‚Occupy‘ will gesichtslos bleiben – die Medien suchen sich ein Gesicht
Seltsam: Mit dem Aufkommen von „Occupy Wall Street“ beschäftigen sich FAZ und Spiegel mit Anarchismus, Verlage teils konservativer Provenienz (campus, Klett, Pantheon – letzterer gehört zu Bertelsmann!) publizieren anarchistische Bücher und eben jener meist hofierte Anarchist, David Graeber, diskutiert nicht nur auf allen Fernsehkanälen mit unterschiedlichsten PolitikerInnen und ÖkonomInnen, sondern trifft sich mit der Spitze der deutschen Sozialdemokratie.
David Graeber ist nicht nur Anthropologe und hat mit Schulden. Die ersten 5000 Jahre ein akademisches Werk vorgelegt, das den Zeitgeist trifft, sondern auch Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW) und beim „Direct Action Network“ (DAN) aktiv, das sich rund um die Proteste gegen den Gipfel der Welthandelsorganisation 1999 formierte.
Es ist insgesamt nur begrüßenswert, dass auch in den Mainstream-Medien momentan ein dezidiert anarchistisches Engagement in den Globalisierungs- und Krisenprotesten thematisiert wird, es ist ebenso erfreulich, das Graeber als jemand, der sich praktisch und theoretisch damit auseinandersetzt, angehört wird. Dennoch birgt dies einige Probleme, die ich im Folgenden kurz anreißen möchte.
Für Graeber ist die Occupy-Bewegung im weitesten Sinne, d.h. einschließlich der Revolten im arabischen Raum, der griechischen Krisenproteste und der Bewegung der Indignados die logische Fortsetzung der Antiglobalisierungsbewegung, wie sie sich in den 1990ern nach der Gründung der Welthandelsorganisation WTO formierte.
In Seattle, Genua, Prag, Göteborg und Heiligendamm protestierten im Wesentlichen Linke, die politische Vorbehalte gegen diese Projekte hatten. In Tunesien und Ägypten, Griechenland, Spanien und den USA handelt es sich heute um einen sozialen Protest der Betroffenen, an denen diese linken Strukturen meistens nur geringen Anteil haben: In Ägypten gingen dem Frühjahr 2011 Hungerkrise und entsprechende Proteste vorweg. Die Indignados aus Spanien rekrutieren sich hauptsächlich aus der zu über 40 Prozent erwerbslosen jungen und meist überqualifizierten Generation.
Um die vermeintliche Kontinuität zu unterstreichen, redet Graeber die Antiglobalisierungsproteste der 1990er Jahre letztlich schön: Die meisten Gipfeltreffen seien verhindert oder verzögert worden, die Verhandlungen auf WTO-Ebene stagnieren, der IWF sei durch die südamerikanischen Weigerungen, Schulden zurückzuzahlen, bis zur Griechenland-Krise in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Da ist durchaus was dran, allerdings: Dass die WTO-Verhandlungsrunden stagnieren, liegt nicht an den körperlichen Blockaden der GlobalisierungsgegnerInnen, sondern an der inhaltlichen Weigerung der Staaten des Südens – und gleiches gilt für den zwischenzeitlichen Machtschwund des IWF.
Graebers Motivation ist klar und auch erst mal durchaus lobenswert: Gegen den allgemeinen Pessimismus bemüht er sich um eine vergleichsweise optimistische Sicht und betont die Erfolge der Bewegung. Das endet allerdings in einer hoffnungslosen Überschätzung, die zu einer Stagnation ohne weitere notwendige strategische Debatten führt. Graeber benötigt diese Sichtweise letztlich, um seine Hauptthese zu belegen: Dass Occupy in direkter Tradition dieser Bewegung eine anarchistische Bewegung ist.
Liest man sich die zahlreichen Beiträge in den Mainstream-Medien durch, die Occupy zu einer neuen anarchistischen Bewegung erklären, wird man nach Veröffentlichung der drei aktuellen Bücher Graebers feststellen, dass die Medien fast ausnahmslos schlicht seine Thesen übernehmen. Auch das ist erst mal durchaus erfreulich. Und der Stil von Occupy ist in der Tat anarchistisch: Die Bemühungen um Formen von Basisdemokratie – wenn diese auch nicht so eindeutig sind, wie Graeber es gerne hätte; die Verweigerung der Repräsentation durch Parteien und Parlamente, die Weigerung, Forderungen an Regierungen aufzustellen, weil man sowieso nicht glaubt, dass diese darauf eingehen und deren Legitimität nicht anerkennt.
