Hintergrund

Wirtschaft und Demokratie gemeinsam denken

„Selbstverwaltung“ war immer eine der Hauptforderungen und Herausforderungen der Arbeiterbewegung – ein Überblick über Theorie und Praxis

In ihrer Forderung nach mehr Demokratie scheint sich die Arbeiterbewegung kaum von anderen Emanzipationsbewegungen zu unterscheiden. Der entscheidende Punkt aber ist, diese nicht nur auf politischer Ebene zu verlangen, zu erkämpfen oder einfach zu machen, sondern auch auf einer wirtschaftlichen – bzw. diese Trennung zwischen politischer und wirtschaftlicher Ebene schlicht nicht zu akzeptieren.

Das Wirtschaftliche selber gemeinsam zu organisieren – so lässt sich „Selbstverwaltung“ kurz und bündig beschreiben. Damit geht die Problematisierung eines recht konsensualen Ziels aber erst los. Das „Verlangen“ nach wirtschaftlich-demokratischer Teilhabe kann bedeuten, für entsprechende Gesetze einzutreten, wie in einer Mitbestimmungsgesetzgebung mit Betriebsräten und der Beteiligung von ArbeiterInnen in Aufsichtsräten, das „Erkämpfen“ kann die Übernahme von Staatsmacht beinhalten oder die Ersetzung des Staates durch Räte- und Gewerkschaftsstrukturen, das „Einfach machen“ kann die Existenz einzelner Genossenschaften im Kapitalismus bedeuten oder auch ein genossenschaftliches System, das die bisherige Produktions- und Handelsweise ganz ersetzt.

All diese Konzepte wurden in den letzten 200 Jahren entworfen, kontrovers diskutiert und auch ausprobiert. Ein Überblick über diese Experimente muss fragmentarisch bleiben.

Frühe Kollektivierungsexperimente

Allen sozialistischen Entwürfen – anarchistischen, wie autoritären – ging es in der Theorie immer darum, ein kooperatives Gemeinwesen herzustellen. Einig sind sich die verschiedenen Strömungen ferner darin, dass das Privateigentum, zumindest an den Produktionsmitteln, diesem Ziel entgegensteht. Der Widerspruch ist deutlich: Hier wird etwas von vielen produktiv bearbeitet, was nur wenigen gehört. Demokratisch ist das nicht. Die anarchistischen Bewegungen folgerten daraus logisch, dass eine Emanzipation durch politische Parteien und parlamentarische Betätigung immer unvollständig bleiben muss, da diese Institutionen das Privateigentum schützen.

In diesem Sinne experimentierten bereits die Frühsozialisten Anfang des 19. Jahrhunderts mit genossenschaftlichen Projekten: Robert Owen realisierte ab 1825 mehrere Produktivgenossenschaften in den USA, Charles Fourier begründete assoziative Lebens- und Arbeitsgemeinschaften und Pierre Joseph Proudhon gründete 1849 eine „Volksbank“, die zinslose Kredite an ArbeiterInnen vergeben sollte.

Die beiden „Klassiker“ des Anarchismus Michail Bakunin und Peter Kropotkin ließen sich für solche Experimente von den Organen der russischen Bauerngemeinde inspirieren: Dem Mir als gemeinsamer Verwaltung, der Obschtschina als gemeinsam bewirtschaftetem Land und dem Artel als genossenschaftlich organisiertem Handwerk. In seiner Gegenseitigen Hilfe war Kropotkin das Artel ebenso Vorbild einer genossenschaftlichen Zukunft wie die mittelalterlichen Gilden und Zünfte.

