Im mexikanischen Bundesstaat Guerrero wehrt sich die indigene Bevölkerung auf eigene Weise gegen Korruption und Machtmissbrauch der Behörden: durch eine andere Polizei
Im Osten des südmexikanischen Bundesstaates Guerrero wurde im Oktober 1995 ein organisiertes basisdemokratisches Netzwerk – die Kommunitäre Polizei (PC) und ab 1998 die Regionale Koordination der kommunitären Autoritäten (CRAC) – zur Verbesserung der katastrophalen Sicherheitslage in den mestizisch-indigenen Gemeinden des Gebiets ins Leben gerufen. Dieser Organisierungsprozess stellt heute neben den zapatistischen Gemeinden in Chiapas eines der umfassendsten Beispiele für die Ausübung der De-facto-Autonomie der kleinbäuerlich-indigenen Bevölkerungsgruppen in Mexiko dar.
Zósimo Avilés, Mitbegründer der PC, beschreibt die zuvor herrschende Situation im Interview wie folgt: „Es gab in unserer Region große Probleme. Hier herrschte die Unsicherheit. Es gab Überfälle, Vergewaltigungen, Viehdiebstahl, Morde. Die Leute wussten, wer das machte, aber sie hatten Angst. Denn das waren Leute mit Geld, unangreifbare Personen. Deswegen wurde gesagt, lasst uns organisieren, um diese Kriminalität zu bekämpfen. Wir haben uns versammelt, mit Freunden, mit den Alten, mit den Jungen, um Meinungen darüber auszutauschen, was wir machen könnten, um die Kriminalität zu bekämpfen. In mehreren Versammlungen tauchte dann der Vorschlag auf, einen Polizeikörper zu schaffen, der wirklich im Dienst der Bevölkerung stehen soll, nicht im Dienst eines Anführers oder einer Person, die Geld hat.“
Ein wichtiger Hintergrund für die enorme Gewalt ist die Armut in der Region, die durch das neoliberale Freihandelsabkommen NAFTA zwischen Kanada, Mexiko und den USA seit 1994 zugenommen hat. Die staatlichen Sicherheitskräfte waren und sind häufig in kriminelle und gewalttätige Machenschaften verstrickt und wirken auf die ortsansässige Bevölkerung wie Schergen der kapitalistischen Elite, worunter nicht nur Grundbesitzer, Industrielle, Konzerne und Banken zu fassen sind, sondern auch AkteurInnen des Drogenhandels und anderer Zweige des Organisierten Verbrechens wie Menschenhandel und Entführungen. Vom Staat war keine Lösung zu erwarten, wie Avilés betont: „Die Polizei der Regierung war nur hier um Geld herauszuholen. Die Regierung kümmert sich nicht um die indigenen Gemeinden. Wir Indigenen haben auch Rechte, wir haben dieselben Rechte wie die Leute, die in der Stadt leben. Die Regierung hat überhaupt kein Interesse an den indigenen Gemeinschaften von Mexiko gezeigt. Sie lässt uns im Stich. So ist die Regierung. Es kam die PRI, die PAN, und heute wird Guerrero von der Opposition, der PRD regiert, aber auch dieser Gouverneur hilft den Indigenen nicht. Es ist traurig, diese Situation zu sehen.“
Im Gegensatz zur regulären Polizei werden die Amtsträger der PC auf Vollversammlungen ihrer Dörfer unabhängig von staatlichen Strukturen gewählt und können jederzeit abgesetzt werden – die Angehörigen der CRAC ebenso. Sie verdienen nichts durch ihren Dienst an der Allgemeinheit und bleiben weiter in ihrer Hauptbeschäftigung tätig – in der Regel als Kleinbauern. Diese aus indigenen Traditionen stammenden Mechanismen konnten Korruption und Vetternwirtschaft weit zurückdrängen. Die gefassten StraftäterInnen werden vor der CRAC betreut, die den Prozess der „Neu-Erziehung“ festlegt – die AktivistInnen weigern sich, ihr System als „Strafe“ zu bezeichnen. Ein Freikaufen der TäterInnen ist nicht möglich. Im Gegensatz zur Staatspolizei werden materielle Entschädigungen nicht akzeptiert, was wiederum zur Verhinderung von Korruption beiträgt. Die TäterInnen schlafen nachts in bewachten Zellen und verrichten tagsüber gemeinnützige Arbeiten wie Straßen- oder Häuserbau und werden die gesamte Zeit durch intensive Gesprächskreise der CRAC begleitet, die auf die Themen Respekt, gegenseitige Hilfe und Solidarität abzielen. Nach zwei Wochen werden sie dann in die nächste Gemeinde verlegt.
Die CRAC setzt in diesem Prozess auf Versöhnung, Anwälte werden nicht akzeptiert, es wird direkt zwischen den Beteiligten verhandelt. Am Ende des Prozesses der „Neu-Erziehung“ werden Täter- und Opferfamilie zusammengerufen, um einvernehmlich zu feiern. Ausnahmen bilden Mord und Vergewaltigung, in diesen Fällen dauert die „Neu-Erziehung“ bis zu acht Jahre.
