Jenseits ökonomistischer Krisendiskussionen und unzähliger Ideologiedebatten finden kritische Auseinandersetzungen über das Wesen der Dinge, die uns umgeben, über unseren alltäglichen Umgang mit ihnen und miteinander, kaum noch statt – ein wesentlicher Unterschied zu den historischen Zeiten der großen Bewegungen. Umso wertvoller erscheint die Erinnerung an Denk- und Sichtweisen vergangener Tage, nicht um die Gegenwart in sie hineinzuprojizieren, sondern um dabei zu helfen, die Sicht auf die gegenwärtige Krise zu einem komplementären Blick auf die Gesellschaft zu erweitern.
Robert Cohen, Professor für Germanistik an der New York University, schildert in seinem Roman Exil der frechen Frauen die verschiedenartigen Zugänge zu Kultur, um die zwischen den beiden Weltkriegen innerhalb der Linken gestritten und gekämpft wurde. Die Form des Romans nutzt er dabei, um bei den Lesenden Gedanken über dieses Medium selbst, über die Materie in ihren Händen, auszulösen. Hierbei referiert Cohen, der in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist, in den USA über Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstandes promovierte und dessen heutiger Lehr- und Forschungsschwerpunkt auf der Literatur der Weimarer Republik sowie marxistischer Literaturtheorie und –geschichte liegt, auf das reflexive Moment, wie es die nicht unbedingt marxistische Postmoderne zum Prinzip erhebt: „Der Leser soll durchaus im Sinne solch einer Reflexion verunsichert werden.“ Allerdings will Cohen diese Methode nicht als ein reines Spiel, wie in der postmodernen Programmatik, verstanden wissen: „Es geht ja auch immer um die Frage: Was ist eigentlich ein Roman und was habe ich hier eigentlich vor mir?“
Zu dieser Frage führt schon der Umstand, dass die Figuren des Romans tatsächlich gelebt haben – viele gehörten zu den Großen ihrer Zeit, wie Brecht, Lukács, Lévi-Strauss oder Anna Seghers – und die vielen Gespräche zwischen ihnen, die in dem Buch dargestellt werden, die Diskussionen ihrer Zeit ausführlich abbilden. Der Verweis auf die Quellen ist in dem Roman oft explizit und mehrmals gehen literarische Handlungsstränge mit der Bemerkung zu Ende, an dieser Stelle versiegten die Quellen. Auf diese Weise werden die Lesenden aus der Versenkung in reiner Fiktion herausgeholt. „In der Tat ist es das, was ich möchte: man ist sich nicht mehr ganz sicher, was für eine Gattung man vor sich hat. Natürlich ist es ein Roman, da ich in erster Linie das gemacht habe, was für das Buch wichtig war; dass eben dieses faktentreu sei, behaupte ich dabei nicht, auch wenn es die Vorgänge überwiegend sind. So entsteht eine Grauzone zwischen Fakten und Fiktion.“
Widersprüchlichkeiten verstehen lernen
Zentral ist für den Autor Robert Cohen bei der literarischen Umsetzung historischer Themen jede billige Besserwisserei des nachträglichen Blicks zu vermeiden. Geradeheraus wird im Roman der Zeitunterschied zwischen den Figuren und den Lesenden problematisiert, wenn sich die drei Hauptpersonen Olga Benario, Ruth Rewald und Maria Osten unabhängig voneinander die Frage stellen, ob man sich an sie erinnern wird oder wie künftige Generationen ihr Handeln bewerten werden. Es sei, so Cohen, für jeden halbwegs gebildeten Menschen sehr einfach, diese drei Frauen und ihre Freunde und Bekannten, Brecht, Lukács, Bloch, Seghers, alle linken Intellektuellen, die in dem Buch vorkommen, von einem heutigen Standpunkt aus zu kritisieren. Ihm aber ginge es darum, sie zu verstehen. „Sie haben alle Stalin und der UdSSR die Treue gehalten – aus Gründen, die ich zum Teil sehr gut verstehen kann. Wen gab es denn sonst, an den man sich als Gegengewicht zum Faschismus in ihrer Lage noch hätte halten können?