6:39 Uhr – um diese Zeit steigen im Schnitt die Menschen in Sachsen-Anhalt aus den Federn, weit früher als der Durchschnitt in anderen Bundesländern. Der sachsen-anhaltinischen CDU erschien dieser Rekord als Ausdruck von Fleiß und Zuverlässigkeit, weshalb die Landesregierung für 2,5 Millionen Euro die Kampagne „Im Land der Frühaufsteher: Sachsen-Anhalt. Wir stehen früher auf“ lancierte. Ob das so gezeichnete Bild notorischer Ungemütlichkeit tatsächlich Sympathien erwecken kann, ist genauso fraglich wie die Interpretation des Bundesrekordes durch die Landes-CDU – ist doch anzunehmen, dass für das Umfrageergebnis anstatt angeblicher Tugenden eher die in der „strukturschwachen Region“ weitverbreitete Notlage ursächlich war, jeden noch so prekären Job in jeglicher Entfernung zum eigenen Wohnsitz annehmen zu müssen.
Eine Reise ans Ende der Bewegungsfreiheit
Das Land der Frühaufsteher hat aber noch einen ganz anderen Ruf. Das Land Sachsen-Anhalt gilt in Flüchtlingsfragen als restriktiv, auch wenn es damit sicherlich nicht alleine dasteht: Paula Bulling, Autorin und Comic-Zeichnerin, beschäftigt sich in ihrer Graphic Novel, welche den inhaltslosen Slogan der Landeskampagne als Titel führt, mit der Lebensrealität in sachsen-anhaltinischen Flüchtlingsunterkünften wie Harbke, Bernburg oder Möhlau; gleichzeitig aber beschäftigt sie sich und die Lesenden mit sich selbst und dem eigenen Blick. Der Plot der Graphic Novel ist der ihrer eigenen Entstehung und fokalisiert werden nicht einzelne Fluchtgeschichten, sondern die Künstlerin. Die Anfangsszene in einem Hallenser Afro-Shop verdeutlicht dies sowohl semantisch wie auch visuell: Es ist die Künstlerin, die Fragen der dortigen Stammgäste beantworten muss, und sie ist es, die den dortigen Blicken ausgesetzt ist, anstatt umgekehrt. Durch Gleichzeitigkeit wie auch Zeit- und Ortswechsel wird jedoch deutlich, dass die Figur der Künstlerin ebenfalls nur als Teil der Gesamtbetrachtung fungiert, es also nicht „ihre“ Geschichte ist. So begleitet der Blick der Lesenden sie zu den entlegenen Orten deutscher Asylpolitik, zu ehemaligen NVA-Kasernen am Rande trister Ortschaften, zu „Heimen“, e
ine Bezeichnung, die sich angesichts von Stacheldraht, Aufsichtsbeamten und Tristesse unwillkürlich in „Lager“ verwandelt – welches ist das richtige Wort für einen „… Knast, der seinen Namen nicht sagt“? Aziz, Bewohner der Flüchtlingsunterkunft in Halberstadt, findet diese Worte, nachdem die Figur Paula die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (amtliche Bezeichnung, kurz Zast) als „bedrückend“ beschrieben hat. Die reale Künstlerin Paula Bulling hat eine solche Stimmung in eindrucksvollen Zeichnungen festgehalten: Das Grau des Asphalts und des Betons, die Krankenhausatmosphäre der Zimmer, die bedrohlichen Schatten der Gebäude und die Umrisse der Zäune und Schranken. Die Orte wechseln oft und doch sind es meist dieselben – ein „Transfer“ von einer Unterbringung zur nächsten bringt den Bewohnerinnen und Bewohnern weder einen neuen Anstrich noch eine neue Perspektive. Das Motiv der Bewegung ist ein gewichtiges der Graphic Novel Im Land der Frühaufsteher – die vielen Ortswechsel folgen nicht einer chronologisch-linearen Erzählung, sondern werden von punktuellen Schilderungen und Darstellungen kontrastiert. Hierdurch wirkt das Unbewegliche der Situation der Menschen, die Jahre bis Jahrzehnte auf die Entscheidung der Ämter über ihr Asylgesuch warten müssen, beinahe plastisch, nahezu greifbar. Die Bedingungen der Residenzpflicht, des Verbots den Bezirk oder Landkreis der Unterbringung ohne amtliche Erlaubnis zu verlassen, werden explizit thematisiert und fügen der Trostlosigkeit des langen Wartens eine neue Qualität bei. Flüchtlinge mit ungeklärtem Asylstatus stehen de facto außerhalb einer ganzen Reihe internationaler Menschenrechte – ohne Bewegungsfreiheit, ohne ein menschenwürdiges Einkommen, ohne das Recht auf weitestgehende Selbstbestimmung.
„Wer nicht ‚weiß‘ ist, wird beschrieben, aber spricht nicht selber“
Offensiv geht Im Land der Frühaufsteher mit der Widersprüchlichkeit der Ansprüche an ein solches Werk um. Da es auch um das persönliche Moment der Auseinandersetzung mit der Thematik geht, kann die Subjektivität der Künstlerin Paula Bulling nicht ausgeklammert werden. Ihr Blick ist somit zwangsweise der Blick der Betroffenheit und der Solidarität – mithin ein Blick auf „Fremdes“. Die Repräsentation von Flüchtlingsschicksalen von Seiten einer deutschen Staatsbürgerin für andere deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger birgt das Problem in sich, dass Flüchtlinge weiterhin lediglich als Opfer, kaum aber als Subjekte auftreten können. Am Rande einer Demonstration gegen die Residenzpflicht in Merseburg diskutieren „Paula“ und ein ehemaliger Mitbewohner solche Gedanken der Critical Whiteness und schenken der Demonstration selbst kaum Beachtung, während ein Flüchtling über ein Megaphon Bewegungsfreiheit einfordert und institutionellen Rassismus anprangert – die Symbolik dieser Situation hat Paula Bulling hervorragend in Szene gesetzt. Auch wenn sie einen solchen Widerspruch selbst nicht auflösen kann, so ist ihre Graphic Novel doch auch deutlich davon geprägt, „Weiß-“ bzw. „Deutsch-“ Sein ebenso zu thematisieren wie eine Existenz als Flüchtling. Im Übrigen stammen die Stimmen der Bewohnerinnen und Bewohner der Halbersterstädter Zast von Paula Bullings Kooperationspartner Noel Kaboré, um die Adaption der deutschen Sprache durch die Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten nicht unbewusst aus einer kulturalistischen Perspektive wiederzugeben.
von Paula Bullling
ISBN 978-3-939080-68-8,
120 Seiten, Softcover.
17,95 Euro. Erscheint im Juni 2012 im avant-verlag:
www.avant-verlag.de