Zur Wirkung gewaltförmiger Auseinandersetzungen auf libertäre Kultur- und Gewerkschaftsarbeit. Eine Rückblende aus Anlass der M31-Demonstration
Anmerkungen der Redaktion „Zeitlupe“ zu diesem Artikel:
Diese Ausgabe der DA ist der Suche nach neuen gewerkschaftlichen
Strategien gewidmet. Eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft muss sich
heute immer wieder die Frage stellen, wie sie für möglichst viele
Menschen eine attraktive und wirkungsvolle Organisation werden kann. Die
„Reinheit der Lehre” ist ohne lebendige Praxis bestenfalls nur eine
Ideologie ohne Grundlage. Darüber hinaus gilt es, sich von falschen
Taktiken und Denkweisen freizumachen, die einen in gesellschaftlicher
Marginalität verharren lassen. Die spanische CNT hat in den letzten
Jahren große Fortschritte in diese Richtung gemacht. Dass eine solche
Arbeit aber nur unter gewissen Vorzeichen Erfolg haben kann und aus
vermeintlich kleinen Ereignissen schwere Rückschläge erwachsen können –
darum geht es im Zeitlupe-Artikel dieser Ausgabe. Wenn es dem Staat
gelingt, eine soziale Bewegung auf sein eigenes Spezialgebiet (die
Gewalt) zu reduzieren, dann wird die Bewegung selber in destruktives
Fahrwasser geraten. Der Artikel beleuchtet dies beispielhaft am Caso
Scala von 1978, einem Ereignis, dem bald darauf die Spaltung der gerade
wiedererstarkten CNT folgte. Sicher war der Niedergang der CNT nicht
alleine auf den vom spanischen Staat inszenierten Brandanschlag auf das
Theater Scala zurückzuführen, doch dessen katalysatorische Wirkung war
verheerend und warf die CNT in ihrer Entwicklung weit zurück.
Am vergangenen 29. März – kurz einfach nur M29 – ereignete sich um die Mittagszeit in Barcelona ein visuell beeindruckendes und nicht vorhergesehenes Spektakel. Ein Protestmarsch anarchosyndikalistischer Streikposten entwickelte sich zur bedeutendsten libertären Demonstration der Halbinsel. Schon dies wäre ein Meilenstein gewesen und etwas, auf dem aufgebaut hätte werden können, wenn es nicht am Abend in einer Parallelstraße auch eine Demonstration von CGT und CNT gegen die Arbeitsmarktreform gegeben hätte – und zwar dreimal so groß wie die spontane am Morgen.
Auf dieser kolossalen libertären Demonstration waren nicht bloß die Verfechter einer die letzten vier Jahrzehnte durch die Wüste streifenden, sich dabei hauptsächlich im Kreis drehenden Weltanschauung zu sehen, sondern deutlich auch neue und große Gruppen von Männern, Frauen, Pärchen mit Kindern, Studierenden, Beschäftigten oder Knutschenden mit Freude am Verkünden des Frühlings. Endlich waren wir eine neuartige und auffällige Gruppe, voller Freude sich kennenzulernen, und zusammen nahmen wir ein Gesicht der Zuversicht und des Willens an. Diese plötzliche Explosion ist nur schwer zu erklären. Zunächst einmal haben die Ereignisse viel mit der anarchosyndikalistischen Arbeit der zurückliegenden schweren Jahre zu tun, in denen sich auf einen ehrlichen, offenen, aber standfesten Syndikalismus konzentriert wurde. Nun können diese großen Ansammlungen sogar ein Indikator dafür sein, dass die libertäre Kultur aus ihrer eigenen Asche wiederauferstanden ist.
