Was es mit dem Mythos vom Fußball als Arbeitersport wirklich auf sich hat
Wenn linksgerichtete Fußballfans unterschiedlicher Vereine aufeinander treffen, kommt es immer wieder zum schwerwiegendsten aller Vorwürfe: „euer Verein ist doch gar kein Arbeiterclub!“, nebst umständlicher Begründungen und Kriterien, wie und woran sich erkennen ließe, was ein Verein proletarischer, und was eben ein Verein bürgerlicher Herkunft sei.
Nun, bezogen auf sämtliche Clubs der ersten vier Ligen im deutschen Fußball, ist die Antwort einfach: es sind alle, ohne Ausnahme, Vereine aus dem Bürgertum. Ob Dortmund, Schalke, St. Pauli oder Union Berlin – ein echter Arbeiterverein ist nicht darunter. Die wirklichen Arbeitervereine hießen SC Lorbeer 06 Hamburg, ASV Fichte Berlin oder Leipzig Pergau. Aber der Reihe nach.
Fußball ein Arbeitersport? Nicht unbedingt. Die ersten Vereine – auch im englischen Ursprungsland – waren bürgerliche Clubs. Diese schlossen sich in eigenen bürgerlichen Verbänden zusammen, spielten in bürgerlichen Ligen und ermittelten ihren eigenen, bürgerlichen Meister.
Wenn heute in Chroniken für den Zeitraum bis 1933 Vereine als „Deutscher Meister“ aufgelistet werden, ist das zumindest irreführend. Denn dies war nur einer von zwei Meistertiteln, die parallel ausgetragen wurden. Daneben gab es die deutsche Arbeitermeisterschaft. Und dabei handelte es sich keineswegs um einen Titel zweiten Ranges. Zumindest bis Mitte der 1920er waren Spiele der Arbeiterligen ähnlich gut besucht wie die der bürgerlichen. Endspielen der Arbeitermeisterschaft wohnten 15.000 bis 20.000 Anhänger bei. Vor allem aber definierte sich Sport damals weniger über Fans und Zuschauer, sondern mehr über aktive Sportausübung. Der Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB), in dem sich 8.000 Fußballclubs organisierten, zählte noch 1931 1,2 Mio. Mitglieder.
Arbeitersport, das hieß zuallererst, eine gänzlich andere Einstellung zum Sport mitzubringen. Gemeinschaftssinn und gegenseitige Hilfe sollten im Vordergrund stehen. Es ging nicht ums Kräftemessen, ums Konkurrieren, das waren bürgerliche Werte. Völlig verpönt waren Idole. Selbst die besten Spieler wurden nur als Genossen und Kollegen betrachtet. Und das schmeckte nicht jedem.
Weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war der SC Lorbeer 06 aus dem Hamburger Stadtteil Rothenburgsort (damals ein Arbeiterviertel, heute hauptsächlich ein Industriegebiet). Zweimal, 1929 und 1931, deutscher Arbeitermeister, besaß der Verein in seiner Mannschaft so etwas wie einen Star: Erwin Seeler, Vater des späteren HSV-Spielers „Uns“ Uwe Seeler. Ein Ausnahmestürmer, der Tore am Fließband knipste. Bei der zweiten Arbeiterolympiade 1931 in Wien (vergl. Beitrag „Sport, der die Arbeiter befreit“) brachte er es zum Torschützenkönig. Doch während er nach einem furiosen Kantersieg über Ungarn noch auf Schultern aus dem Stadion getragen wurde, erntete er in Deutschland dafür harsche Kritik: Personenkult war verpönt im Arbeitersport. Dem Hafenarbeiter Seeler war das zu wenig. Er wechselte ins bürgerliche Lager, das längst auf den Mittelstürmer aufmerksam geworden war. Zuerst zu Viktoria Hamburg, dann zu den „Pfeffersäcken“ vom HSV. Ein Aufschrei ging durch die Presse der Arbeiterbewegung.
Vom „Hochmutsfimmel“ sei er befallen, ein „verirrter Proletarier“, so das Hamburger Echo. Er selbst rechtfertigte seinen Übertritt mit mangelnder Anerkennung seines Könnens im Arbeitersport. Die ein oder andere Mark oder indirekte finanzielle Vergünstigung dürfte jedoch wohl auch eine Rolle gespielt haben. Denn wenngleich es damals noch keine Profiliga in Deutschland gab, verstanden wohlsituierte bürgerliche Vereine es dennoch schon früh, Talente an sich zu binden und fähige Spieler zu locken. Da musste nicht immer gleich Bares fließen, eine gut entlohnte Anstellung konnte ähnlich wirken – oder eben auch Handfestes.
So lockte Vereinsboss Karl Miller Ende der 1940er Deutschlands beste Fußballer ans Millerntor zum FC St. Pauli – nicht mit Geld oder Jobs, sondern mit Leckerem. Denn Miller war Metzger und saß an der Quelle für Koteletts, Schnitzel und Eisbein, was in der Nachkriegszeit mehr überzeugte als alles Geld der Welt. Und geboren war die „Wunderelf“, die 1948 gegen den späteren deutschen Meister 1. FC Nürnberg mit 1:3 nach Verlängerung im Halbfinale ausschied.
Dem Vorbild „Old Erwins“ folgte schließlich die gesamte sportinteressierte Arbeiterschaft. Gegen Ende der 1920er gipfelte die fortschreitende Instrumentalisierung des Arbeitsports durch die beiden sozialdemokratischen Parteien in Deutschland in der Spaltung des Verbandes. Fortan gab es einen KPD- und einen SPD-Meister. Das Interesse an Spielen der beiden getrennten Ligen ließ spürbar nach. Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland endete schließlich das Kapitel des Arbeiterfußballs in Deutschland – endgültig. In der Nachkriegszeit sorgten die Westalliierten, deren Besatzungspolitik strikt anti-kommunistisch ausgerichtet war, dafür, dass traditionsreiche Arbeitervereine langsamer wieder auf die Beine kamen, als bürgerliche. Die Wiedergründung des bürgerlichen DFB wurde gefördert, die des ATSB behindert. So ist es kein Zufall, dass die meisten wirklichen Arbeitervereine heute nicht mehr existieren oder aber in der Bedeutungslosigkeit versunken sind. Der wohl einzige heute noch bestehende Verein, der dem ATSB angehörte und wenigstens im Ansatz noch über Klassenbewusstsein verfügt, ist der RKB Solidarität. Und das ist ein Fahrradclub.
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