Betrieb & Gesellschaft

„Die Verarmung wird überhaupt nicht wahrgenommen“

Armut und Ernährung in Deutschland. Interview mit Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg.

Die wachsende soziale Ungleichheit spiegelt sich auch in der Ernährungssituation wider. Laut Studien ernähren sich Menschen mit niedrigem Einkommen schlechter als Reiche, was sich auch in einer durchschnittlich niedrigeren Lebenserwartung niederschlägt. Die DA sprach mit Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) über Tafelwirtschaft und Widerstand gegen die Monopole in der Nahrungsmittelindustrie.

 

Im Gegensatz zu früher führt Armut in den Industriestaaten heute eher zu Über- als zu Unterernährung. In den Medien wird das häufig mit mangelnder Bildung erklärt, wie siehst du diesen Zusammenhang?

Einerseits kommt es darauf an, welche Ernährung man sich leisten kann, und andererseits, ob man weiß, was zu einer guten Ernährung gehört. Aber selbst wenn einem das bewusst ist, bringt es nicht viel, wenn man es sich nicht leisten kann. Betrachtet man nun, was Menschen mit den untersten Einkommen, Hartz-IV oder Sozialhilfe, an Geld für die Ernährung zugestanden wird – AsylbewerberInnen erhalten noch viel weniger –, dann ist klar, dass die Menschen, die sich halbwegs gesund ernähren wollen, immer zum Billigsten greifen müssen.

Inzwischen weiß man ja auch, dass satt werden alleine nicht genügt. Es kommt auch auf die Qualität der Lebensmittel an, also etwa auf ihren Nährstoffgehalt. Das kann zu Unterversorgung mit bestimmten Nährstoffen führen. Solche Mangelerscheinungen sind in anderen Teilen der Welt viel weiter verbreitet, es gibt sie aber auch in der Bundesrepublik.

Ein weiterer Aspekt ist, dass diese Billignahrung eben auch unter billigen Bedingungen produziert wird, so dass die ProduzentInnen kaum etwas daran verdienen. Armut in der Landwirtschaft gibt es auch in Europa, die KollegInnen in den Gewächshäusern in Almería leben unter elenden Bedingungen, und wir bekommen hier das billige Gemüse auf deren Kosten.

Vor einigen Jahren gab es mehrere sog. Selbstversuche, in denen meist selbst nicht von ALG-II lebende Menschen versuchten, sich über einen bestimmten Zeitraum nur vom Regelsatz gesund zu ernähren. Geht das überhaupt?

Das kann man mit der Realität gar nicht vergleichen. Natürlich kann ich mal für einen Monat alle Anschaffungen zurückstellen und dann 200 oder 250 Euro im Monat für Ernährung ausgeben. Aber wenn man wirklich alles davon zahlen muss, etwa Möbel, Textilien, Zeitschriften und Bücher, dann bleiben nur noch 130 Euro für die Ernährung. Und wenn ich mich davon über Jahre hinweg halbwegs gesund ernähren will, dann muss ich immer die billigsten Schnäppchen kaufen und komme gerade so aus. Das heißt auch, dass ich vor jedem Einkauf gucken muss, wo es in der Stadt am billigsten ist. Das ist aber nicht realistisch, weil man als ALG-II-Bezieher gar nicht so viel Geld zum hin- und herfahren hat.

Würde es denn etwas bringen, wenn sich mehr Leute Wissen über gesunde Ernährung aneignen, oder ist mehr Geld die einzige Lösung?

Ich denke, man muss beide Seiten sehen und sollte an die Frage, wie sich Menschen ernähren, nicht unmaterialistisch herangehen. Wenn ich den ganzen Tag schuften muss, lange Arbeitswege und wenig Lohn habe, dann habe ich auch keine Zeit und Energie dafür, meine Familie mit frischem Gemüse zu ernähren, das ich mir vom Markt oder vom Produzenten direkt hole. Und dann wird eben zu Fertigprodukten oder Junkfood gegriffen.

Von daher kann die Frage, ob sich breite Teile der Bevölkerung gesund ernähren, nicht moralisierend oder pädagogisierend im Hinblick auf den Einzelnen beantwortet werden. Wir müssen gucken, wie in dieser Gesellschaft überhaupt gelebt wird, wenn wir morgens früh raus müssen, auf wechselnde Baustellen gekarrt werden, spät abends zurückkommen. Wo bleibt denn da noch was vom Kopf frei, um wirklich drauf zu achten?

Manche Selbstorganisationsansätze gehen ja genau in die Richtung, dass man sich nicht zu sehr von der Lohnarbeit verheizen lässt und guckt, dass wir halbwegs fair mit den ProduzentInnen umgehen und eigenen Tausch organisieren und ähnliches.

