Es dürfte wohl kaum eine Region in Europa geben, wo verklärende Mythen über Räuber und Banditenwesen derart unpopulär sind wie in Sizilien. Dafür ist der Schrecken, den die organisierte Gewalt verbreitet, zu real, und die Erinnerung an Gräueltaten, die auf die Arbeiterbewegung verübt wurden, zu lebendig. Denn nicht nur Richter, Staatsanwälte und Politiker stehen auf den Todeslisten der cosa nostra, sondern in noch größerem Maße Gewerkschaftsfunktionäre und AktivistInnen der Arbeiterbewegung. Wenn außerhalb Siziliens dessen Gewerkschaften als Teil der Anti-Mafia-Bewegung bezeichnet werden, so ist das zwar nicht falsch, gibt den tatsächlichen Zusammenhang jedoch verzerrt wieder. Zutreffender wäre es da schon, die sizilianische Mafia als Anti-Streik-Organisation zu bezeichnen, ist ihr Aufkommen doch unaufknüpfbar verbunden mit der Zerschlagung der Landarbeiterbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts sowie nach beiden Weltkriegen.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfuhr Sizilien nur eine schwache Industrialisierung und Modernisierung. Es blieb vornehmlich agrarisch geprägt. Dabei bildete sich ein eigenes System doppelter Ausbeutung heraus, in dessen Folge der überwältigende Teil der Bevölkerung in bitterster Armut verblieb.
Der landbesitzende Adel, dessen Angehörige es in der Regel vorzogen, außerhalb Siziliens der Zerstreuung nachzugehen, verpachtete seine Ländereien an Gutsverwalter, die sogenannten gabelloti. Diese wiederum teilten das Land in kleine Parzellen auf, die sie an landlose Bauern weiter verpachteten, und das zu Bedingungen, die kaum das Überleben zuließen. Hinzu kam, dass die gabelloti faktisch Polizeigewalt ausübten und Kleinbauern sowie WanderarbeiterInnen stets ihrer Willkür ausgesetzt waren.
Die Einigung Italiens verschärfte die ökonomische und soziale Situation auf Sizilien ab 1861, als Programme zur Forcierung der Industrialisierung den Norden Italiens förderten, während die Agrarproduktion stärker besteuert wurde. Für Sizilien hatte das enorme soziale Verwerfungen zur Folge, gaben die Großgrundbesitzer doch die erhöhte Steuerlast direkt an die Pächter weiter.
Während der 1860er Jahre herrschte auf Sizilien eine fragile politische Situation. Der einst allmächtige Landadel, dem an einer Veränderung der Besitzverhältnisse kaum gelegen sein konnte, vereitelte erfolgreich jedwede Reformbemühungen. Unter anderem wurden die gabelloti hierfür aufgestockt und mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet, um Proteste der Landbevölkerung im Keim zu ersticken.
Dem jungen italienischen Staat gelang es in dieser Zeit nur unzureichend, auf Sizilien Fuß zu fassen und funktionstüchtige Strukturen aufzubauen. Die Einigung Italiens war vornehmlich eine Initiative des norditalienischen Bürgertums und fand unter den sizilianischen Eliten nur geringe Unterstützung. Immer wieder kam es zu Unruhen und bewaffneten Aufständen, wie etwa 1866 in Palermo, mit tausenden Toten. Zwar konnte das italienische Militär in den Städten allmählich die Oberhoheit gewinnen; doch aus aufständischen Gruppen bildeten sich dem zum Trotz marodierende Brigantentrupps, die teilweise ganze Landstriche kontrollierten und ihre politischen Anliegen – wenn sie denn überhaupt welche verfolgten, waren diese zumeist nationalistisch bzw. seperatistisch motiviert – durch Raubüberfälle und Schutzgelderpressungen finanzierten. In zunehmendem Maße vermischte sich die Szene der Briganten, die von den Gutsverwaltern gern als Schlägerbanden angeheuert wurden, mit den gabelloti.