In Deutschland dagegen fand das Genossenschaftswesen etwa gleichzeitig Fürsprecher aus den Reihen der frühen Sozialdemokratie: In Abgrenzung zu Marx formulierte Ferdinand Lassalle das „eherne Lohngesetz“, das besagte, dass Löhne immer nur um das Existenzminimum schwanken würden.1 Gewerkschaftlicher Lohnkampf war daher für Lassalle keine Option – seine Alternative waren Produktionsgenossenschaften, in denen der Widerspruch zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn aufgehoben sein sollte. Für Lassalle war es Aufgabe des Staates, solche Genossenschaften zu unterstützen.2

Ein „Gründungsboom“ von Genossenschaften fand allerdings erst um die Jahrhundertwende statt, als die Lassallesche Richtung ihren Einfluss auf die Arbeiterbewegung schon an den Marxismus verloren hatte. 1894 gründete sich die Großeinkaufsgenossenschaft deutscher Consumvereine (GEG). 1910 erkannte die SPD auf ihrem Magdeburger Parteitag die Konsumgenossenschaften – neben Gewerkschaft und Partei – als „dritte Säule der Arbeiterbewegung“ an und forderte ihre Mitglieder zur Teilnahme an diesen auf.

Die weitergehende anarchistische Variante dieses Genossenschaftsentwurfs finden wir bei Gustav Landauer. Landauer ging es um gleichzeitige kollektive Produktion, Konsumtion und gemeinsames Leben. Gegenüber dem Klassenkampf war Landauer skeptisch, erstens sah er, dass Streiks auch verloren werden können3 – konstatierte also schlicht eine zu starke Klassenmacht der Kapitalisten – zweitens kritisierte er aber auch die Berufung auf die Identität „Arbeiter“.4 Stattdessen betonte er die Rolle des Konsums: Sei dieser selbstverwaltet, könnten damit einerseits Streiks gestützt und Boykotte durchgehalten werden, andererseits sei man nicht mehr von der kapitalistischen Produktion abhängig. Landauer selber engagierte sich in der Berliner Genossenschaft „Befreiung“.

Sozialisierung und Syndikalisierung

Landauer war mit seinem Konzept des „Austretens aus dem Kapitalismus“, letztlich ebenso wenig ein Freund von Gewerkschaften wie Lassalle. Überspitzt könnte man Lassalles Position zu den frühen Gewerkschaften mit Landauers Position zum Anarchosyndikalismus vergleichen. Insofern wundert es wenig, dass die FAUD die durch AnarchosyndikalistInnen in Düsseldorf nach Landauerschem Vorbild gegründete Siedlung „Freie Erde“ skeptisch betrachtete. Sowohl mit den traditionell marxistischen Strömungen in USPD und KPD wie auch mit den rätekommunistischen und unionistischen Organisationen KAPD und AAU teilten die AnarchosyndikalistInnen ein Weltbild der Industrialisierung – die romantische Siedlungsgenossenschaft auf dem Lande schien dem akuter werdenden Arbeiterkampf in Zechen und Fabriken doch allzu fern.

Es ging den AnarchosyndikalistInnen der FAUD nicht um den Austritt von Einzelnen aus dem System, sondern um die Revolution als radikale Umwälzung. In diesem Rahmen wurde „Arbeiterselbstverwaltung“ als Debatte über die Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19 in Deutschland bestimmendes Thema. Hier ging es nun nicht mehr um die Frage eines Austritts – eben nicht nur aus dem Kapitalismus, sondern auch aus der Gesellschaft – sondern um die zukünftige kollektive Organisierung der Gesellschaft und ihrer Ökonomie. Den rätekommunistischen und den anarchosyndikalistischen TheoretikerInnen stellte sich diesbezüglich auch die Frage, wer denn nun eigentlich Arbeiter sei. Im Rahmen der (vorübergehenden) Sozialisierung von Betrieben wurde das Klischee des klassischen Proletariers tendenziell überwunden und eine Einheit von Hand- und KopfarbeiterInnen beschworen. Die Erfahrung der Selbstverwaltung durch Arbeiterräte machte deutlich, dass für eine solche Selbstverwaltung Ingenieure, Techniker, Buchhalter und Wissenschaftler notwendig sind. Die rätedemokratische Debatte ging über die betriebliche Selbstverwaltung hinaus, es ging auch um die Koordination der Produktion und Konsumtion – erst dadurch wurde die Selbstverwaltung auch zur Sozialisierungsperspektive. Für Karl Korsch war die syndikalistische Perspektive der Sozialisierung bereits 1919 die konstruktivste.5