Ein Blick in FAZ oder Spiegel reicht aber auch, um festzustellen, dass diese anarchistischen Aspekte nur für einen Teil der Bewegung gelten. Das Misstrauen gegen Parteien und Parlamente ist leider auch ein Misstrauen gegen jede Art von Organisation, auch anarchistischen oder syndikalistischen. Forderungen dagegen werden an einigen Orten durchaus laut, und gerade in Deutschland gleichen die Parolen jenen von Linkspartei und attac, teilweise sogar jenen der SPD. Während Occupy Wall Street überwinterte, indem die AktivistInnen gemeinsam mit Obdachlosen Häuser besetzten, werfen die Frankfurter OkkupantInnen die obdachlosen UngarInnen vom Platz, weil diese nicht politisch seien und weil die Polizei es so wünscht. Occupy ist hier traurig nah an traditioneller, repräsentativer Politik: Während Frankfurter StudentInnen vor der EZB offenbar 99 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, tun obdachlose UngarInnen das angeblich nicht!
Hätte die Antiglobalisierungsbewegung tatsächlich die von Graeber konstatierten mittelfristigen Siege davongetragen, dann wäre der Gedanke, den Kapitalismus zu überwinden, vielleicht nicht so abwegig, wie ihn offenbar viele OkkupantInnen finden. Sozialismus, Kommunismus und ja, auch Anarchismus werden von den Occupy-AktivistInnen als Ideologien verpönt zurückgewiesen. Eine Alternative zum Kapitalismus scheint es nicht zu geben. Deshalb wird der ursprünglich radikale Impetus der Bewegung zu einem lauten Schrei nach Reformen und die Kapitalismuskritik bleibt eine Kritik der Banken.
Wenn Graeber diese Widersprüche verschweigt, fällt er letztlich hinter seinen eigenen anarchistischen Anspruch, der Akzeptanz der inhaltlichen Vielfalt, zurück. Er vereinnahmt Occupy für seine spezielle Vorstellung von Anarchismus. Dafür muss er etwas machen, was seinem eigenen Verständnis von Anarchismus ebenso zuwider läuft wie dem Selbstverständnis der Occupy-Bewegung: Er muss sich an deren Spitze stellen.
Möchte man eine Kontinuität in den sozialen Bewegungen der letzten zwei Jahrzehnte finden, so fällt direkt eine Parallele auf, die bislang kaum thematisiert wurde (obwohl sie auch für Graeber ein wichtiger Bezugspunkt ist): Die Entwicklung von der zapatistischen Pasamontaña (den Skimasken, die die AktivistInnen der EZLN in Südmexiko tragen) zur Guy Fawkes-Maske der Occupy-Bewegung. Die Aussage – wir sind viele, wir maskieren uns, weil ihr uns sonst nicht zuhört und wir sind alle gleich – ist identisch geblieben. Auch der Sprecher der EZLN, Subcomandante Marcos, setzt seine Maske nicht ab und bleibt einer von vielen – obwohl er ein gewählter Sprecher ist. David Graeber dagegen stößt unmaskiert von sich aus aus der Masse hervor und lässt keine Gelegenheit aus, seine Relevanz zu betonen – als Stichwortgeber der griechischen Revolte oder als Miterfinder der Parole „Wir sind die 99%“. „Obwohl die „Occupy Wall Street“-Bewegung sich bemüht, kein erkennbares Gesicht zu haben, so wurde David Graeber doch rasch zu ihrem führenden Kopf“, so der Klappentext zu „Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus“; in „Inside Occupy“ ist er „Initiator der Occupy-Bewegung“. Das ist die gelungenste linke Marketing-Kampagne des Jahrzehnts, die aus Graeber für Occupy das macht, was die von ihm wenig geschätzten Toni Negri und Michael Hardt (Empire) angeblich für die Antiglobalisierungsbewegung waren. Wie viele GlobalisierungskritikerInnen Empire gelesen haben, sei mal dahingestellt. Occupy-AktivistInnen posten ein Jahrzehnt später zwar im Minutentakt Interviews mit Graeber in den virtuellen Netzwerken – aber die radikale Kapitalismuskritik und Ablehnung des Staates, die der „Vordenker“ predigt, bleibt dennoch aus. Seltsam…
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