Der Sammelband Kaltland fügt die unter den Tisch gekehrten Scherben deutscher Wendebilder wieder zusammen
Bunt, grell schimmernd, pompös und kalt professionell waren sie, die drei langen bundesrepublikanischen Gedenkjahre, die nun hinter uns liegen. Inspiriert durch die hektische und emotional verflachte Bilderwelt des Privatfernsehens prasselten die immer gleichen, längst bekannten Geschichten anlässlich der 20. Jahresfeiern zu Mauerfall und „Wiedervereinigung“ 2009 und 2010 vom Firmament staatlicher Sendeanstalten hinunter. Erzählungen über Stasi-Repression und Perspektivlosigkeit im SED Staat wurden dabei immer so individualisiert präsentiert, dass allein die politische Klammer der staatlichen Geschichtsschreibung einen Deutungszusammenhang darbot: Wer in der DDR unzufrieden war, wollte, so die daraus resultierende Lesart, zwangsläufig „Ein Volk“ mit der bundesrepublikanischen Bevölkerung bilden. Die Identifikation mit einem völkischen Wir als höchstem Ausdruck von „Freiheit“; hierfür also war jenes Bauwerk erstürmt und zertrümmert worden, dessen Errichtung vor 50 Jahren schließlich 2011 als vorläufiger Abschluss der Dauerstaatsakte in Szene gesetzt wurde.
Nicht erst in den zurückliegenden drei Jahren wurde durch die bundesdeutsche Erinnerungskultur der gewalttätige Charakter der Wendejahre und der Anfangszeit der neuen BRD verdrängt. Das jüngst im Berliner Rotbuch Verlag erschienene Buch Kaltland – eine Sammlung leistet an dieser Stelle einen bemerkenswerten Kontrapunkt. Die hier zusammengebrachten Geschichten, Artikel, Gedanken und Erzählungen setzen den 3.Oktober 1990 nicht als eine „zweite Stunde Null“ in der deutschen Geschichte, sondern greifen zuvor in DDR und BRD vollzogene soziale Entwicklungen auf und zeichnen deren Auswirkungen auf die frühen 90’er und die Gegenwart nach. So ungefähr lässt sich vielleicht ein inhaltlicher roter Faden der in fünf Teile gegliederten 42 Texte konstruieren. Als Leitmotiv dient dabei immer mindestens implizit, hierfür haben die Herausgebenden Manja Präkels, Markus Liske und Karsten Krampitz gesorgt, die unmittelbar mit der „Einheit“ einhergehende Gewaltwelle gegen Asylberechtigte, häufig auch allgemein Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch gegen Obdachlose und Linke. Den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda wird als prominenteste Beispiele etwas mehr Raum gegeben – wodurch sich möglicherweise der Eingang des Buches in den öffentlichen Diskurs etwas erleichtert – jedoch ohne dass die Schilderung des gesamten Ausmaßes der durch die nationale Welle angeschwemmten Gewalt geschmälert wird. Trotz oder möglicherweise gerade durch die aneinandergefügte Art der unterschiedlichen Texte ergibt sich ein historischer und politischer Kontext etwa zwischen der latenten Gewalt in der ostdeutschen Provinz und den Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte in westdeutschen Städten – beides sowohl vor als auch nach 1990. In einer Art soziologisch-historischer Flickenteppichbetrachtung gelingt dem Sammelband mit erstaunlicher Präzision die Widerlegung der Interpretation des ostdeutschen Rechtsradikalismus der frühen Neunziger als unbeholfenem Ausdruck sozialer Ausgrenzung und jugendlicher Irritation. In Kaltland erscheint der Deutsche Nationalismus nicht als ein schwammiges Gefühl pubertärer Antihaltung; hier geht es um die Rekonstruktion einer tödlich konkreten politischen Agenda, die in den 80’er Jahren in BRD und DDR heranreifte und deren Explosion in den frühen 90’ern die politische Landschaft der siegreichen Bundesrepublik tiefgreifend veränderte.