Genossenschaftliche Projekte beäugte die FAUD dagegen skeptisch aufgrund der überwältigenden sozialdemokratischen Übermacht in diesem Sektor.6 Die ADGB-nahe genossenschaftliche Produktion der GEG strotzte vor Kraft mit 58 Produktionsbetrieben auf dem Reichsgebiet. In Fleischkonserven z.B. war sie führend, u.a., weil sie im Ersten Weltkrieg das deutsche Militär beliefert hatte. Das erklärt sicherlich das harsche Urteil der FAUD, nach dem „Konsum-Genossenschaften nichts anderes sind und sein können, als ein streng zentralisiertes, bürokratisches Reforminstrument, das nur dazu benutzt werden kann, die Auswüchse der kapitalistischen Gesellschaft auf dem Gebiete des Warenumsatzes einzudämmen“.7

Erst in den späten 1920er Jahren besann sich die FAUD angesichts ihrer Mitgliederschwäche auf genossenschaftliche Konzepte unter dem Schlagwort des „konstruktiven Sozialismus“ auch mit Bezug auf Landauersche Konzepte. 1929 gründete sich eine „Freie Wirtschaftliche Arbeiterbörse“ in Krefeld, weitere explizit anarchosyndikalistische Genossenschaften existierten in Düsseldorf, Sömmerda und Viersen, ein „Großprojekt“ war die Gilde freiheitlicher Bücherfreunde. 1931 formulierte Gerhard Wartenberg in Der Syndikalist ein explizit anarchosyndikalistisches Genossenschaftsprogramm, basierend auf ein „dreigeteiltes System aus Räten, Gewerkschaften und Genossenschaften“.8

Dennoch: Das Konzept einer Syndikalisierung der Produktionsmittel setzte die Enteignung der Unternehmer voraus. „Arbeiterkontrolle“ war stets verbunden mit der syndikalistischen Kampfmethode schlechthin: dem Streik. Der Arbeiterkontrolle sollte die Organisierung am Arbeitsplatz vorausgehen, der Arbeiterselbstverwaltung die Selbstermächtigung im kapitalistischen Betrieb.

Die erste spezifisch anarchosyndikalistische Kollektivierung war selbstverständlich das Experiment während der Spanischen Revolution 1936/37. Hier wurde, so Karl Korsch 1939, gemeinwirtschaftliche Produktion erstmals „in größerem Maßstab erprobt“.9 Das Besondere an der spanischen Kollektivierung war nicht nur die geographische Ausbreitung, sondern die erfolgreiche Kollektivierung von Landwirtschaft und Industrie sowie vor allem, dass sie von den ArbeiterInnen selber ausging: „Die für diese Aufgabe seit langen Jahren […] ausgiebig vorbereitete syndikalistische und anarchistische Arbeiterbewegung Spaniens wusste über ihre eigenen ökonomischen Ziele Bescheid und hatte über die ersten praktischen Schritte zur Erreichung dieser Ziele im Ganzen eine viel realistischere Vorstellung als sie die sogenannte ‚marxistische‘ Arbeiterbewegung im übrigen Europa in ähnlichen Situationen zeigte“.10

Nichtsdestotrotz sind die kritischen Anmerkungen Michael Seidmanns (siehe den Artikel von Ludwig Unruh Arbeiter, Arbeitereliten und das Problem der Arbeit) durchaus zu bedenken. Auch die AnarchosyndikalistInnen waren Kinder ihrer Zeit. Wenn Diego Abad de Santillan 1933 den Taylorismus im Sinne einer Arbeiterselbstverwaltung für brauchbar hielt, so war er damit nicht alleine: Auch das von Fritz Naphtali 1928 für den ADGB entworfene Programm einer Wirtschaftsdemokratie11 ging von ähnlichen Voraussetzungen aus. Rudolf Rocker hatte diese Rationalisierungstendenzen allerdings schon 1927 kritisch betrachtet.12

„Große“ Entwürfe

Eines der größten staatlichen Konzepte einer „Arbeiterselbstverwaltung“, das auch in der libertären Linken breit rezipiert wurde, war der „dritte Weg“ der jugoslawischen Föderation. Die Tradition dieses alternativen Staatssozialismus war durchaus anarchistisch geprägt: Staatspräsident Josip „Tito“ Broz war in seiner Zeit als Wanderarbeiter in Deutschland 1910/1911 eng vernetzt mit russischen AnarchistInnen, viele der PartisanInnen auf jugoslawischem Gebiet hatten zuvor in Spanien gekämpft und die anarchosyndikalistischen Konzeptionen kennengelernt.

