Klima-Camp

CoverAls vor einigen Jahren der Wirbelsturm der Finanzkrise begann, reisten Isabelle Fremeaux und John Jordan sieben Monate lang durch Europa. Sie besuchten elf Kollektive und Projekte in England, Frankreich, Spanien, Serbien, Dänemark und Deutschland.

Aus dieser reichen Erfahrung ist „Pfade durch Utopia“ als lebendiger Bericht entstanden, der vom Leben dieser Gemeinschaften erzählt, von ihrem Alltag und ihrer Geschichte. Die AutorInnen zeigen aber keine Idyllen, sondern politische und soziale Laboratorien, in denen bewusste Menschen Erfahrungen sammeln, die für eine freie Gesellschaft nützlich sind. Der Bericht erinnert nicht von ungefähr an Gustav Landauers Vorstellung, dass die Anarchie gelebt werden müsse, dass der Bruch und die Absonderung eine Notwendigkeit sind, damit die Idee einer Gesellschaft ohne Autorität anziehend für die Vorstellungswelt der Vielen ist. Der dem Buch beiliegende Film, der während der Reise gedreht wurde, ist ein poetisches Road-Movie aus der Zukunft.

Wir drucken einen Auszug aus dem Eingangskapitel über ein Klima-Camp ab, das zur Verhinderung einer geplanten dritten Startbahn des Londoner Flughafens Heathrow errichtet wurde. Der Auszug zeigt anschaulich wie eine Organisation von unten funktioniert, und auch, welche Verbindung zwischen Klimachaos und Klassenfrage besteht.

Das Klima-Camp ist auf eine Struktur von Vierteln oder Nachbarschaften aufgebaut. Eine Nachbarschaft ist um eine Küche herum organisiert, die jeweils von Leuten aus einer bestimmten Stadt oder Region geplant und aufgebaut wurde. So gibt es die Westside (mit Leuten aus Devon, dem Cornwall und dem Westen des Landes) und die Eastside (Norfolk und East Anglia), Schottland, London, Oxford und Manchester – insgesamt elf Viertel sind es. Die Leute stellen ihr Zelt in dem Viertel auf, das ihrer Region entspricht, und nehmen dort jeden Morgen an den Zusammenkünften teil, bei denen die Organisation des Camps besprochen wird. Dabei geht es um das Organisatorische, das die Nachbarschaft betrifft, und das Politische in Bezug auf das ganze Camp. Rotierende „Sprecher“ – nicht Repräsentanten, sondern eine Art Boten – werden in den „Sprecherrat“ des Gesamtcamps delegiert und berichten wiederum dem Viertel, was dort verhandelt wurde. Manchmal ist dieses Hin und Her zeitaufwändig, aber es stellt sicher, dass das Camp horizontal organisiert ist, und garantiert eine gewisse Autonomie der Viertel.

Von unten betrachtet, am Boden, ähnelt das Klima-Camp einer Mischung aus mittelalterlichem Dorf und Subkulturfestival, Flüchtlingslager und futuristischer Rebellenenklave. Aus der Perspektive des Polizeihubschraubers – der merkwürdigerweise immer dann über uns kreist, wenn ein wichtiges Entscheidungstreffen stattfindet, was beim Diskutieren extrem auf die Nerven geht – muss das Camp einem Ameisenhaufen ähneln, mit Hunderten kleiner Wesen, die auf den breiten Schneisen herumwimmeln – die sind inzwischen mit Holzplanken belegt worden, um sie rollstuhlgerecht zu machen –, die zusammentreffen, sich unterhalten, von einem Zelt zum anderen gehen, telefonieren, sich manchmal in Gruppen zusammenfinden und dann wieder auseinanderstreben.

Tatsächlich ähnelt die Art, wie das Camp sich selber reguliert, dem Wunder des Ameisenhaufens, den Wissenschaftler als eines der erstrangigen Beispiele für die Fähigkeit der Natur hochhalten, das Funktionieren eineskomplexen „gesellschaftlichen“ Zusammenhangs ohne Befehlsketten von oben nach unten zu ermöglichen. Das Phänomen ist als Schwarmintelligenz bekannt, wobei die Summe der Teile mehr als das Ganze ergibt. Anzutreffen ist es bei Bienen, Vogelschwärmen und bei gewissen Schimmelpilzen. Für uns, die wir eine Sicht der Welt haben, in der nichts ohne einen Chef oder eine zentrale Kontrollinstanz zu gehen scheint, gehört dieses Phänomen ins Reich der Magie.

Obwohl ich selber einer der Mit-Organisatoren des Camps bin, fühlt sich auch für mich die Art, wie es sich verwaltet, wie Zauberei an, wie ein Wunderwerk, das die Grenzen des Möglichen verschiebt. Ein Dorf, das illegal entsteht und sich selber mit Tausenden Menschen verwaltet, von denen sich viele noch nie gesehen haben. Wie die staatlichen Behörden es aus der Ferne wahrnehmen mögen, weiß ich nicht. Aber ich kann mir vorstellen, es muss für Leute, die davon ausgehen, dass Ordnung und Effizienz nur durch das Wirken einer Hierarchie möglich sind, ein ziemlich irritierender Anblick sein.

