Die Mühlen der Justiz mahlen. Vor allem langsam. Fünf Jahre nach dem Klein-Guantanamo für ein Mitglied des damaligen Kultursyndikats der FAU Berlin hat der Berliner Verfassungsgerichtshof das örtliche Kammergericht ins Unrecht gesetzt. Das oberste Gericht erklärte die tagelange Fesselung des traumatisierten Flüchtlings für rechtswidrig. Doch der Fall ist noch nicht abgeschlossen.
Im September 2006 hatte die Berliner Polizei den kurdischen Flüchtling Derviş Orhan festgenommen. Der damals im Kultursyndikat organisierte Schildermaler sollte an die Türkei ausgeliefert werden. Vollstreckt worden wäre damit das Unrechtsurteil eines türkischen „Staatssicherheitsgerichts“, das eben den Grund für das Asyl des Kollegen darstellte: In der türkischen Republik war Orhan 1997 zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Bis ihm 2003 die Flucht in die Bundesrepublik gelang, war er bereits mehr als elf Jahre lang in türkischen Gefängnissen inhaftiert, davon drei Jahre in Einzelhaft, und mehrfach schwer gefoltert worden. Seither leidet Orhan an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die ihn im Alltag schwer behindert.
Doch mit der Verhaftung nicht genug. Fünf Tage und Nächte lang war der Kollege allein in einem Kellerraum der Krankenabteilung der JVA Moabit untergebracht. In diesem Raum ohne Tageslicht war Orhan durchgängig mit Metallfesseln an beiden Beinen und der rechten Hand in Rückenlage an eine Pritsche „fixiert“. Zwangshaltungen wie diese zählen zu Foltermethoden, die international geächtet sind.
Die FAU Berlin machte damals gemeinsam mit verschiedenen Initiativen und Anwälten den Fall öffentlich (siehe DA Nr. 178). Als Orhan am siebenten Tag seiner Inhaftierung endlich medizinisch untersucht wurde, stellte der Anstaltsarzt fest, dass durch die Inhaftierung eine schwere Retraumatisierung eingetreten war und ein lebensbedrohlicher Zustand kurz bevorstehe. Daraufhin wurde der Flüchtling und Gewerkschafter wegen Haft- und Verwahrunfähigkeit sofort auf freien Fuß gesetzt.
Die juristische Aufarbeitung dieses Falles ist bis heute nicht beendet. Zwar lehnte das Kammergericht den Antrag auf Auslieferung Orhans in einem späteren Verfahren ab. Es erklärte aber alle Maßnahmen, denen Orhan ausgesetzt war – insbesondere die Inhaftierung ohne richterlichen Beschluss und die methodisch als Folter zu bezeichnende „Fixierung“ –, für rechtmäßig. Mit der jetzigen Entscheidung hat der Berliner Verfassungsgerichtshof das Kammergericht in deutlichstem und ausdrücklichstem Maß als unqualifiziert und die Grundrechte verletzend gerügt. Das Kammergericht hätte die Fesselung schon deshalb nie rechtfertigen dürfen, weil die Anstalt den erforderlichen Antrag auf Genehmigung einer solchen Maßnahme nie gestellt hat. Der Verfassungsgerichtshof legt dem Kammergericht schwerste Verletzungen seiner Aufklärungs- und Prüfungspflichten zur Last.
Bereits 2010, ein Jahr zuvor, hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass auch die Inhaftierung zur Prüfung einer Auslieferung richterlicher Prüfung und Beschlussfassung bedarf. Die Inhaftierung von Orhan kann demnach, so sein Anwalt, nichts anderes als rechtswidrig gewesen sein. Denn es gab im September 2006 weder einen richterlichen Beschluss noch irgendeine rechtliche Prüfung, sondern lediglich die Verfügung eines Bereitschaftsrichters, der Flüchtling solle in die JVA Moabit gebracht werden. Dieses Vorgehen scheint jedoch der jahrzehntelangen Praxis in derartigen Verfahren zu entsprechen. Ein endgültiges Urteil steht in dieser Sache noch aus.
Der Flüchtling und Kollege Orhan wohnt derweil in Mecklenburg, wo er seinen Kampf für ein Bleiberecht fortführte. Im Sommer 2010 musste er wieder zum Mittel des Hungerstreiks greifen, um die Behörden auf Trab zu bringen. So gelang es ihm, nach der Anerkennung als politischer Flüchtling eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten und endlich in Sicherheit zu leben.