Zumindest auf dem Papier war die „Arbeiterselbstverwaltung“ Jugoslawiens so fortschrittlich, dass die Belgrader Studierenden 1968 global die einzigen waren, die nicht gegen, sondern für die Verfassung kämpften.13 Ihre Forderung war die Realisierung des Programms des regierenden Bundes der Kommunisten. Die Konzeption der Belgrader 1968er wirkte wiederum zurück auf den Ursprung der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung – Belgrad war 1968 Reiseziel und Inspiration auch für ältere AnarchosyndikalistInnen aus dem Westen.

Das jugoslawische Konzept scheiterte letztlich an zwei Aspekten: Die recht lax gehandhabte Möglichkeit der Finanzierung selbstverwalteter Projekte führte zu einer Schuldenkrise und letztlich in den 1980er Jahren zu einer Abhängigkeit von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank, die die Föderation in die separatistischen Kriege der 1990er Jahre beförderte. Zweitens ging die Arbeiterselbstverwaltung mit einer weitgehenden regionalen Autonomie einher, die seit den frühen 1970ern ethnisch begründet wurde: Einerseits wurde angeblich ethnisch homogenen Bevölkerungsgruppen die politische Selbstverwaltung zugesagt, andererseits wurden die unterschiedlichen ökonomischen Gewinne innerhalb der Föderation umverteilt – etwa vom reichen Slowenien in das verarmte Kosovo. Diese parallelen Prozesse führten, geschürt durch Medien und Politik, zu einem ethnisierten „Sozialneid“, auf den in den 1980er Jahren eine nationalistische Strategie gegen die aufkommenden Arbeiterunruhen aufbauen konnte.Momentan am erfolgreichsten im Sinne des gesetzten Ziels ist unzweifelhaft das Projekt der ZapatistInnen in Chiapas/Mexiko. Selbst wenn man problematische Aspekte sieht, ist festzuhalten, dass hier auf einer Fläche etwa der Größe Bayerns seit über eineinhalb Jahrzehnten eine politische und wirtschaftliche Selbstverwaltung ohne die Beteiligung des Staates leidlich funktioniert – und das interessanterweise von den „Subjekten“, von denen der orthodoxe Marxismus immer bezweifelt hat, dass sie dies könnten: Kleinbauern und –bäuerinnen vor dem Einsetzen kapitalistischer Entwicklung. Ähnlich, wie für Bakunin und Kropotkin der russische Mir und das Artel als Keimzelle einer revolutionären Entwicklung zur Selbstverwaltung eine wichtige Rolle spielten, so war und ist dies für die ZapatistInnen das Ejido, die seit dem frühen Kolonialismus traditionelle Form des Gemeindelandes, das gemeinsam und individuell bewirtschaftet werden kann. Die geplante Abschaffung des entsprechenden Artikels 27 aus der Verfassung Mexikos im Zuge des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) war eines der Motive für den Beginn des Aufstands der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN.

Aber nicht nur im Ostblock oder in revolutionären Großprojekten blieben die Ideen von Genossenschaften und Selbstverwaltung erhalten: Obwohl zunehmend verwässert, waren auch die Gewerkschaften des DGB hier noch lange aktiv. Endgültig verabschiedete sich der DGB aus der Gemeinwirtschaft in den 1980ern. Nach vorangegangenen Skandalen verkaufte er 1986 die Wohnungsgenossenschaft „Neue Heimat“ für einen Euro, 1988 wurde die co op AG endgültig zerschlagen. „Jahrzehnte wird es dauern, bis dieser Ansehensverlust der Idee von Gemeinwirtschaft wettgemacht ist und vielleicht ganz andere Formen gemeinwirtschaftlichen Denkens und Handelns wieder soziale Geltung gewinnen“ kommentierte damals der Sozialphilosoph Oskar Negt.14

