Thesen zum ägyptischen Aufstand und zum libyschen Bürgerkrieg
Gerhard Hanloser hat auf Bitte der Direkten Aktion Thesen zu den Ereignissen in Ägypten und Libyen formuliert. Für eine endgültige Analyse des Geschehens ist es ganz offensichtlich noch zu früh, daher sind diese Thesen als vorläufig zu verstehen. Trotz dieser Vorläufigkeit sollen sie allerdings auch Werkzeug sein, die unterschiedlichen Konfliktverläufe zu verstehen und besser diskutieren zu können. Nicht nur die Riots in England und die staatliche Reaktion darauf zeigen, dass auch hierzulande verschiedene Optionen möglich sind – die wir allerdings durchaus beeinflussen können. Als Anregung dafür ist auch der Beitrag Mag Wompels unter Wut ist nicht alles – Empörung auch nicht… zu verstehen.
Anm. 13. Okt 2011: Eine Antwort auf Gerhard Hanlosers Beitrag erscheint hier in den kommenden Tagen. Auch ihr, liebe Leserinnen und Leser, seid eingeladen, euch via der Kommentarfunktion unten an der Debatte zu beteiligen. – die Redaktion „Hintergrund“
1. The revolution will not be facebooked. Die Revolution spielt sich nicht in virtuellen Welten ab. Sie benötigt einen städtischen, zentralen und symbolisch aufgeladenen Platz, der gefüllt, belebt und verteidigt wird. Ohne massive Präsenz und Kämpfe von Massen, die sich aufeinander verlassen können und die im Kampf, in der Organisation, im Leiden zusammengeschweißt werden, kann eine alte Ordnung nicht gestürzt werden. Der Tahrir-Platz ist der Mons Sacer der ägyptischen Plebs.
2. Mehr als eine Citoyen-Revolte. Es geht um mehr als um Freiheit und Demokratie. Hintergrund der Revolte waren wesentlich auch die Teuerungen der Lebensmittel, die weltweite Inflation, die Krise, die Chancenlosigkeit der prekären Jugend. Entgegen den Medienbildern spielten die ArbeiterInnen eine wichtige Rolle im Verlauf der Revolte. Die Militärs in Ägypten drängten in dem Moment auf einen Rückzug Mubaraks, als die ArbeiterInnen auftauchten und streikten.
3. Das Ausbleiben der Grenzträger. Es gab keinen Menenius Agrippa, der die Massen aufs organizistische Staatsverständnis einschwören konnte. Auch nicht auf andere Ideologien. El Baradei spielte für die Revolte keine Rolle. Auch die Muslimbrüder verstanden sich zwar aufs Organisieren, Helfen, Heilen, doch ein Gottesstaat oder auch nur eine Festigung religiös begründeter autoritärer Lebensverhältnisse ist nicht das Ergebnis der Revolte. Doch das Versagen der Grenzträger der Macht hat keine neue historische Figur machtvoll werden lassen. Es gibt keinen ägyptischen Lenin. Dies bedeutet dennoch wenig Grund zur Freude für undogmatische Linke. Denn anstelle von Massenräten organisiert der Militärrat den „Übergang“. Er ist kein Grenzträger, er ist die Macht selbst. Panzer, nicht umsonst sowjetische T-62, haben in der ersten Phase die Massen paternalistisch vor den Gangs des Despoten beschützt, um sie dann von dem besetzten Platz zu drängen. Mittlerweile herrschen die Panzer: die Militärdiktatur foltert, unterdrückt, massakriert.
4. Ambivalenzen der Offenheit. Das Ende der Mubarak-Diktatur ist besiegelt, nun beginnt der Umbau. Welche Form von Entwicklung in Ägypten Platz greift, ist offener als es sich religiös-fundamentalistische Kräfte des Totalitarismus wünschen, es ist aber auch offener als es die demokratieseligen Verteidiger der Reform wünschen. Für uns – die undogmatische Klassenlinke – ist sie jedoch zu wenig „offen“: Die klassenbewussten Kräfte sind gegenwärtig noch zu schwach, um eine andere Welt jenseits des vorherrschenden Kapitalismus auf den Plan zu rufen. Die Prozesse der Infitah, der Öffnung ins Kapitalistische, könnten auf ganz anderem Niveau durchgesetzt werden. Auch ist noch unklar, ob das religiöse Sektierertum einen festen Platz im Arsenal der Konterrevolution einnehmen wird und dabei auch im Stande sein könnte, von unten aufgegriffen zu werden und die Revolte von innen heraus zu zerstören.
