Was ist eigentlich in der „Dritten Welt“ los und welche Auskünfte darüber kann die Literatur geben? Hier drei – bei aller Kritik lesenswerte – Beispiele aus den letzten Jahren.
Menschentier von Indra Sinha spielt vor dem Hintergrund des „Unfalls“ in einer Chemie-Fabrik in der Stadt Bhopal im Jahr 1984. Mehrere tausend Menschen starben, eine halbe Million wurde verletzt, viele davon leiden bis heute an den Folgen. Der Konzern, die Union Carbide Corporation (USA), tut alles, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Hauptperson des Romans ist ein junger Mann, der damals noch ein Kleinkind war und dem das Gift das Rückgrat zerstört hat, weshalb er nur auf Händen und Füßen laufen kann. Sowieso schon Unterschicht, ist er dadurch noch Außenseiter – sich selbst nennt er „Animal“. Der schlägt sich also durchs Leben, bis er einen Kreis von Leuten aus der oberen Mittelschicht kennenlernt, die eine Kampagne führen, um den Konzern zu zwingen, sich zu seiner Verantwortung zu bekennen und etwas für die Beseitigung oder Linderung der Folgen der Katastrophe zu tun. Dann erscheint noch eine amerikanische Ärztin, die eine kleine Klinik zur Behandlung der Opfer aufbaut, aus Idealismus, wie sie vorgibt – oder ist das ein Trick der Company? Erzählt wird dies von Animal, und zwar auf einem Kassettenrecorder, den ihm ein amerikanischer Journalist gegeben hat, auf der Suche nach einer heftigen Story. Diese Erzählsituation ermöglicht zweierlei: eine Innenansicht auf die Lebensbedingungen von Leuten, die in der indischen Gesellschaft ganz unten sind, zum anderen stellt sie Animals Sprache in den Vordergrund. Diese ist sein vielleicht wichtigstes Instrument zur Selbstbehauptung, nicht nur seinem Umfeld gegenüber, sondern auch gegenüber den zu erwartenden LeserInnen. Denn das ist ein Grundproblem: Wie liest jemand in der „1. Welt“ Elendsberichte über die „Dritte“? Mit folgenloser Empörung oder doch lieber mit wohligem Gruseln? Zu den großen Stärken des Romans gehört, dass eben diese Aspekte thematisiert werden. Zu den Schwächen: Wieso müssen die AktivistInnen ausgerechnet aus der Mittelschicht sein? Schlimm ist der Schluss: Bollywood pur. Oder ist das ein Trick des Autors?
Das zweite Buch ist kompliziert, nämlich ein Musterbeispiel postmoderner Romankunst: Roberto Bolaños 2666. Dieser Roman hat kein Zentrum (wie es z.B. ein Erzähler wäre), die Handlung ist nicht linear und hat auch kein Ende. Die Lektüre so eines Romans ist quasi endlos, da er eine unüberschaubare Fülle an Bezügen und Querverweisen bietet, denen kaum sämtlich nachzugehen ist. Dieser Roman beleuchtet nur einen verdichteten Bereich in einem endlosen Geflecht – aber interessant. Dem Autor gelingt es, die Herrschafts- und Lebensverhältnisse an Rändern des Kapitalismus zu zeigen, hier: Nord-Mexiko. Geprägt sind diese von Gewalt, und die Gewalt wird dargestellt an einer Vielzahl von an Frauen begangenen Morden, Entführungen, Vergewaltigungen usw. Das Buch besteht aus fünf miteinander verschränkten Teilen und alle haben mit diesen Gewalttaten in Mexiko zu tun. Der zweite Konstruktionspunkt des Romans ist ein mysteriöser deutscher Schriftsteller, um diesen gruppiert werden weitere Hauptpersonen. Es geht unter anderem um den Zweiten Weltkrieg, die Black Panther, einen sowjetischen Schriftsteller der 20/30er Jahre, das Vorkriegs-Preußen, den Literaturbetrieb und eben um das Leben in Mexiko. Merkwürdig ist, dass trotz thematischer Vielfalt, unübersichtlicher Konstruktion und artistischer Erzählweisen ein ausgesprochen realistisches Bild der genannten Lebensverhältnisse entsteht. Problematisch aber (ebenfalls unter anderem): die Gewaltdarstellungen. Diese sind schwer erträglich, obwohl nüchtern-protokollarisch gehalten. Bei so etwas ist die Grenze zum Bedienen dubioser Schaulüste schnell überschritten. Zum anderen, aber das ist eine generelle Kritik am postmodernen Denken: Dem Postulat vom „Verschwinden des Subjekts“ entsprechend gibt es in diesem Roman eigentlich keine Handelnden – die Leute sind in ihrem Leben festgenagelt, oder wie Treibgut, sogar da, wo sie Mut und Entschlossenheit zeigen. Wem hilft eigentlich Fatalismus?
Herr der Krähen spielt in einem fiktiven Staat Aburiria. Der dortige Diktator plant, um sich selbst zu vergotten (aber natürlich auch, um eine schöne Gelegenheit zum Geldabgreifen zu schaffen), eine Art Turmbau zu Babel. Das funktioniert so aber nicht, es gibt immer neue groteske, teils phantastische Verwicklungen und Hindernisse. Sich verselbständigende Warteschlangen stürzen das Land ins Chaos, so etwas. Es handelt sich um eine großangelegte und oftmals auch wirklich lustige Satire. Gerade die Fiktionalisierung des Landes erlaubt es dem Autor, seine gesamte Kritik an den Staaten und Gesellschaften des Afrikas südlich der Sahara hier zusammenzufassen und so zu überhöhen, dass alles in seinem Kern deutlich wird: staatliche Gewalt und Willkür, Korruption, Frauenfeindlichkeit, religiöser Irrsinn, Rassismus usw., immer präsent ist auch der (Neo-)Kolonialismus. Zugleich ermöglicht dieses Verfahren dem Verfasser, die ihm vorschwebende Form von Opposition zur Diskussion zu stellen. Dargestellt wird eine Untergrundbewegung, die hier vor allem durch eine Aktivistin repräsentiert wird. Die andere Hauptfigur ist ein Typ, der wider Willen zum (ziemlich subversiven) Zauberer wird, wobei die Zauberei vor allem auf Vernunft, Einfühlungsvermögen und den abstrusen Vorstellungen anderer beruht. Der Autor diskutiert hier auch schwierige Fragen um schwarze Identität, „Spiritualität“, geistigen Kolonialismus usw. Negativ fällt auf, dass die dargestellte Untergrundbewegung den Ungeist des Zentralismus noch nicht ganz überwunden zu haben scheint.
Indra Sinha: Menschentier. Büchergilde Gutenberg (oder im Buchhandel: Edition Büchergilde), 2011. 508 S.
Roberto Bolaño: 2666. Hanser, 2009. 1093 S.
Ngugi wa Thiong‘o: Herr der Krähen. A1 Verlag (oder Büchergilde Gutenberg), 2012. 944 S.
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
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