Einiges spricht dafür, dass diese Zeiten nun gekommen sind: „Solidarische Ökonomie“ wird wieder Thema der Wissenschaften, 2010 wurde ein gleichnamiges Netzwerk gegründet. Insbesondere im englischsprachigen Bereich wurde der Ansatz des „Participatory Economics“ (Parecon) viel diskutiert (vgl. DA 188: S. 12-13). Nach der Insolvenz des Schlecker-Konzerns überlegen vor allem in Stuttgart Teile der Belegschaft, die Drogerie-Kette als Genossenschaft weiter zu führen (Neues Deutschland, 13.02.2012). In der Debatte finden wir die Widersprüche wieder, die immer diskutiert wurden: Der Linkspartei-Landtagsabgeordnete Michael Schlecht betont die Selbstorganisation der Schlecker-VerkäuferInnen, der Arbeitsrechtler Benedikt Hopmann sieht den Staat in finanzieller Verantwortung und die ver.di-Hauptverwaltung lehnt die Idee rundweg ab, da die VerkäuferInnen selber investieren müssten: Das könne nicht Ziel von Gewerkschaftsarbeit sein.

DGB contra Soziale Bewegung?

Während der orthodoxe Flügel der Arbeiterbewegung in Gestalt von DGB und SPD sich mit der Wirtschaftskrise der 1970er und dem Aufkommen neoliberaler Denkmuster immer weiter von Ideen der Selbstverwaltung entfernte, wurde das Konzept in den Neuen Sozialen Bewegungen aufgenommen.

Mitte der 1980er Jahre gab es in Deutschland 4.000 Alternativprojekte, in denen 24.000 Menschen arbeiteten.15 Allein das anarchistisch orientierte Projekt WESPE (Werk Selbstverwalteter Projekte und Einrichtungen) in Neustadt an der Weinstrasse bestand aus 14 Einzelbetrieben. Ein weiteres bis heute bestehendes „Leuchtturmprojekt“ ist die Kommune Niederkaufungen.

Diese neuen Projekte der Selbstverwaltung basierten u.a. auf der Neulektüre der rätetheoretischen Klassiker nach 1968. Auch wenn der Einfluss nicht immer benannt wurde, ist in vielen dieser Projekte noch am ehesten die Landauersche Variante des Genossenschaftsgedankens wiedergekehrt, als Idee „autonome[r] Inseln in der kapitalistischen Welt“.16 Ein wesentlicher Aspekt war jedoch auch die kapitalistische Krise seit 1973 und die zunehmende Unzufriedenheit mit Fremdbestimmung, Hierarchie und patriarchaler Struktur des Arbeitsalltags. Als Hauptmotive nennt Gisela Notz den Wunsch nach Einheit von Arbeit und Privatleben, fehlende Berufsperspektiven (vor allem von AkademikerInnen), das Scheitern der linken Betriebsinterventionen der 1970er Jahre, die Aspekte Ökologie und Feminismus sowie eine Kritik an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen.17 Alternative Ökonomie wurde auch deswegen eine recht erfolgreiche Idee, weil die DGB- Gewerkschaften keine Antworten auf diese Fragen hatten, sich im Gegenteil in der Verteidigung der Arbeitsplätze von Stammbelegschaften in der Praxis oftmals gegen die neue ökologische Bewegung (Arbeitsplätze im Kohlebergbau und in der Atomenergie) und gegen die Friedensbewegung (Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie) stellten.

Die untergehende DGB-Gemeinwirtschaft und die in den 1970ern und 1980ern relativ aufblühende alternative Gemeinwirtschaft klafften aber auch in einem wirtschaftstheoretischen Aspekt auseinander: Genau wie noch heute beharrten die Ökonomen aus den Reihen des DGB im Gegensatz zu den Neuen Sozialen Bewegungen auf einem keynesianischen Konzept, einer letztlich im Kapitalismus stehenbleibenden Mischung aus demokratischem Plan und chaotischem Markt, wobei letzterer zu regulieren sei. Demokratie und Kapitalismus waren hier grundsätzlich vereinbar und der Staat wurde als klassenneutraler Regulator betrachtet.18 Der wesentliche Unterschied der gewerkschaftlichen Wirtschaftsdemokratie- und Mitbestimmungskonzepte seit Fritz Naphtali im Gegensatz zu den anarchistischen, syndikalistischen und rätekommunistischen Konzepten besteht bis heute darin, das sie „die Lohnabhängigen […] nicht als selbsttätige Subjekte, die bewusst aktiv eingreifen […] wollen“ betrachten.19