5. Glanz und Elend der Medien. Computer und Internet haben die Massen vernetzt, ihnen aber keine klare politische Stimme gegeben. Die neue Prawda heißt Al Jazira, Wahrheit verkündet man auch da nicht. Viele westliche Medien haben die Bilder der Revolte übertragen, doch sogleich zum Spektakel erhoben und durch falsche historische Parallelen (1989) ein verzerrtes Bild vermittelt.
6. Und ewig der Nahost-Konflikt. An einem Überspringen des Revolte-Funkens hatten aus nachvollziehbaren Gründen auch die Herrschenden im Westjordanland und im Gaza-Streifen kein Interesse. Eigenständige Bezüge auf die Revolte wurden zuerst im eigenen Herrschaftsbereich unterbunden, später kooptiert (durch Hamas) und zu der Frontstellung „arabische Massen kontra Israel“ verschoben. Damit wurde nicht nur die alte Feindbildkonstruktion gegen eine verallgemeinerte Revolte gegen unhaltbare Lebensumstände gestellt, sondern man konnte auch an den Schwächen der ägyptischen Revolte ansetzen, wenn Mubarak nur und vorrangig als Kollaborateur mit Israel und den USA angegriffen wurde. Quantität kann hier in (schlechte) Qualität umschlagen und Kritik imperialistischer Politik zur antiimperialistischen Ideologie gerinnen.
Vice versa war die Bekundung einer angeblichen Gefahr Israels die außenpolitisch argumentierende und instrumentell eingesetzte Bekundung, die alte Ordnung nicht zu schnell stürzen zu dürfen. Das Schreckensbild des fanatisierten, antisemitischen arabischen Mobs diktiert und grundiert diese Ideologie.
Die Proteste in Israel gegen die hohen Lebenshaltungskosten und besonders die Mietentwicklung weisen in eine andere Richtung. Israel findet Anschluss ans Aufbegehren. „Von den Fellachen lernen“ war eine schnell gestorbene früh-zionistische Bekundung, als viele jüdische Einwanderer noch sozialistisch gestimmt waren und als ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen ihre Nation aufbauen wollten. Jetzt lernen arabische und jüdische Israelis genauso wie die spanische Jugend von den arabischen Aufbrüchen. Arbeiter – Bauer – Nation sind keine Option mehr, nirgends. Es geht global um die sozialen Fragen als Fragen der Wiederaneignung des guten Lebens.
1. Des Wahnsinns fette Beute. In Libyen spitzte sich die revolutionäre Situation schnell zu einer Machtprobe und einem blutigen Verteilungskampf zu. Sowohl Gaddafi als auch seine Opposition sind sich in den Mitteln des Verteilungskampfes einig: Die Macht kommt aus den Gewehrläufen.
2. Ein Schweinehund mehr. Gaddafi ging eigentlich den entgegengesetzten Weg zu anderen Schweinehunden des Imperialismus. Die Taliban oder Saddam Hussein wurden erst vom Westen hofiert und unterstützt und dann bekriegt, anders der Verlauf bei Gaddafi: Er begann als antiimperialistischer Kämpfer, beerbte offiziell den Antifaschismus und Antikolonialismus, sorgte aber für eine rassistische Spaltung der libyschen Gesellschaft. Er war jahrelang einer der angefeindetsten Staatsmänner der südlichen Hemisphäre, den man als Terrorist jagte. Aus Kalkül, Opportunismus und Machterhalt schwenke er zur Zeit des nur noch Freund-oder-Feind kennenden „Krieges gegen den Terror“ auf die Seite der imperialistischen Mächte ein. Er verdiente gut dank Öl- und Sicherheitsinteressen sowie den Migrationskontrollbedürfnissen des Westens.
