Anarchismus und Syndikalismus in der kolonialen und postkolonialen Welt
In den Weltregionen, die dem Kolonialismus und Imperialismus unterworfen sind, spielte die anarchistische Bewegung – einschließlich ihres gewerkschaftlichen Ablegers, des Syndikalismus – eine Schlüsselrolle. Die Rolle der Anarchisten und Syndikalisten in den nationalen Befreiungsbewegungen war zentral, manchmal führend. Die Bewegungen in Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik – aber auch in Teilen von Europa, insbesondere in Osteuropa und Irland – müssen als integraler Bestandteil der Geschichte der Arbeiterklasse, der Linken und der Unabhängigkeitsbewegungen in diesen Regionen betrachtet werden.
Einige linke Autoren haben den Anarchismus mit Verweis darauf als „historischen Fehler“ verurteilt, dass er „fast nichts zu tun [hatte] mit den antikolonialen Kämpfen, die revolutionäre Politik [im 20. Jahrhundert] definierten“1. Weniger polemisch behauptete John Crump, ein mit dem japanischen Anarchismus sympathisierender Autor, der „Anarchismus hat in der ‚Dritten Welt’, in den Kolonialgebieten kaum Wurzeln geschlagen“2.
Solche Auslassungen sind in gewissem Sinne verständlich. Texte über die Geschichte des Anarchismus und Syndikalismus konzentrieren sich tendenziell auf die nordatlantischen Länder und ignorieren 80 Prozent der Menschheit und einen Großteil der Geschichte dieser Strömung. Darüber hinaus widmen diese Studien der anarchistischen und syndikalistischen Beteiligung an den antiimperialistischen Kämpfen kaum Aufmerksamkeit3. Das Kernproblem aber besteht darin, dass diese Behauptungen schlicht falsch sind. Anarchisten und Syndikalisten spielten in den Kämpfen all dieser Regionen, auch in Unabhängigkeitskämpfen, eine wichtige Rolle. Daher sollten die Debatten, die in der (post-)kolonialen Welt innerhalb der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung geführt wurden, genau untersucht werden.
Die Themen, mit denen sich diese Bewegungen konfrontiert sahen – und sehen –, sind heute noch entscheidend für revolutionäre Politik und müssen von Anarchisten und Syndikalisten auf Grundlage klarer historischer Referenzen und nicht abstrakter Losungen angegangen werden. Etwa die Frage, ob der Imperialismus geschlagen werden kann: Führen Unabhängigkeitskämpfe immer und zwangsläufig nur zur Herrschaft einer neuen Elite, wie einige meinen4, oder können sie ein Weg zur sozialen Revolution sein? Wie können ‚rassische’ Spaltungen in Arbeiterklasse und Bauernschaft überwunden werden? Dies sind Fragen, die von der Bewegung in der (post-)kolonialen Welt ausführlich diskutiert wurden; und aus ihrer aktuellen Praxis lässt sich einiges lernen.
So fanden zwei der drei großen anarchistischen Revolutionen im 20. Jahrhundert außerhalb der westlichen Welt statt und waren Teil von Unabhängigkeitskämpfen oder nationalen Befreiungsbewegungen: Die Rede ist von der Ukraine (1918–1921) und von Korea/Mandschurei (1929–1931); die dritte ist natürlich Spanien (1936–1939). Jüngste Arbeiten beginnen die bisherigen Behauptungen und irreführenden Ansätze infrage zu stellen. Ein Beispiel hierfür ist Anarchism and Syndicalism in the Colonial and Postcolonial World, 1870-1940: the praxis of national liberation, internationalism and social revolution, herausgegeben von Steven Hirsch und Lucien van der Walt (Brill, 2010). Mit einem Vorwort von Benedict Anderson und einer Einleitung der Herausgeber umfasst der Band Beiträge zu Argentinien (Geoffroy de Laforcade), Brasilien (Edilene Toledo und Luigi Biondi), China (Arif Dirlik), Kuba, Mexiko, Panama und Puerto Rico (Kirk Shaffer), Ägypten (Anthony Gorman), Irland (Emmet O’Connor), Korea (Dongyoun Hwang), Peru (Hirsch), Südafrika (van der Walt) und zur Ukraine (Aleksandr Shubin). Dieses internationale Team widmete sich intensiv den Berührungspunkten von Anarchismus und Syndikalismus mit der „nationalen Frage“ in diesen Regionen: Das sind einerseits die ethnischen und ‚rassischen’ Spaltungen in der Bauernschaft und Arbeiterklasse und andererseits die Kämpfe um nationale Selbstbestimmung und antirassistische Gleichheit im Kontext kolonialer und imperialer Machtkonstellationen.