Dennoch hatten beide Konzepte eine Kehrseite, die dem neuen, neoliberalen Akkumulationsregime durchaus auch in die Hände spielten: Wirtschaftsdemokratie, so Zeller, verkam zu einer Worthülse, Mitbestimmung „trägt zur politischen Integration auf betrieblicher und Unternehmensebene sowie gesellschaftlicher Ebene bei. Zugleich sichert die Mitbestimmung den sozialen Frieden und ordnet die Beschäftigten den Unternehmenszielen unter“.20 Die Gründung selbstverwalteter Betriebe als „kleiner geiler Firmen“ (Arndt Neumann) andererseits spielte als Selbstaktivierung und Flexibilisierung dem Neoliberalismus in die Hände: Die selbstverwalteten Betriebe sind oft genug dazu gezwungen, in Abhängigkeit von Großunternehmen kapitalistisch zu agieren und sie waren oft bereit, zu Bedingungen zu produzieren, die die traditionellen ArbeiterInnen ablehnten.

Das Richtige im Falschen?

Das Beispiel Jugoslawien zeigt einige Aspekte, die bei einer Umsetzung von Selbstverwaltung zu bedenken wären: Regionale Selbstverwaltung und globaler Markt stehen sich tendenziell feindlich gegenüber. Eine Selbstverwaltung im großen Maßstab muss den Versuch unternehmen, sich auszuweiten. Dafür ist offenbar eine dezidierte Planung notwendig – die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung scheiterte auch wegen der Finanzierung teilweise absurdester Projekte. Die Gegensätzlichkeit von globaler Solidarität und einem regionalen Gruppenegoismus muss auch weiterhin als ungelöstes Problem gelten, auf das schon Bakunin in seiner Föderalismuskonzeption und die Rätetheoretiker der 1920er Jahre aufmerksam machten. Eine reine Arbeiterselbstverwaltung, so war ihnen bewusst, überwinde noch nicht den Widerspruch zwischen den ArbeiterInnen im selbstverwalteten Betrieb und anderen ArbeiterInnen in ihrer Rolle als KonsumentInnen. Selbstverwaltung in größerem Rahmen setzt eine planvolle Koordination der einzelnen Betriebe und Branchen auf überregionaler – heute vor allem transnationaler – Ebene voraus: Eine Planwirtschaft also, allerdings keine zentralisierte, aus Institutionen diktierte – das wäre (und war) die Wiedereinführung des Widerspruchs von Wirtschaft und Politik – sondern eine föderale und demokratische, variable Planung. Klar ist, dass diese fehleranfällig bleibt und ständig korrigiert werden muss, die Planung trägt also einen dynamischen Charakter und ist nicht in Mehrjahresplänen á la DDR oder UdSSR vorstellbar.

Eine heutige Selbstverwaltungstendenz muss ferner die Aufsplitterung der heutigen Klassengesellschaft in Rechnung ziehen, d.h. „die Gruppen der Freiberuflichen, Selbstständigen, Kleingewerbetreibenden, Bauern, Arbeitslosen, […] diejenigen, die die Hausarbeit leisten, […] die Rentner, die Pflegebedürftigen, die Kindern und Jugendlichen“ berücksichtigen.21 So wie die Sozialisierungsdebatte der RätekommunistInnen und AnarchosyndikalistInnen in den 1920er Jahren eine undogmatische Öffnung des Klassenbegriffs nötig machte, die in der Spanischen Revolution tendenziell zur Geltung kam, so ist heute angesichts der neoliberalen Neuformierung der Klassengesellschaft eine ähnliche Öffnung notwendig.