3. Der gute Krieg als Spektakel. Das Spektakel schafft sich den Clown. Gaddafi ist der prototypische arabische Despot und Herrscher, wie ihn sich der Westen erhofft und wie er seinen orientalistischen (Alp-)träumen entsprungen sein könnte. Er ist der Pappkamerad, den Sarkozy braucht, um schattenboxend sein ramponiertes Bild in der arabischen Welt aufzupolieren. Das Spektakel hat kein Gedächtnis, es ist pragmatisch: der Geschäftspartner von gestern kann der Erzfeind von morgen sein. Alle spielen in dieser Show die ihnen gebührenden Rollen: die sympathisch-dilettantischen Rebellenhaufen, der blutrünstige Despot mit Familienanhang, die Generale mit humanitären Ansinnen. Doch das ist alles Schein. Die Filmspulen, die unpassende Wirklichkeit wiedergeben, werden schnell gelöscht: die rassistischen Übergriffe auf Schwarze durch die religiöse Parolen skandierenden Rebellen, die wie ernst auch immer gemeinten Waffenstillstands- und Verhandlungsangebote Gaddafis, die mordende Nato, die das Völkerrecht mal wieder in den Schmutz tritt und eindeutige Kriegspartei in einem Bürgerkrieg ist.
4. Antifaschismus als Abziehbild. Nichts Geringeres als der Spanische Bürgerkrieg musste von Seiten der Bellizisten bemüht werden, um zur großen Schlacht zu trommeln. Appeasement, Sonderweg, München – das sind nur noch Begriffe auf dem Weg zum nächsten und ersehnten Krieg. Die fetischisierte Vergangenheit hat im Spektakel ihren festen Platz, die Lehren, die gezogen werden, orientieren sich immer an den Beuteversprechungen der je aktuellen Sieger, niemals an den Erfahrungen und am Leiden der historisch Geschlagenen. Saddam Hussein musste mindestens der neue Hitler sein, in Jugoslawien musste man mindestens die Rampe von Auschwitz wiederentdecken und der Bürgerkrieg in Libyen muss mindestens der klar antifaschistisch-faschistischen Frontlinie von 1936 entsprechen. Warum? Krieg braucht immer noch höchste ideologische Mobilisierung. Dies bewerkstelligt nicht mehr der Nationalismus, sondern der mit Lehren aus der Vergangenheit hantierende Supermoralismus des Staatsantifaschismus.
5. Krieg als Konterrevolution. Der Nato-Krieg in Libyen ist Teil einer gegen die arabischen Aufstände gerichteten Konterrevolution. Der kraftvolle Aufstand in Tunesien und Ägypten ist in Libyen einem zähen Bürgerkrieg mit ausländischer Intervention und Manipulation und vielen, noch ungezählten Toten gewichen. Die reaktionären arabischen Regimes, die Arabischen Emirate, die Saudis, die frauenknechtenden, Ölrente verprassenden und ausländische Arbeitskraft ausbeutenden Herrschercliquen haben auf ein Abstrafen von Gaddafi durch die Nato gedrängt. Warum? Weil im Windschatten des Krieges die Könige, Emire und Sultane ihre Herrschaft stabilisieren konnten und können. Saudi-Arabien intervenierte in Bahrain, die vereinigten Arabischen Emirate heuern präventiv Söldner zur Aufstandsbekämpfung an. Im Jemen und in Syrien werden die Leute zusammengeschossen. Bei Staatsmann Gaddafi (und nur bei diesem!) wird abgestraft, was andere Staaten ungestraft durchsetzen und vorbereiten: die Niederschlagung des Aufbegehrens. Wenn David Cameron jüngst erklärt: „This has not been our revolution, but we can be proud that we have played our part“, wird sich langfristig lediglich herausstellen, dass die ramponierte Doktrin der „humanitären Intervention” eine frühlingshafte Aufpolierung erhalten sollte. Auch die weitgehende militärische Abhängigkeit der Aufständischen von der Nato beim Niederringen Gaddafis wird selbstorganisierte Emanzipationsprozesse in Libyen erschweren.
6. Kriterien. Sollen sich KritikerInnen des Bestehenden auf das klassische Völkerrecht beziehen? Dieses mag imperialistische Ansprüche einschränken. Es mag auch zwischenstaatliche Gewaltanwendung ächten. Das Völkerrecht hat aber außerhalb des Kriteriums der unantastbaren Staatssouveränität kein weiteres. Der Staat ist hier Subjekt. Der kategorische Imperativ zur Beurteilung der Weltpolitik kann sich so besser an Karl Marx orientieren: Radikal alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein beleidigtes, ein erniedrigtes, ein geknechtetes Wesen ist!
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