Die Qualität von Kaltland liegt zum einen in der inhaltlichen Breite und der damit verbundenen Multiperspektivität. Es finden sich neben den expliziten Texten zu rechter Gewalt im Kontext der „Wende“ viele Schilderungen über so manch alltäglichen Wahnsinn zu jener Zeit, über Erfahrungen der sozialen Desintegration in der DDR, über die politische Kultur jugendlicher Milieus in Ost und West. Historische Einzelbetrachtungen, die auf den ersten Blick kaum etwas mit dem vorangehenden und nachfolgenden Text zu tun haben scheinen, vervollständigen das Porträt eines gesellschaftlichen Umbruchs jenseits der schwarz/weißen Bilderbücher über den märchenhaften Triumph des Guten über das Böse. Zum anderen ist dieser Sammelband aber auch von literarischem, poetischem, manchmal gar humoristischem Wert. Denn Kaltland ist keine Ansammlung theoretischer Traktate über die Genese des deutschen Nationalismus. Neben sachlich, ernst gehaltenen Schilderungen und Gesprächen erzählen Gedichte und Kurzgeschichten auf oftmals sehr hohem narrativen Niveau von tragischer Komik und schicksalhaften Begebenheiten rund um die DDR, ihrem Untergang und dem Gesicht der BRD nach 1990, befreit von Schminke und Glitzer staatlich-medialer Visagisten. Die AutorInnen sind auch allesamt keine Unbekannten in den Bereichen politischer Essay, Journalismus oder Lyrik und Prosa – die Prominentesten unter ihnen sind vielleicht Schorsch Kamerun, Hermann L. Gremliza, Jutta Ditfurth oder Martin Sonneborn. Auch dieser Umstand dürfte nicht unwesentlich dafür sein, ob „Kaltland“ als ideologiekritisches Gegenmittel eine breitere Wirkung entfalten kann. Als solches eignet sich das Buch auch – möglicherweise unverhofft für die Herausgebenden – als Therapie gegen den nicht minder ideologischen Blick von Junger Welt und einigen „Die Linke“-Parteikadern auf die DDR, der sich, pünktlich zum Erscheinen von Kaltland, erneut offenbart hat.
17. September, 19 Uhr | Grüner Salon, Rückerstr. 9
Buchvorstellung mit Lesungen, Podiumsdiskussion und Live-Musik
ROTBUCH Verlag und Gedankenmanufaktur, WORT & TON stellen vor:
Die massiven Angriffe auf die Asylbewerberheime in Hoyerswerda
(17.09.1991) und Rostock-Lichtenhagen (16.08.1992) haben sich als
Horrorszenarien eines neuen Rassismus nach der Wende in unser
kollektives Gedächtnis eingebrannt. Die Bilder von jubelnden
Menschenmassen vor brennenden Häusern, untätigen Polizisten und
Würstchenbuden für die Zuschauer gingen um die Welt.
Umso bemerkenswerter ist es, dass in den zahllosen Wende-Romanen, die
seither erschienen sind, weder die Opfer eine Stimme erhalten noch
Neonazis oder Skinheads eine Rolle spielen.
Zwanzig Jahre danach füllt Kaltland diese Leerstelle mit Erzählungen,
autobiografischen Geschichten und Originaltönen prominenter Autoren und
Künstler, als da wären:
Alexander Kluge / Volker Braun / Emine S. Özdamar / Andres Veiel /
Jakob Hein / Gesine Schmidt / Alexander Osang / Angelika Nguyen /
Hermann L. Gremliza / Martin Sonneborn / Schorsch Kamerun / Peter
Wawerzinek / Michael Wildenhain / Kerstin Hensel / Jutta Ditfurth / Key
Pankonin / Carmen F. Banciu / Carlo Jordan / Andreas Krenzke / Andreas
Marneros / Helmut Höge / Freke Over / Wolfram Kempe / Matthias Vernaldi /
Uta Pilling / Henryk Gericke / Annett Gröschner / Katrin Heinau / Jan
Brokof / Alexander Karschnia / Volker H. Altwasser / Friedrich Ani /
Ahne / Bianca Bodau / Thomas Meyer / Jochen Schmidt / Yonas Endrias /
Heiko Werning / Roger Willemsen
Live-Musik: Der singende Tresen
KONTAKT: Gedankenmanufaktur, WORT & TON, Präkels / Liske,
Winsstr. 14, 10405 Berlin, 030 – 440 38 530, 0152 – 294 928 30,
liske(a)gedankenmanufaktur.net, www.gedankenmanufaktur.net
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