Das letzte Mal erlebte die spanische libertäre Bewegung etwas Ähnliches in den 1970er Jahren. Während die Parteien und andere noch viel wichtigere Kräfte an der Transición [dem bruchlosen Übergang zur Demokratie, Anm. d.Ü.] herumbastelten, begann die wiedergeborene libertäre Bewegung das zu tun, was getan werden musste. Und das bedeutete, sich eine attraktive und effektive Form zu geben, mit der es möglich wäre, in der Gesellschaft zu wirken. Das war die Aufgabe jener Tage. Die CNT musste eine Lösung für den Konflikt zwischen den meist sehr dogmatischen zurückkehrenden Exilanten und den mehr in Kontakt mit der Realität stehenden Mitgliedern vor Ort finden – ein Konflikt, der praktisch seit 1939 andauerte. Ebenso musste sich mit den zurückliegenden Dekaden auseinandergesetzt werden, in denen sich die libertäre Kultur in verschiedene Richtungen jenseits des Anarchosyndikalismus entwickelt hatte. Wie stand man einer libertären Bewegung gegenüber, deren Fundament möglicherweise außerhalb der Gewerkschaftsarbeit lag? Diesen drängenden Fragen wurde sich angenommen. Die erste Versammlung der CNT innerhalb der spanischen Staatsgrenzen – im Juli 1977 in Montjuïc, Barcelona – war das größte politische Wiedersehen der Geschichte und bedeutete für die libertäre Kultur mehr als nur eine Anekdote, sondern ein unleugbares gesellschaftliches Interesse.
Die Jornadas Llibertàries im Parc Güell im Juli 1977, die nicht von der CNT, sondern von der l’Assemblea de Treballadors de l’Espectacle [katalanische Postsituationisten, Anm. d.Ü.] organisiert wurden – neuartig, zeitgenössisch und ihrem Wesen nach viel gleichberechtigter – waren das erste deutliche Gegengewicht zur hierarchischen Kultur der Transición; es taten sich gänzlich neue kulturelle Möglichkeiten wider der hegemonialen Kultur auf. Hier vollzog sich ein Aktualisierungsvorgang der iberischen libertären Tradition, endlich hielten die großen Errungenschaften des europäischen Anarchismus Einzug – wir reden hier von so unverhofften Nachzüglern wie der Ökologiebewegung, dem Feminismus, sexueller Freiheit und der persönlichen Entfaltung.
Die Soli [Solidaridad Obrera], das wöchentlich erscheinende Organ der katalanischen CNT erlangte auf ihre Weise Reputation. Mit viel Kraft und Streitlust gegenüber den Älteren trat eine neue Generation von JournalistInnen und mit ihnen ein neuer Journalismus in die Redaktion ein und wandte ganz neue Sichtweisen und Erklärungsmuster auf die Realität an. Es bestand damals tatsächlich die Möglichkeit, dass aus der ältesten und legendärsten anarchistischen Zeitung der Welt, zu diesem Zeitpunkt eine Wochenzeitung, eine Tageszeitung würde, die mit den großen Tageszeitungen hätte konkurrieren können. Ja, die libertäre Bewegung vollbrachte in wenigen Monaten erstaunliches, erhielt Aufmerksamkeit, konnte mit erhobenem Haupt Vorschläge machen. Aber auch diesmal geschah, was geschehen musste. Als 1977 los Pactos de la Moncloa unterschrieben wurden, die erste Vereinbarung zwischen dem Franquismus und den Parteien, als sich die Parteien ihres einzigen Erbes entledigten – der Möglichkeit, die Bevölkerung zu mobilisieren – ging die CNT als einzige Gewerkschaft in Opposition. Um die CNT herum versammelten sich diejenigen Teile der Bevölkerung, welche mit dieser Skizze der Transición unzufrieden waren. Genau in diesem Moment, während einer Massendemonstration gegen die Pactos in Barcelona [am 15. Januar 1978, Anm. d. Red.], wirft irgendjemand irgendetwas gegen die Tür der Sala Scala. Der Festsaal brennt mit unglaublicher Schnelligkeit ab. Im Inneren sterben vier Arbeiter, von denen, so die makabre Ironie der Geschichte, zwei Mitglieder der CNT sind. Die Polizei sieht bei dem Attentat Mitglieder der FAI und der CNT am Werke. In Kürze sehen sich die CNT und die gesamte libertäre Bewegung ernsthaften Schlägen ausgesetzt, dem ihr zerbrechlicher Zustand nicht standhalten kann. Als herauskommt, dass das Attentat auf die Sala Scala das Werk eines eingeschleusten Polizisten ist – mit einer ansehnlichen und öffentlichen Karriere vor und nach seinen Taten – ist es schon zu spät. Die libertäre Bewegung existiert nicht mehr, sie ist verschwunden, ihrer Würde beraubt und zersplittert. Sie ging an dem Druck einer Gesellschaft zu Grunde, die keine Gewalt wollte, an dem Druck einiger Medien, die auf die Stabilität mehr setzten als auf die Übermittlung von Fakten, und an einem Staat, der sich voll und ganz der Vernichtung einer beginnenden, vielversprechenden Bewegung verschrieben hatte.