“ Dass jene linken Intellektuellen in Exil der frechen Frauen den stalinistischen Terror „übersehen“, ihn einfach nicht wahrhaben wollen und können, wirkt durch einen verstehenden Blick angesichts der Realität umso erschütternder: Maria Greßhörner, eine überzeugte Antifaschistin und Kommunistin, die sich bei ihrer Emigration aus Deutschland in die Sowjetunion aus Identifikation mit der neuen Heimat den Namen Maria Osten gibt, die lange Zeit keine Kritik an Partei und Stalin gelten lassen möchte, sie selbst wird schließlich gefoltert und von „den Genossen“ an die Wand gestellt. Die Historizität des Schicksals Maria Ostens trägt in der Erzählung nur noch mehr zur Entfaltung der Tragik bei. Sie ist die einzige der drei Heldinnen, die letztendlich auf so grausame Weise Gewissheit über die Vorgänge in der Sowjetunion zur Zeit des Terrors erhält. Auch die vielen großen Namen, die im Roman Exil der frechen Frauen lebendig werden, reagieren im Verlauf der Erzählung zwar immer verunsicherter auf die für sie unverständlichen Vorgänge in Moskau, verwerfen ihre Zweifel aber immer wieder durch gebetsmühlenartige Ausflüchte in den Historischen Materialismus in der Leseart der KPdSU. Doch Cohen lässt sie dabei nicht als dumm oder ignorant erscheinen, sondern zeigt auf, wie Lukács, Brecht oder Seghers in ihrer Haut gefangen waren. „Ich möchte nicht gescheiter tun, als sie es gewesen sind. Ich möchte auch für mich selber nachvollziehen können, wie es vielleicht gewesen sein könnte. Es ist nicht meine Haltung: ‚Wie konnten die nur? Waren die denn blind?’, wie es die Haltung der bürgerlichen Historiker ist. Ich versuche wirklich zu verstehen.“
Bereits auf den ersten Seiten wird offengelegt, dass jede seiner drei Heldinnen ermordet wird: Maria Osten in den Spätausläufern des stalinistischen Terrors in den frühen Vierzigern, Ruth Rewald und Olga Benario, die durch ihr Exil dem Antisemitismus und Antikommunismus Nazideutschlands vorerst entrinnen konnten, fallen schließlich der Shoa zum Opfer. Cohen wollte jeglicher Spannung, ob am Ende der langen Erzählung nicht zumindest eine von ihnen überlebt, den Boden entziehen. „Wie auch immer ich zu diesen Frauen gekommen bin, so finde ich es im Sinne des Romans doch angemessen, dass alle drei umkommen. Denn mir steht vor Augen, dass in diesem Weltkrieg 50 oder 60 Millionen Menschen umgekommen sind. Und es wäre auf gewisse Weise eine arge Verharmlosung gewesen, wenn ich Figuren gewählt hätte, die überlebt haben.“
Starke Gefühle aus der Distanz
Cohen betont, dass sein Roman kein Rührstück, kein gefühliges Historiendrama ist. Hierfür sorgt eine leichte, aber unverkennbare Distanz zu der Innenwelt der drei Hauptfiguren und das Zurücktreten in den aufwühlendsten Situationen, etwa beim Tod Olga Benarios, wenn das Geschehen im Konzentrationslager Ravensbrück mittels kühler Faktizität komplett von außen geschildert wird. Und doch berühr
t der Roman gerade auch an dieser Stelle, an der die starke Heldin Olga Benario, die seit ihrer jugendlichen Rettungsaktion eines Genossen vor der Weimarer Justiz für die anderen beiden, Ruth Rewald und Maria Osten, zu einem Mythos, einem Motiv ihres Handelns und ihrer Wünsche geworden ist, wenn jene Olga Benario, die als Agentin Moskaus an der Seite Luís Carlos Prestes die Revolution in Brasilien vorantreiben sollte, wenn diese schon zu Lebzeiten historisch wichtige Frau als eine von Millionen Nummern im Grauen des Holocaust einfach verschwindet.
Doch hinter solch einer Zurückhaltung des Autors gegenüber den Gefühlen seiner Heldinnen steckt noch etwas anderes: „Ich wollte nicht so tun, als sei ich diese drei Frauen gewesen, mich nicht zu sehr mit ihnen identifizieren. Es ist eine gewisse Scheu als Mann, ich habe da eine feministische Haltung, die bei mir zu besonderer Vorsicht führt. Mit feministischer Haltung meine ich in diesem Zusammenhang, dass ich den Frauenfiguren eine gewisse Fremdheit lassen wollte.“ Distanz, Verunsicherung bei den Lesenden zwischen Fiktion und Fakten, Darstellung des Horrors der späten 30’er und frühen 40’er Jahre – bislang könnte der Eindruck entstehen, der Roman Exil der frechen Frauen sei ein zwar sehr reflektiertes, dafür aber auch sehr sperriges Buch. Daher ist es nun angebracht Cohens erzählerische Fähigkeiten zu betonen, den verspielten Umgang mit Leitmotiven wie etwa der Zugfahrt oder der Schiffsreise (beides eigenständige Elemente), die raffinierten Aneinanderreihungen der Erzählstränge, die Wechsel in der Perspektive, in der erzählten Zeit, die ebenso literarische wie genaue Beschreibung der Orte, ihre Ausdehnung über Meere und Kontinente oder ihr Zusammenfallen auf ein paar Quadratmeter Stadtwohnung.