Im Verlauf der folgenden zwei Jahrzehnte bildete sich unter der nahezu rechtlosen Landbevölkerung Siziliens eine eigenständige soziale Bewegung heraus. Handelte es sich anfangs noch zumeist um unkoordinierte lokale Proteste und Aufstände gegen unhaltbare Lebens- und Arbeitsbedingen, begann sich diese Bewegung zusehends zu organisieren. Inspiriert von sozialistischen und anarchistischen Ideen formierte sie sich ab den 1880er Jahren als Bewegung der LandarbeiterInnen. Es kam zu Verweigerungen, die als unverhältnismäßig hoch empfundene Pacht zu zahlen, zu echten und symbolischen Landbesetzungen sowie zu zahllosen Demonstrationen und Streiks. Verschärft wurde die Situation durch die Agrarkrise von 1888 bis 1892, die durch einen rapiden Verfall des Weizenpreises ausgelöst worden war. Bald solidarisierten sich auch ArbeiterInnen und Intellektuelle in den Städten mit der Bewegung, und 1891 kam es schließlich zur Gründung der Fasci siciliani dei lavoratori (Sizilianischer Arbeiterbund; lokale Vorläufer waren ab 1889 entstanden). Diese föderalistisch und zumindest in Teilen revolutionär ausgerichtete Organisation forderte zum einen eine Landreform, die den Adel enteignen und die gabelloti entmachten sollte, und baute zum anderen ein eigenes System von Kooperativen auf. Dabei handelte es sich vor allem um Einkaufskooperativen, die eine ausreichende und gerechtere Versorgung mit dem Lebensnotwendigen gewährleisten sollten, zunehmend aber auch um Produktionsgenossenschaften.
Die Bewegung der Fasci siciliani (nicht mit der faschistischen Bewegung Italiens zu verwechseln, fascio bedeutet schlicht Bündel, bzw. Bund) erlebte zunächst einen enormen Aufschwung. In einer
Phase des schwachen Staates organisierten sie mehr und mehr Bereiche des ökonomischen wie gesellschaftlichen Lebens, verfügten über eigene Versammlungshäuser, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen. Besonderen Stellenwert nahm dabei der Kampf gegen den Analphabetismus ein (über 75% der SizilianerInnen konnten weder lesen noch schreiben). Die Landarbeiterbewegung, die unter der Roten Fahne ohne irgendwelche Symbole auftrat, brachte eine enorme Verve mit. Es entstanden eigene Lieder, Legenden wurden über AktivistInnen gesponnen. Die Fasci siciliani waren auch eine Kulturbewegung geworden, der sich bemerkenswert viele Frauen anschlossen, der traditionell besonders patriarchalisch geprägten sizilianischen Gesellschaft zum Trotz. Auf ihrem vorläufigen Höhepunkt 1893 zählte die Bewegung etwa 300.000 Mitglieder.
Die Reaktion des Adels ließ nicht auf sich warten. In vollkommener Überschätzung der eigenen Machtposition setzten die Großgrundbesitzer (es waren ausnahmslos Männer, was im Übrigen auch auf die Gutsverwalter zutraf) ausschließlich auf Repression durch die gabelloti, und gaben diesen freie Hand bei der Niederschlagung der Bewegung. Und diese zeigten sich wenig zimperlich. Sie beließen es keineswegs bei Knüppeln und Schlägereien. Immer häufiger wurde scharf geschossen. Es gab Tote bei Demonstrationen, Versammlungshäuser wurden niedergebrannt, schließlich gezielt AktivistInnen ermordet. Einschüchterung, Bedrohung und Erpressung wurden zu Stilmitteln in einer politischen Auseinandersetzung. Traurige Berühmtheit erlangte das Massaker von Caltavuturo, in das auch reguläre Polizisten und Soldaten involviert waren. Als am 20. Januar 1893 eine Gruppe von 500 LandarbeiterInnen eine symbolische Landbesetzung beendete, wurde ohne Vorwarnung das Feuer auf sie eröffnet; mindestens 13 Tote und 21 Verletzte wurden beklagt.