Das ist doch aber gerade bei Lebensmitteln schwierig. Du hast das ja vorher schon angesprochen, also dass es ja kaum möglich ist, faire Preise zu bezahlen.

Im ALG-II-Satz sind 130 Euro für Ernährung vorgesehen. Ich weiß nicht, was ein fairer Preis wäre, aber ich denke, wenn man faire Preise an die ProduzentInnen – nicht an die Konzerne – zahlen würde, dann müsste man zwischen 250 und 300 Euro im Monat ausgeben. Dafür müsste aber auch mehr von dem, was in dieser Gesellschaft an Reichtum da ist, in diesen Bereich reingehen, anstatt die ProduzentInnen, Landwirte oder PlantagenarbeiterInnen auszupressen und immer nur die Löhne zu drücken.

Viele Menschen decken einen Teil ihres Bedarfs an Lebensmitteln über die Tafeln. Seit den Hartz-Gesetzen ist die Anzahl der Tafeln sprunghaft angestiegen, von 320 im Jahr 2003 auf etwa 870 im Jahr 2010. Sind die Tafeln sinnvoll, weil sie immerhin einige der schlimmsten Auswirkungen der Armut lindern helfen oder dienen sie nur dazu, Großkonzernen ein soziales Image zu verschaffen?

Für die Konzerne ist es kostengünstiger, die abgelaufenen Artikel einfach zur Tafel zu geben, als die Entsorgung zu bezahlen. Andererseits ist es für alle, die wenig Knete haben, ganz praktische Selbsthilfe in der finanziellen Not, wenn man denn bei der Tafel fair behandelt wird. Es gibt ja solche und solche Tafeln. Manche sind von Erwerbslosen selbst organisiert, da geht man fair und solidarisch auf einer Ebene miteinander um. Dann gibt es solche Tafeln wie die hier in Oldenburg, wo man einfach von oben herab etwas zugeteilt kriegt, die Tafelchefin im dicken Sportwagen vorfährt und dann die bürgerliche Mildtätigkeit für die scheinbar unfähigen Armen organisiert. Tafel ist also nicht gleich Tafel.

Der Bundesverband der Tafeln hat im letzten Jahr erklärt, dass ihnen bewusst ist, dass die Tafeln missbraucht werden, um Leistungssätze und Mindestlöhne zu drücken. Das Statistische Bundesamt hat bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) im letzten Jahr festgestellt, dass es Familien gibt, die überhaupt nichts für die Ernährung ausgeben. Die ernähren sich nur über die Tafel. Trotzdem geht das in die Statistik ein, über die der Bedarf berechnet wird. Das ist natürlich Betrug, weil die Erhebung ergeben soll, welchen Bedarf die BezieherInnen wirklich haben. Wenn sich vielleicht Hunderttausende anteilig oder ganz so ernähren müssen, verfälscht das die Statistik. Außerdem sorgt das Tafelwesen nicht für eine anständige Bezahlung derjenigen, die Lebensmittel produzieren und verteilen.

Welche Perspektiven siehst du, um diese Situation zu ändern?

Es wäre wichtig, dass man dieses ganze System wirklich umstellt, von der zentralisierten Produktion zu einer regionalen und unter fairen Bedingungen für ProduzentInnen und KonsumentInnen. In der Bundesrepublik können sich 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung nur anständig ernähren, wenn sie immer die billigsten Angebote kaufen. Diese Verarmung wird überhaupt nicht wahrgenommen. Wohnen ist teuer, auch für Mobilität muss man viel Geld ausgeben. So bleiben einem Haushalt mit 1.300 bis 1.500 Euro Nettoeinkommen nur noch 150 Euro im Monat für die Ernährung. In unserer Region haben wir Milcherzeuger, mit denen man über so etwas diskutieren kann.

Das Entscheidende ist, dass verschiedene Gruppen, die rund um ein Thema wie Ernährung aktiv sind, das Gemeinsame sehen. Im Januar gab es die „Wir haben es satt“- Demo zur Grünen Woche, da haben Landwirtschaftsverbände, Umwelt- und TierschützerInnen, GentechnikkritikerInnen und Erwerbslose gemeinsam demonstriert. Das war eine gute Mischung, nicht jeder für sich, sondern bunt durcheinander. Wenn eine Bewegung von unten erfolgreich sein will, sollten auch verschiedene gesellschaftliche Gruppen zusammenarbeiten. Das müssen wir alle – und da schließe ich mich durchaus mit ein – viel mehr lernen.

Danke für das Interview!

 Daniel Colm

Die Redaktion der Direkten Aktion.

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 Daniel Colm

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