir wurden was wir sind, DTV, München 1996 (1991).
  • Marcel Mauss, Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2004 (1968).
  • Karl Polanyi, The great transformation: politische und ökonomische
    Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Suhrkamp,
    Frankfurt/M. 1995 (1977).
  • Karl Polanyi, The livelihood of man, Academic Press, New York 1977.

 

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Die Redaktion der Direkten Aktion.

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