Dieses kollektiv kontrollierte Rechtssystem hat dazu geführt, dass die Kriminalität in der Region um über 90 Prozent zurückgegangen ist. Der Staat hat CRAC und PC immer wieder angegriffen, konnte die Bewegung allerdings bis heute nicht besiegen – sie ist im Gegenteil kontinuierlich gewachsen und heute in 77 Gemeinden in 13 Landkreisen im Osten Guerreros aktiv, in denen rund 100.000 Menschen leben. Der Staat ist dort keineswegs gänzlich verschwunden, doch die Basisbewegung hat eine beachtliche Parallelstruktur aufbauen können. Mexikoweit ist die CRAC-PC mit vielen außerparlamentarischen linken Strukturen vernetzt, darunter mit dem Nationalen Indigenen Kongress CNI und der „Anderen Kampagne“, einer Linksallianz, die 2005 von der EZLN angestoßen wurde.
Der Organisierungsprozess geht längst über den Sicherheitsbereich hinaus, wie die PC anlässlich ihres 16jährigen Jubiläums im Oktober 2011 betonte: „Im Laufe der 16 Jahre des Kampfes haben wir gelernt, dass es nicht ausreicht, die Unsicherheit um circa 98 Prozent gesenkt zu haben, da die Probleme, die sie hervorrufen, weiterhin präsent sind. Unsere Region leidet unter einem niedrigen Niveau von wirtschaftlicher, sozialer und bildungsbezogener Entwicklung und immer noch stechen die extreme Armut, die Diskriminierung und die Ernährungsunsicherheit hervor. Deswegen haben wir entschieden, unseren Kampf zu diversifizieren und seit 2007 unternehmen wir Schritte, um ein Projekt integraler Entwicklung aufzubauen, in dessen Rahmen wir, ausgehend von unseren Möglichkeiten, für Gesundheit, Bildung, Ernährungssicherheit und Gleichheit der Geschlechter sorgen.“
Besorgniserregend ist jedoch eine jüngere Entwicklung innerhalb der PC, da ein Flügel über eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Regierung nachdenkt. Diese Strömung der PC gibt zu bedenken, dass die Bereitschaft zur unbezahlten Gemeinschaftsarbeit als autonomer Richter oder Polizist durch die zunehmende Monetarisierung des Alltagslebens sinkt und das staatliche Zuwendungen letztendlich die Autonomie stärken könnten, da die PC so effizienter arbeiten könnte. Die andere Strömung warnt hingegen genau davor, weil dadurch im Gegenteil eine größere Abhängigkeit vom Staat entstehen und die Autonomie geschwächt würde. Die radikale Fraktion strebt nach einer Selbstregierung und einer autozentrierten Entwicklung der Gemeinden – vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Medien, Ernährung und Frauenrechte -, wie auch die zapatistischen Gemeinden in Chiapas. Bisher ziehen beide Fraktionen an einem Strang, aber die internen Debatten gehen weiter und die politische Klasse Mexikos verfügt nicht nur über jahrzehntelange Erfahrungen im Bereich Repression, sondern auch im Aufsaugen von gespaltenen sozialen Basisbewegungen ins politische System.
Uns als in Deutschland lebenden Menschen mag das alles sehr seltsam vorkommen. Und was hat dieser Artikel überhaupt in einer anarcho-syndikalistischen Zeitung zu suchen? Nun, es geht um Selbstorganisation von unten und in Ost-Guerrero war die Unsicherheit das größte Problem der Bevölkerung. Es gibt in der BRD kein Organisationsniveau, das dem der organisierten indigenen Gemeinden Südmexikos auch nur entfernt gleichen würde. Die Situation ist vollkommen verschieden und die Organisierung von „Sicherheit“ klingt in Deutschland gleich nach „Bürgerwehr“ mit rechtsautoritärer Orientierung. Doch wer kann es den Menschen in Guerrero verübeln, dass sie sich gegen den Klüngel von Mafias, lokalen Machthabern, Gewalttätern, Polizisten und Militärs bis hin zu rücksichtslosen Großkonzernen – vor allem Bergbauunternehmen – organisieren, um mehr Ruhe in ihre Gemeinden zu bringen? Das ist Selbstorganisation entlang der aktuellen eigenen Bedürfnisse. Die Ausweitung der autonomen Sicherheitspolitik auf andere Lebensbereiche gibt Hoffnung, dass dieses emanzipatorische Experiment weiter in der Lage sein wird, die De-facto-Autonomie auszubauen. Copy + Paste ist wie im Falle des real existierenden Zapatismus in Chiapas ein falscher Ansatz, doch Inspiration bietet auch dieses soziale Experiment mit Massenbasis.
Weitere Informationen: www.policiacomunitaria.org
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