Im gleichen Maße, wie es den gabelloti gelang, die Landarbeiterbewegung zurückzudrängen, wuchs ihre eigene Macht. Sie emanzipierten sich zusehends von ihren adligen Herren und operierten nach Gutdünken. In einigen Gebieten Westsiziliens führte dieser Prozess soweit, dass sich Gutsverwalter die Ländereien aneigneten und nun selbst als unumschränkte Herren agierten. Und sie begannen sich ihrerseits zu organisieren, legten sich einen eigenen Kodex zu, der auf einer strikten, rein männerbündischen Hierarchie basierte und Gehorsam, Ergebenheit und vor allem Verschwiegenheit forderte. Die Mafia war geboren.
Die genauen Ursprünge der sizilianischen Mafia liegen im Dunkeln. Wahrscheinlich speiste sie sich aus unterschiedlichen Wurzeln, Brigantentum und gabelloti vermengten sich mit älteren kriminellen Strukturen. In der Forschung gilt jedoch als sicher, dass sie in der heutigen Form erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstand. Andere Angaben, wonach sie auf das Mittelalter zurückginge und es sich anfänglich um ein Sozialbanditentum in Robin-Hood-Manier gehandelt habe, gehen auf Legendenbildungen zurück, die von der Mafia selbst gezielt gestreut wurden. Eine Eigenbezeichnung besitzt die Mafia in Sizilien nicht; ihre Mitglieder bezeichnen sich lediglich als „Männer der Ehre“, ihre Struktur ist die der „Familie“, die fest abgesteckte Reviere kontrolliert. Dabei handelt es sich keineswegs um reale Verwandtschaftsverhältnisse, sondern um die lokale Mafia-Sektion vor Ort, die ihre Mitglieder nach eigenem Ermessen aus der näheren Umgebung rekrutiert. Frauen können ihr nicht angehören, spielen aber insofern eine gewisse Rolle, als sie die Ehrvorstellungen an die Kinder weitergeben sollen.
Die Auseinandersetzungen zwischen den Fasci siciliani und den „Ehrenmännern“ zogen sich mit wechselnden Erfolgen über die nächsten fünf Jahrzehnte hin. Zwar gelang es der Mafia nicht, die Bewegung zu vernichten, wohl aber, sie zu schwächen, und vor allem, die überfälligen Landreformen zu verhindern. Zunehmend gewann sie an Einfluss auf die Politik. Besonders im Westteil der Insel waren immer mehr Bürgermeister und Abgeordnete Politiker von Mafias Gnaden.
Die Landarbeiterbewegung verfolgte hingegen einen grundsätzlich friedlichen Weg, und setzte weiter auf Streiks, Besetzungen und Selbstverwaltung, aber auch mehr und mehr auf legalistische Ansätze. Prominente Führer der Bewegung kandidierten bei Wahlen, nachdem 1913 das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt worden war. In Corleone wurde 1914 schließlich Bernardino Verro, populärer Bauernführer und Gründungsmitglied der Fasci siciliani, zum ersten sozialistischen Bürgermeister auf Sizilien gewählt. Wie vor ihm schon erfolgreiche „Organizer“ wie Luciano Nicoletti 1905 oder Lorenzo Panepinto 1911, wurde er schließlich Opfer der Mafia. Am helllichten Tag wurde er am 3. November 1915 auf offener Straße regelrecht hingerichtet. Bis zum heutigen Tag wurde mehr als die Hälfte aller Gewerkschaftsvorsitzenden Corleones ermordet.
Eine letzte Blüte erlebte die Landarbeiterbewegung unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als die sizilianische Mafia am Boden lag. Doch unter der US-amerikanischen Besatzung, die einen kommunistischen Umsturz befürchtete, wurden lokale Mafia-Chefs als lokale Politiker eingesetzt, die ihre Strukturen bis Mitte der 1950er reorganisierten. Entmutigt wanderten mehr als 1 Million Sizilianer aus, die Fasci siciliani, auf deren Erbe sich heute die wesentlichen Arbeiterorganisationen Siziliens berufen, waren Geschichte geworden.
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