Aktuelle Probleme selbstverwalteter Betriebe sind momentan aber oft alltäglichere: Machtungleichgewichte und informelle Hierarchien in der internen Struktur, das Ungleichgewicht zwischen privat investiertem Eigenkapital und dem Anspruch, dieses als Kollektiveigentum zu verstehen und nicht zuletzt schlicht der Kampf ums ökonomische Überleben in einer marktwirtschaftlichen Umgebung. Die meisten Alternativbetriebe arbeiten in Produktnischen (Subkultur, fairer Handel, alternative Druckerzeugnisse von der Broschüre bis zum T-Shirt). Damit können sie sich – oft mehr schlecht als recht – halten, aber kaum expandieren, da der Kreis der KonsumentInnen überschaubar bleibt im Rahmen derjenigen, die die angebotenen Produkte oder die Produktionsweise für politisch richtig halten, sei es weil entsprechende Inhalte verkauft werden, sei es, weil diese Produkte „fair“ sind. Die Erfolgsgeschichte der Konsumgenossenschaften schrieb sich ganz anders: Zum einen konnten hier Produkte für die Mitglieder vergünstigt abgegeben werden (wie es in Food-Coops der Fall ist), zum anderen überzeugte auch die Qualität, die den kapitalistischen Unternehmen nicht zugetraut wurde – so ist etwa der Erfolg der Konsumgenossenschaften auch auf den Hamburger Skandal, der zum Sülzeaufstand führte (vgl. DA 208: S. 8) zurückzuführen. Das Strike Bike aus Nordhausen dagegen scheiterte in dem Moment, als alle (finanzkräftigen) solidarischen Menschen ihr Fahrrad hatten, daran, auf einem globalen Markt nicht konkurrenzfähig zu sein. Immerhin wurde hier aber – ganz im Sinne Landauers – die Selbstverwaltung schon mal ausprobiert und – ganz im anarchosyndikalistischen Sinne – Hartz IV durch eine direkte Aktion zumindest hinausgezögert. Zapatistischen Kaffee kann man aus Solidarität mit der EZLN trinken, man kann ihn aber auch bevorzugen, weil er geschmacklich der bessere Kaffee ist.

Anmerkungen

[1] Rocker, Rudolf 1925: Der Kampf ums tägliche Brot. Berlin. S.15 f.

[2] Eisenberg, Christiane 1985: Frühe Arbeiterbewegung und Genossenschaften. Bonn. S. 36-39.

[3] Landauer, Gustav 1895: Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse. Berlin. S. 10-15.

[4] Hoffrogge, Ralf 2011: Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914. Stuttgart. S. 140.

[5] Korsch, Karl 1969: Schriften zur Sozialisierung. Frankfurt a.M. S. 55.

[6] Rübner, Hartmut 1994: Freiheit und Brot. Berlin/Köln. S. 178.

[7] Der Syndikalist 1921, zit. n. Rübner 1994, S. 179.

[8] Rübner 1994, S. 183

[9] Korsch 1969, S. 119.

[10] Korsch 1969, S. 121.

[11] Naphtali, Fritz 1966: Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel. Frankfurt a.M.

[12] Rocker, Rudolf 1927: Die Rationalisierung der Wirtschaft und die Arbeiterklasse. Berlin.

[13] Kanzleiter, Boris 2011: Die „rote Universität“. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964 – 1975. Hamburg.

[14] Negt, Oskar 1989: Die Herausforderung der Gewerkschaften. Frankfurt a.M./New York. S. 125.

[15] Neumann, Arndt 2008: Kleine geile Firmen. Hamburg. S. 7.

[16] Notz, Gisela 2011: Selbstverwaltung und Alternativbewegung der 1960er und 1970er Jahre. S. 144. In: Kinner, Klaus (Hg.) 2011: Linke zwischen den Orthodoxien. Berlin. S. 144-158.

[17] Notz 2011, S. 149.

[18] Zeller, Christian 2010: Wirtschaftsdemokratie und gesellschaftliche Aneignung. S. 14. In: SoZ 2/2010. S. 12-24.

[19] Zeller 2010, S. 15.

[20] Zeller 2010, S. 15.

[21] Demirovic, Alex 2009: Rätedemokratie oder das Ende der Politik. S. 24. In: ProKla 155/2009. S. 2- 28.

 

Torsten Bewernitz and Redaktion

Die Redaktion der Direkten Aktion.

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