Immer wieder taucht innerhalb der libertären Strömungen die Gewalt dann auf, wenn aus ihr Bewegungen entstehen, die einen bestimmten Punkt der Stärke erreichen. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts verschwand die Bewegung in Frankreich und Deutschland aufgrund von anarchistischen Bomben- und anderen Attentaten, die nicht immer wirklich von Anarchisten begangen wurden. In Barcelona explodierten die anarchistischen Bomben, gelegt von einer kleinen Fraktion, die sich für diesen Weg entschied, zeitgleich mit strategischer platzierten und medial weitaus mehr beachteten Bomben, deren Urheber keine Anarchisten waren. Als um 1909 die libertäre pädagogische und intellektuelle Bewegung immer größer wurde, wurde sie enthauptet [gemeint ist die Hinrichtung Francisco Ferrers, Anm. d.Ü.] und verboten, und damit eine ungemein gewalttätige Epoche eingeleitet. Mit den Ereignissen um die Sala Scala, diesem erneuten staatlichen Gewaltakt, endete auch das goldene Zeitalter des Anarchismus. Und plötzlich – wieder dieses so erhoffte, so lange erwartete Gefühl. Wir hatten die Wiedergeburt eines modernen, lebendigen Anarchismus erwartet, der sich in seiner Offenheit entwickeln würde, eine neue Wirklichkeit schaffend, wahrnehmbar mit einem bloßen Herauslehnen aus dem Fenster.
Nun gut. All dies spielte in jene große Demonstration des 29. März hinein, die so unerwartet eine mögliche Wiedergeburt der libertären Tradition zu ermöglichen schien – einschließlich des Aspekts der Gewalt. Einige Müllcontainer gingen in ihrem Verlauf in Flammen auf, und ein paar Bürogebäude, einige davon Banken, wurden beschädigt. Eine vergleichsweise kleine Gruppe von Leuten ohne allzu großen Kontakt zur Demonstration und ohne jeglichen Kontakt zu dem, was in ihr passierte, begann mit dem genauen Gegenteil der Demonstration. Waren das Polizisten? Waren das welche von uns? War das genau der Teil von uns, der regelmäßig, wenn die Zeit reif ist, zum Staat überläuft? Die Aktionen dieser Leute bewirkten jedenfalls, dass so manche DemonstrationsteilnehmerInnen mit Kindern die Demonstration verließen (lohnt sich eine Demonstration überhaupt, auf der keine Kinder mitlaufen können?) – und mündeten somit nicht nur darin, dass das Ende des Marsches uninspiriert und desillusioniert verlief, sondern auch in unmittelbarer Polizeigewalt, die schließlich auch die Strecke der anschließenden Demonstration beeinträchtigte. So Vieles folgte aus so Wenigem: etwa, dass seit Tagen über nichts anderes als über die Gewalt auf der Demonstration gesprochen wird, und nicht über das, wofür sie eigentlich stand; es folgte die Kriminalisierung einer libertären Gewerkschaft durch diverse Autoritäten; es folgte die Konstruktion einer Bande geeigneter Schuldiger, bestehend aus drei von der Polizei ausgewählten Personen, die seit diesem Tag im Gefängnis sitzen – was wie eine Einladung zur Wiederholung solcher Ereignisse gesehen werden kann.