Diese Bewegungen endeten nicht in den 1940ern, um in den 1960ern oder 1990ern wieder aufzukommen. Das sind irreführende Mythen, die sich in einem Gutteil zeitgenössischer Literatur finden, die behauptet, die anarchistische und syndikalistische Bewegung hätte mit der Niederschlagung der Spanischen Revolution „aufgehört, eine lebendige Bewegung zu sein“5. Ich möchte darauf verweisen, dass es bis in die 1950er und 1960er bedeutende anarchistische und syndikalistische Gewerkschaftsflügel z. B. in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile und Kuba gab; in Korea hielt die Präsenz trotz Diktatur bis in die 1950er an; Anarchisten und Syndikalisten spielten eine bedeutende Rolle in den Untergrundkämpfen der 1950er in Russland und China sowie der 1970er und 80er in Argentinien, Kuba und Uruguay; und als die CNT im Spanien der 1970er wieder erstand, erreichte ihre Mitgliedschaft bald ein halbe Million.
Wenn wir nur die (post-)koloniale Welt bis in die 1940er betrachten, ist festzuhalten, dass Syndikalismus und Anarchismus in den Gewerkschaften Argentiniens, Brasiliens, Chiles, Kubas, Mexikos und Perus über viele Jahre hegemonial waren, und dass sie bedeutende, aber nicht beherrschende Strömungen in den Gewerkschaften Algeriens, Boliviens, Bulgariens, Chinas, Kolumbiens, Costa Ricas, Ecuadors, Ägyptens, Malaysias, Mosambiks, Panamas, Paraguays, Polens, Puerto Ricos, Südafrikas, Venezuelas und anderswo darstellten.
So wurden etwa die ersten modernen Gewerkschaften in China von Anarchisten gegründet. 1921 gab es allein in der Provinz Guangdong etwa 40 anarchistisch geführte Gewerkschaften; bis Mitte der 1920er existierte in den Gewerkschaften von Guangdong und Húnán eine „anarchistische Vorherrschaft“6. Auch die ersten Gewerkschaften auf der Malaiischen Halbinsel wurden von Anarchisten gegründet, die bis mindestens 1945 eine führende Rolle spielten7. Wenn wir uns anarchistische Bauernbewegungen anschauen, fällt ins Auge, dass einige der größten Bewegungen dieses Typs in China, Korea, Mexiko und der Ukraine zu finden sind. In Mexiko gehen anarchistische Bauernaufstände zurück bis zur Revolte von Julio Chávez López in den Jahren 1867 bis 1869, die mit anderen den Zeitraum bis zum anarchistischen Magón-Aufstand von 1911 prägte. Die mexikanischen Anarchisten hatten einen starken, wenn auch nicht allumfassenden Einfluss auf Emiliano Zapata, wie sein Programm, der „Plan von Ayala“, und der zapatistische Bundesstaat Morelos belegen.
An zweiter Stelle ist der gewichtige, wenn auch komplizierte, anarchistische und syndikalistische Einfluss auf Gewerkschaften in Irland, Nordrhodesien (Sambia), Südrhodesien (Simbabwe) und Südwestafrika (Namibia) ebenso zu nennen wie der auf die aufkommenden Widerstandsbewegungen in Nicaragua und Indien. In allen angeführten Fällen überlagerten sich anarchistische und syndikalistische Strömungen mit anderen politischen Traditionen und vermischten sich zu Strömungen, die wir am besten halb-anarchistisch oder halb-syndikalistisch nennen.
In Asien, in der Karibik, in Lateinamerika und Afrika entstanden erst im Verlauf der 1920er bedeutende marxistische Bewegungen; und selbst dann dauerte es in vielen Ländern noch Jahre, bis in der Linken eine kommunistische Hegemonie hergestellt war. Das erste marxistische Buch auf chinesisch war 1920 das Kommunistische Manifest – zu dieser Zeit waren die Arbeiten Kropotkins in vielen asiatischen Sprachen verbreitet. Mao Zedong war Anarchist, bevor er zum Marxisten wurde – und er war damit in China keine Ausnahme. Das Ursprungsprogramm der Brasilianischen Kommunistischen Partei war anarchistisch8. Die erste bedeutende KP in Mexiko, 1919 gegründet, war viele Jahre lang vom Anarchismus beeinflusst. Die erste KP Afrikas wurde im Oktober 1920 mit einem grundlegend syndikalistischen Programm in Südafrika gegründet. Anthony Gorman zeigt, dass auch die 1921 gegründete Ägyptische Sozialistische Partei, Vorläuferin der Ägyptischen Kommunistischen Partei, starkem anarchistischen Einfluss ausgesetzt war und von einigen gar „die anarchistische Partei“, al-hizb al-ibahi, genannt wurde.