Faszinierend sind die Einblicke in die Diskussionen um Kunst und Literatur, in die Gedankenwelt linker Kulturschaffender zu jener Zeit, in die Wahrnehmung der kapitalistischen Wirklichkeit und die Unterschiedlichkeit der Konsequenzen, die engagierte Künstlerinnen und Künstler aus ihr zogen, sowie in die eigene Geschichte schöpferisch tätiger Frauen, die sich gegen ihre männlichen Genossen behaupten mussten. Mit Ruth Rewald und Maria Osten sind zwei der drei Hauptpersonen selbst Schriftstellerinnen, Anna Seghers spielt eine wichtige Nebenrolle, im Laufe des Romans stehen auch die Fotografinnen Gerda Taro, Annemarie Schwarzenbach und Tina Modotti im Fokus; von letzterer stammt das Bild auf dem Einband des Buches. Durch den literarischen Charakter solcher Schilderungen wird den Lesenden ein erstaunlicher Zugang zu den komplexesten Themen geboten – ein Höhepunkt etwa das Gespräch zwischen dem Ethnologen Levi Strauss, dem Architekten Niemeyer und dem Schriftsteller Jorge Amado in Brasilien. Hier fallen flüssiger Erzählstil und verständliche Darstellung zusammen, Resultat sind sowohl Freude am Lesen als auch ein ungemeiner Erkenntnisgewinn. Natürlich schöpft Robert Cohen hier vorrangig aus seiner Professorentätigkeit an der NYU, er veröffentlichte wissenschaftliche Aufsätze etwa über Oscar Niemeyer, Anna Seghers oder Bertolt Brecht. Zu letzterem hat Cohen jedoch auch eine biographische Beziehung: „Seit mein Vater ihn 1947 in Zürich kennengelernt hatte und ein Jahr zu dessen Freundeskreis in der Schweiz zählte, war Brecht eine Art Familienheiliger. Mein Vater hat mir und meinem Bruder auch immer Gedichte von Tucholsky oder Brecht zum Einschlafen vorgelesen – ich hatte also einen wirklich tollen Start in die Literatur.“
Die unendliche Geschichte der Utopien
Dass Robert Cohen heute in den USA über die Geschichte linker Literatur und Theorie in Europa und speziell Deutschland lehrt und forscht kann schon verwundern. Schließlich dominieren hierzulande Stanzel, Genette, Kristeva, Foucault, Barthes und Iser die Seminare; wer Lukács oder Benjamin waren, welche Auffassung von Literatur und Theater Brecht oder Sartre vertreten haben, können heutzutage nach einem Literaturstudium an deutschen Universitäten nur die wenigsten wirklich beantworten. „Auch ich benutzte Stanzel und insbesondere Genette als Werkzeuge, aber nicht als Bibel. Es geht darum, möglichst textnah zu arbeiten und dazu ermutige ich auch die Studierenden.“ Dies sei, so Cohen, gerade für einen ideologiekritischen Anspruch unbedingt notwendig, um das Vage in einer Ideologiedebatte zu vermeiden. Genauso wichtig sei es aber, dem Vagen poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Ansätze gewahr zu werden und sich von ihnen zu emanzipieren: „Der Poststrukturalismus, dessen Denkweise dieses Geschwafel vom ‚Ende der Geschichte’ beförderte, ist ja eigentlich schon historisch.“ Neuen sozialen Bewegungen vermag das Ende der drei Heldinnen seines Romans wohl kaum Mut zu machen. Er habe, entgegnet Robert Cohen, auch keine billige Hoffnung aufkommen lassen wollen, für die es keine Grundlage gebe. Doch gelte für ihn das Motto von Brechts Dreigroschenprozess: Die Widersprüche sind die Hoffnung. Schließlich ließe sich eine auf der Dialektik der Dinge und der Geschichte fußende Hoffnung auch in Exil der frechen Frauen finden: „Die letzten zwei Seiten sind eine Montage von Zitaten, darunter auch Marx: […] dass die Menschheit jene große Sache einst verwirklichen werde, von der sie längst den Traum besaß – und das ist doch ein wunderbares Bild einer konkreten Utopie.“
Zum Autor: Robert Cohen, geboren 1941 in Zürich, lebt seit 1980 in den USA und lehrt deutsche Literatur an der New York University. Vor seiner Hinwendung zur Germanistik studierte er an der Filmhochschule in Paris und drehte zahlreiche Dokumentar-, Industrie- und Werbefilme. Ein Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen liegt auf Leben und Werk des Schriftstellers und Künstlers Peter Weiss.