Wenn es wahr ist, dass wir ZeugInnen unserer eigenen Wiedergeburt werden, dann müssen wir uns dieser voll und ganz widmen. Wir müssen uns auf uns selbst besinnen. Das Unsrige, das ist die Freiheit 5.0, die Gleichheit 5.0, die Brüderlichkeit 5.0, die Gleichheit der Geschlechter, die gegenseitige Hilfe, die Kooperation, der freiwillige Zusammenschluss, der freiheitliche Sozialismus – ohne Diktaturen des Proletariats, und auch ohne vom Proletariat entzündete Müllcontainer. Das Unsrige ist die Schaffung eines neuartigen Konsums, einer ganz anderen, neuen Effizienz, neuer Trägerschaften, einer demokratischen Ökonomie, die Erweiterung der Grenzen des Möglichen, die Ermöglichung neuer interessanter und leidenschaftlicher Diskurse. Das Unsrige ist die Fortführung jener Erneuerung, die in den 70ern begann, die Ausformulierung eines dauerhaften, alltäglichen Anarchismus, der neue Formen des Zusammenseins, der Übereinkunft und der Veränderung begünstigt.
Natürlich wissen wir, dass Gewalt mehr umfasst als nur jene unmittelbaren Formen. Gewalt ist auch Ausbeutung, soziale Ungleichheit, Zwangsräumungen, Prekarisierung, die Einschränkung von Rechten. Wir zeigen der Gesellschaft ihre Gewalt auf und lassen nicht zu, dass sie uns in eine andere verwickelt. Wir zeigen auf, dass die Gewalt auf der Straße – jene aufsehenerregende Gewalt, die es so leicht in die Medien schafft – vermummt ausgeführt wird, ja tatsächlich, aber auch besoldet, mit Helmen, Gummiknüppeln und einem Dienstabzeichen am Hemdsärmel. Wir zeigen das gesamte Feld der Gewalt auf. Wir zeigen schließlich auf, dass das Unsrige nicht nur nicht in dem Verbrennen von Dingen besteht, sondern dass wir selbst mit angefackelt wurden, wenn etwas in unserem Namen oder unserer Sache in Brand gesetzt wird, weshalb wir Gewalt, die sich in unserer Nähe entwickelt, vermeiden.
Einige Wochen vor den gewalttätigen Ereignissen, die unsere Tradition in den 1970ern zum Scheitern verdammten, sagte der Innenminister: „Mich beunruhigen eher die Anarchisten in Barcelona als die ETA“. Ein Satz, der Bände spricht über die Unkonformität der libertären Bewegung, als sie noch nicht tiefer in die Spirale der Gewalt gerutscht war. Das Unsrige ist nicht die Gewalt. Sie kann es nicht sein – wir sind nicht gerade die besten in dieser Materie – aber es darf auch nicht dem Anschein nach so sein. Überlassen wir die Gewalt den Profis. Soll der Staat in diesem Sinne der Beste in dieser Disziplin sein. So wie er es jeden Tag unter Beweis stellt, und immer wieder pünktlich zum Ende all der goldenen Zeitalter [unserer Bewegung]. Wir messen uns nicht einen Augenblick lang mit dem Staat in dieser Liga. So einfach bekommen sie uns nicht. So einfach bekommt uns niemand.
Dieser Artikel ist eine übersetzte und stellenweise stark gekürzte Fassung des Originaltextes „Contra nosotros“ von Guillem Martínez, erschienen auf der Website der spanischen libertären Wochenzeitung Diagonal am 9. April 2012.
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