Der letzte Fragenkomplex, den unser Band aufwirft, betrifft das anarchistische und syndikalistische Verhältnis zur nationalen Frage. Einerseits ist da das Problem der ethnischen und ‚rassischen’ Spaltungen unter den arbeitenden und armen Massen: Die Forschung belegt, dass Anarchisten und Syndikalisten die klassenweite Einheit verfochten und aktiv gegen nationale und rassistische Unterdrückung kämpften. Bemerkenswerte Beispiele sind Brasilien und Kuba (unter ehemaligen Sklaven), Mexiko und Peru (unter Indígenas) sowie Südafrika (unter Schwarzen, Farbigen und Asiaten).
Andererseits ist da das Feld der anarchistischen und syndikalistischen Rolle in den antikolonialen und Unabhängigkeitsbewegungen, die Fragen des strategischen Ansatzes und die Einschätzung ihres tatsächlichen Einflusses auf diese Bewegungen ins Blickfeld rückt. Ein Teil der anarchistisch-syndikalistischen Bewegung mied solche Kämpfe und verwies auf deren Fruchtlosigkeit. Auch dieser Teil war prinzipiell gegen den Imperialismus, aber tatsächlich hielt er Abstand von den nationalen Befreiungsbewegungen. Solche Strömungen hatten keinen Einfluss auf diese Kämpfe. Eine zweite Position brachte es mit sich, dass Anarchisten und Syndikalisten einen klassenübergreifenden Nationalismus unkritisch, ja enthusiastisch, übernahmen. Sie kapitulierten in diesen Kämpfen vor den Nationalisten, die auf einen neuen Staat abzielten. Dieser anarchistisch-syndikalistische Ansatz ist beispielsweise zu beobachten in Teilen der Bewegung in China, Tschechien und Korea. Der interessanteste – und historisch wichtigste – Ansatz der Anarchisten und Syndikalisten war der jener Strömung, die als unabhängige Kraft innerhalb der nationalen Befreiungsbewegungen arbeitete, um diese Kämpfe umzuwandeln in eine anarchistische soziale Revolution. Sie weigerte sich, die nationale Befreiung den Nationalisten zu überlassen. Obwohl sie in einigen Punkten mit Nationalisten zusammenarbeitete, zielte sie darauf, deren Einfluss durch das anarchistische und syndikalistische Programm zu ersetzen. Dieser Ansatz war die vorherrschende Position in der Bewegung in China und Korea; zentral war er zudem in der Bewegung in Kuba, Ägypten, Irland, Mexiko, Puerto Rico, Südafrika und der Ukraine.
Wie sind diese Ansätze zu beurteilen? Leicht festzustellen ist, dass sich die abseits stehende anarchistisch-syndikalistische Position, die die nationalen Befreiungsbewegungen ignorierte, selbst marginalisiert hat. Jene, die sich den Nationalismus zu eigen machten, wurden zunehmend in die nationalistische Bewegung integriert und, als die Nationalisten die Staatsmacht erobert hatten, vereinnahmt oder unterdrückt. Dahingegen legte jener Flügel, der die Herausforderung der nationalen Befreiungskämpfe annahm und sie übernehmen und umwandeln wollte, die Basis für die Revolutionen in der Ukraine und der Mandschurei. Vor einem abschließenden Befund jedoch, ist noch einige Forschungsarbeit zu leisten.
[1] Chris Day: The Historical Failure of Anarchism: implications for the future of the revolutionary project. Kasama Essays for Discussion, 2009 [1996] (online als PDF), S. 5.
[2] John Crump: Anarchism and Nationalism in East Asia. Anarchist Studies 4 (1), 1996, S. 60 f.
[3] Bis vor kurzem war das englischsprachige Standardwerk zur anarchistischen Geschichte Peter Marshall‘s Demanding the Impossible: a history of anarchism. Fontana Press, 1993. Das Buch widmet der Welt außerhalb des Westens 33 von 706 Seiten, die schematisch und teils nicht korrekt sind.
[4] Murray Bookchin: Nationalism and the National Question. Society and Nature 2 (2), 1994, S. 8-36.
[5] George Woodcock: Anarchism: a history of libertarian ideas and movements. University of Toronto Press, 2004, S. 408.
[6] Arif Dirlik: Anarchism in the Chinese Revolution. University of California Press, 1991, S. 15, 27, 170; Arif Dirlik: The Origins of Chinese Communism. Oxford University Press, 1989, S. 214–215.
[7] D.T.K Kim, R.S. Malhl: Malaysia: Chinese anarchists started trade unions, The Sunday Star, 12.09.1993.
[8] J.W.F. Dulles: Anarchists and Communists in Brazil, 1900–1935. University of Texas Press, 1973, S. 87–90.
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
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