Oh heilige Gleichzeitigkeit! Einerseits werden die Aufstände im südlichen Norden des Erdenrunds in den Himmel gelobt, werden Rebellen ausnahmsweise mal nicht als Terroristen aus der Gemeinschaft der Vernunft exkommuniziert, sondern als Kämpfer für Recht und Freiheit selig gesprochen. Andererseits, wenn jedoch hierzulande jemand nur ein wenig aufsteht, wie etwa die Lokführer … dann bricht das halbe Abendland zusammen! Von „Geiselhaft“ ist die Rede. Dabei ist noch nicht mal ganz klar, ob die Sorgenfalten der Pressesprecher und Redakteure nun den Pendlern und Reisenden oder doch unseren allseits geliebten Neuwagen samt Volkswirtschaft gelten, die plötzlich an die Just-in-Time-Kette gelegt wird. Manche empfinden den Arbeitskampf gar als „Provokation der Lokführer“. Jedenfalls ist der soziale Frieden in urbi et orbi bedroht – und dabei sind die Aufständischen der GdL noch nicht einmal bewaffnet.
Angesichts der im weltweiten Vergleich geringen Streikaktivität in der Bundesrepublik, die sogar die Beschäftigten im kapitalistischen Musterländle USA überbieten, angesichts der Überreglementierung, ja Verstümmelung bis zur Unkenntlichkeit des hiesigen Rechts auf Streik, kann man dem wirtschaftsfreundlichen Flügel der Presse – wenn man bei diesen Ausmaßen noch von „Flügel“, von einem Teil, sprechen kann – nur eines attestieren: er betreibt das sonst so viel gescholtene „Jammern auf hohem Niveau“.
Man sollte sich aber nicht täuschen lassen von dem Wehgeschrei und seinem Echo. Vor Jahren einmal gab ein Medienwissenschaftler in einer der nicht immer bildungspolitisch wertvollen Veröffentlichungen der Bundeszentrale für politische Bildung zu bedenken: Man solle die Macht der Medien nicht überschätzen, oder gar das gedruckte Wort für bare Münze nehmen. Schließlich seien die LeserInnen keine leeren Gefäße, die man nach Belieben füllen könne. Und so verhält es sich denn auch in diesem Falle: Es geschah eines Nachts, auf dem Höhepunkt der „öffentlichen Diskussion“ über Berechtigung und Illegitimität der Tarifauseinandersetzung, Mitte März. Da fragte „2254“, die Hörer-Anruf-Sendung des Deutschland-Radios, in eher rhetorischer Manier nach dem „Verständnis für die Lokführer“. Die Moderatorin hatte es nicht leicht, Spannung aufzubauen, denn es herrschte quasi Konsens: Fast alle AnruferInnen – LKW-Fahrer, Krankenschwestern, … – beantworteten die Frage mit „Ja, aber sicher!“
Sicher ist es keine Rückwärtsgewandtheit, wenn die Beschäftigten den Kampf nicht um den Erhalt, sondern um die Durchsetzung eines Flächentarifs sexy finden. Es gibt wohl auch kaum eine ebenso einfache und eingängliche Losung, wie „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Darin den Keim vom Kampf der Klassen zu sehen, mag sein, als wünschte man sich, dass die Lokführer mit Unterstützung ihrer KollegInnen in den DB-Werkstätten einen Panzerzug zusammenbauen. Ziemlich antiquiert, und nutzlos dazu. Nicht weniger abstrus erscheint die pressemäßig ewig wiederholte Infragestellung der GdL-Taktik, die Deutsche Bahn „in Mitleidenschaft zu ziehen“. In einer Gewerkschaft ist der Solidarstreik doch das Selbstverständlichste der Welt. Um das zu begreifen, hindert ein Hochschulstudium wohl mehr als dass es nützt. Heißt das nun, dass die Universitäten über- oder unterfinanziert sind?