Die Suche nach Utopia ist mit hochfliegen den Gesellschaftsvisionen, aber auch mit der furchtbarsten Barbarei verbunden. Manche würden das Wort lieber auf einer der sprachlichen Müllhalden der Geschichte entsorgt sehen, wo hoffnungslos belastete Begriffe hingehören, die durch die Verbrechen – Gulags und Genozide –, die in ihrem Namen begangen wurden, für alle Zeiten unbrauchbar geworden sind. Doch der utopische Geist, die außerordentliche menschliche Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, was die bestehende Realität qualitativ und in radikaler Form übersteigt, ist nicht verantwortlich für jene Schrecken. Das Streben nach Perfektion, Totalität und Uniformität hat die Utopie zunichte gemacht. Und letztendlich waren es die Träume Weniger von Kontrolle und Herrschaft über die Wünsche der Vielen, die die Visionen von einem glücklichen, schönen Ort („eu-topia“) in die Albträume der Geschichte verkehrt haben.

Für Isa und mich hat die Utopie nichts mit dem Streben nach Perfektion in einer unerreichbaren Zukunft zu tun. Die Vorstellung, dass am fernen Horizont die perfekte Gesellschaft aufscheint und wir die Gegenwart für die glorreiche Zukunft hingeben sollen, war das Versprechen, das gerade von der Utopie wegführte. Für uns ist Utopie eine Praxis im Hier und Jetzt, ein Weg, trotz kapitalistischer Konsum-Utopie eine radikal andere Gegenwart zu leben und aufzubauen. Die falsche Utopie des Kapitalismus hat ihre schwankende Grundlage in den Schimären immer neuer unerfüllter Glücksversprechen und nährt sich von der Illusion ewigen materiellen Fortschritts. Die Konsum-Utopie war vielleicht die letzte und zugleich totalitärste Utopie des zwanzigsten Jahrhunderts, der ultimative Traum vom Nirwana, die perfekte ideologische Abstraktion. Eine Phantasie ohne Berücksichtigung der grundlegenden thermodynamischen Gegebenheit, dass wir auf einem endlichen Planeten leben. Konsum-Utopia leugnet jegliche Grundlage, es ist eine Utopie, die ihren topos vergessen hat.

Wie die schlimmsten Utopien lässt auch Konsum-Utopia keine Alternative zu und lässt diejenigen verhungern oder wirft sie ins Gefängnis, die ihren Regeln nicht gewachsen sind oder sich ihnen nicht unterwerfen. Sie gaukelt uns die Möglichkeit von Perfektion vor und lässt uns, unersättlich, immer noch mehr wollen, dabei hält sie uns in einem Zustand immerwährender Unzufriedenheit gefangen. Es ist eine Utopie, die sich in Zahlen ausdrückt, ein abstrakter Albtraum, der Menschen und Orte verschlingt und sie als Wirtschaftsstatistiken wieder ausspuckt.

Unsere Reise wird die Erkundung von Orten sein, an denen Menschen das Wagnis eingegangen sind, eine andere Art Utopie mitten im Kapitalismus und ihm zum Trotz tatsächlich umzusetzen und zu leben. Diese Utopien streben nicht nach Perfektion. Sie lassen sich einfach nicht durch eine Gesellschaft lähmen, die uns vermittelt, dass der Sprung vom Möglichen zum (noch) Undenkbaren ein unrealistisches Unterfangen und deshalb nicht einmal einen Versuch wert ist. Für Isa und mich bedeutet utopische Praxis, dass wir uns das Recht nehmen, uns eine Welt vorzustellen und sie zu verwirklichen, die weit besser als diese hier ist, und dabei nicht nur hinzunehmen, sondern es positiv zu sehen, dass sie nie vollkommen sein wird. Tatsächlich sind die besten Utopien die unerreichbaren, denn sie sind von der Freiheit beseelt, in allen Bereichen des täglichen Lebens das Experiment mit offenem Ausgang zuzulassen. Die Orte, die wir besuchen wollen, sind keine postrevolutionären Refugien, statisch und in insularer Abgeschiedenheit – im Gegenteil: Es sind Orte, die dazu beitragen, Utopie als Praxis neu zu definieren, bereits jetzt die beste mögliche Welt aufzubauen und nicht von einer in der Zukunft möglichen Perfektion zu träumen. Wir könnten sie vielleicht als unvollkommene Paradiese bezeichnen oder mit Chris Carlson als Nowtopias.

Isabelle Fremeaux / John Jordan: Pfade durch Utopia. Buch / Film, aus dem Französischen von Sophia Deeg, Edition Nautilus, ISBN 978-3-89401-763-7; 320 Seiten / 109 min, Preis: 25 Euro

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